Im ersten Teil dieser Serie ging es um den freien Willen und um die Frage, ob ein Netzwerk besser wissen kann als jeder einzelne Mensch, was der Wille dieses Einzelnen ist, was er sein kann oder sein sollte. Der Wille des Einzelnen ist immer schon vernetzt mit den Anderen, denn ich finde meine Ziele, indem ich andere beobachte und dabei herausfinde, was für mich selbst ein großes Ziel wäre, das ich erreichen will. Zudem ist das große Ziel eben immer in der Gemeinschaft groß, meine Willenskraft verschafft mir Anerkennung und bindet mich in eine Gemeinschaft ein.
Andererseits droht aus dieser Vernetzung des Willens auch Gefahr: durch das Netzwerk akzeptiere ich, was vernünftig ist, also auch, was ich mir vernünftigerweise zum Ziel setzen kann. Wenn ich etwas will, was ich nach Meinung der vernetzten Gemeinschaft gar nicht erreichen kann, dann werde ich mit diesem Willen auch nicht akzeptiert. Manche sagen, dass ich das gar nicht wirklich will, andere verurteilen mich vielleicht als leichtsinnig oder rücksichtslos. Das Netzwerk schreibt mir meinen Willen vor.
Diese Gefahr wächst mit den Möglichkeiten der Online-Vernetzung mit Big Data und Faktenanalyse per Algorithmus. Wenn ich glaube, dass die Cloud-Algorithmen mich besser kennen, als ich mich selbst kenne, dann könnten die mir vorschreiben, was mein „eigentlicher Wille“ ist.
Wie ist das möglich? Wird das Netz zum Teil meines Geistes, der meinen Willen kennt und die richtigen, zu mir passenden Ziele setzt? Ist das Internet mein „erweiterter Geist“?
Das Denken verlässt das Gehirn
Die Idee des erweiterten Geistes setzt bei der Tatsache an, dass ich zum Denken und Entscheiden oft Hilfsmittel aus meiner Umgebung benötige. Ich mache mir Notizen, führe Telefonbücher, schreibe Einkaufszettel usw. Das alles entlastet mein Gehirn und hilft mir beim Denken. Man könnte sagen, dass diese ganzen externen Hilfsmittel Teil meines Denkens sind, weil sie sozusagen ins Denken einbezogen sind. So, wie eine Liedtextzeile, die ich auswendig gelernt habe, zum Denken gehört, so gehört dazu auch die Zeile, die ich irgendwo nachschlage und ablese.
Dass das Internet zum Teil eines so verstandenen erweiterten Geistes wird, erleben wir heute tagtäglich in alltäglichen Verrichtungen. Das Smartphone ist das Kopplungsglied zwischen dem biologischen Geist im Gehirn und dem erweiterten Geist, der aus Kalender, Notizfunktion und E-Mail-Postfach, Suchmaschinen und Online-Enzyklopädien besteht. Wir rufen bei Bedarf eine Unmenge von Informationen aus dem Netz in einer Präzision und Zuverlässigkeit ab, die das Gehirn nicht liefern könnte, weil wir sie entweder nie gelernt haben oder weil sie längst im Ungewissen der Erinnerung versunken sind.
Prinzipiell ist das nichts Neues. Gut geführte Telefonbücher, die strukturierte Postablage, ein Kalender aus Papier, Lexika und Bücherregale leisteten in den Zeiten vor dem Internet das gleiche. Auch hier zeigt sich wieder, dass die vernetzte Vernunft nicht mit dem Internet entstanden ist, sondern dass sie sich dieses Netzwerk nur als konsequente Weiterentwicklung der Prinzipien, die die moderne Gesellschaft prägen, geschaffen hat. Die Anfänge der vernetzten Vernunft liegen bei den großen Enzyklopädien der Neuzeit, die das Wissen nicht zu einer bestimmten Verwendung sammelten, sondern strukturiert aufbereiten wollten. Sie beginnt bei den regelmäßigen Post- und Telegrafennetzen, die nicht mehr bei Bedarf Nachrichten transportierten sondern die einzelne Nachricht in einen Übermittlungstakt einsortierten. Sie hat ihre Wurzeln bei Bibliotheken, die nach vorgegebenen Regeln alles sammelten, was erschien, und nicht den Vorlieben eines einzelnen Denkers folgten. All diese Netzwerke gehorchen einer gewissen Bürokratie, einer technologischen Vorschrift der Vernetzung, sie bereiten das vor, was wir heute die vernetzte Vernunft nennen können. Ganz selbstverständlich gehören in diese vernetzte Vernunft dann auch die standardisierten Terminkalender, Telefonbücher, Karteikästen und Notizblöcke.
Erweiterter Geist und vernetzte Vernunft
Der erweiterte Geist ist also viel mehr als das, was ich mir selbst in meiner Umwelt ablege, um mein Gedächtnis zu entlasten. Die vernetzte Vernunft ist von Beginn an so etwas wie ein gemeinsamer Geist der vernetzten Menschen, die eben zumeist gar nicht auf eigene Erinnerungen, Notizen, Informationen zugreifen. Stattdessen nutzen wir Informationsstrukturen, die andere nach bestimmten Regeln geschaffen und so abgelegt haben, dass jeder sie finden kann. Es macht keinen Unterschied, ob es mein eigenes Telefonbuch ist, das zum Teil meines erweiterten Geistes wird, oder das eines Freundes, ob es das gelbe Buch im Schrank ist, welches die Telekom mir immer noch Jahr für Jahr ins Haus liefert. Es ist auch egal, ob es das „Globale Adressbuch“ des Unternehmens ist, in dem ich arbeite, ob es die Telefonauskunft oder eine Webseite zur Personensuche ist. Sie alle gehören zu meinem erweiterten Geist, und indem ich ebenfalls meine Daten in diese Systeme einspeise, gehört meine Erinnerung, mein ausgelagertes Gedächtnis, ebenfalls zum erweiterten Geist der anderen, wird zum Teil der vernetzten Vernunft.
Allerdings reicht es nicht, ein Smartphone benutzen zu können, um die vernetzte Vernunft in den Dienst des eigenen Geistes stellen zu können. Ich muss eine Menge zuvor gelernt haben, damit das vernetzte Gedächtnis, oder das Gedächtnis des Netzes, tatsächlich zum Teil meines erweiterten Geistes werden kann. Zum ersten muss ich die Kulturtechnik des Suchens beherrschen, und das ist mehr als die Fähigkeit, in ein Suchmaschinenfenster Begriffe eingeben zu können. Zu dieser Kulturtechnik gehört, die passenden Begriffe in der richtigen Zusammenstellung zu kennen. Zudem muss ich in der Lage sein, aus Suchergebnissen Ideen für weitere Suchen abzuleiten. Schließlich muss ich die Ergebnisse hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit und Relevanz beurteilen können. Das sind Fähigkeiten die jeder von uns durch die Praxis mehr oder weniger gut erlernt. In Lehrplänen findet sich diese Kulturtechnik, die so wichtig wie Schreiben und Rechnen geworden ist, bislang nur selten.
Aber ich muss nicht nur Suchen können, ich muss meine Frage, die zur Suche wird, überhaupt erst einmal formulieren können. Dazu muss in meinem ganz privaten, nicht erweiterten Geist, etwas vorhanden sein, was mich zum Suchen veranlasst, ein winziges Informationsfragment, welches mir die Hoffnung oder sogar die Gewissheit gibt, dass es da draußen im erweiterten Geist der vernetzten Vernunft etwas gibt, was aus diesem kleinen Teil eine komplette Information macht. Ich muss einen Namen kennen, ein Teil eines Satzes. Wenn mir an dieser Stelle als Vergleich etwa das Sandkorn in den Sinn kommt, das Bastian Balthasar Bux in der Mitte der Unendlichen Geschichte in der Hand hält und aus dem er dann die ganze Welt wieder entstehen lassen kann, dann muss ich diese Geschichte einmal gelesen haben. Die Namen der Personen und den genauen Text, kann ich aus dem erweiterten Geist abrufen, egal, ob dieser aus meiner eigenen Büchersammlung besteht oder aus den digitalisierten Buchbeständen des Internets. Aber ohne die ganz private Erinnerung an dieses Buch nützt mir die Existenz der physischen Bibliothek ebenso wenig wie die Datenbanken der Suchmaschinen.
Der erweiterte Geist entscheidet
Aber zum Geist gehört ja wesentlich mehr als das Gedächtnis, das sich irgendwelche Informationen merkt und bei Bedarf bereitstellen kann. Zum Geist gehört ja vor allem das Denken, das Informationen verarbeitet, bewertet, verwendet, weiterentwickelt und zu Entscheidungen macht. Auch dabei kann der erweiterte Geist tätig werden.
Wir kennen das auch schon lange, nämlich immer dann, wenn wir andere für uns entscheiden lassen. Wir akzeptieren bestimmte Autoritäten, Eltern, Ärzte, Experten, die uns einen Rat geben und deren Rat wir annehmen. Vernetzt Vernunft, das heißt auch: Es gibt Experten, die für mich entscheiden können, und es wird allgemein erwartet, dass man auf den Rat von ausgewiesenen Experten hört. Der eigene Wille wird an die Experten delegiert. Der Berufsberater weiß besser als ich selbst, welche Ausbildung zu mir passt und mit welchem Beruf ich glücklich werde.
Voraussetzung für diesen Verzicht auf die eigene Entscheidungsfreiheit ist, dass wir davon überzeigt sind, dass die richtige Entscheidung einerseits auf der Basis von Fakten und Verfahren gefunden werden kann, dass es aber andererseits unglaublich kompliziert ist, die Fakten zu bewerten und die richtigen Schlussfolgerungen daraus zu ziehen, sodass man dafür Entscheidungs-Experten braucht. Man könnte ja stattdessen auch mit Intuition und Bauchgefühl entscheiden, wohl wissend, dass man scheitern kann. Oft ist ja eine spontane Entscheidung, die man selbst mit guten Gefühl getroffen hat, besser als eine, die man gegen das eigene Gefühl von anderen durch Fakten und logische Schlussfolgerungen vorgegeben bekommen hat. Nur, wenn man selbst schon so verunsichert ist, dass man dem eigenen Gefühl und der Intuition nicht mehr traut, braucht man für die eigenen Ziele den erweiterten Geist der vernetzten Vernunft.
Die vernetzte Vernunft muss uns dabei nicht in Gestalt von Experten und Autoritäten begegnen. Jede Checkliste in einer Zeitschrift, die mir sagt, was für ein Typ ich bin, welcher Sport zu mir passt und was ich essen soll, ist ein Teil dieser vernetzten Vernunft, ist eine Funktion ihres erweiterten Geistes.
Diese scheinbar objektiven Verfahren der Entscheidungsfindung treibt die vernetzte Vernunft durch Big Data und Entscheidungsalgorithmen zur Perfektion. Wir erleben derzeit die ersten Beispiele für ihre Funktionsweise und ihre normative Macht. Zwei Beispiele: Dating-Portale und Wahl-O-Maten. Beide erwecken den Eindruck, man könne durch Faktenanalyse und durch formale Beurteilung messbarer Kriterien zu einer richtigen Entscheidung kommen, sogar etwas über den eigenen Willen herausfinden. Wer nicht weiß, welcher Partner zu ihm passt oder welcher Partei er seine Stimme geben will, der befragt einen Algorithmus, gibt ein paar Antworten auf standardisierte Fragen, übermittelt ein paar Informationen, und schon erfährt man, worauf man sonst nur durch langwieriges Nachdenken, durch Reflexion und Ausforschung der eigenen Vorlieben und Bedürfnisse gekommen wäre.
Können immer bessere Algorithmen, die immer mehr Daten über mich analysieren können, die immer mehr Randbedingungen und Hintergründe überprüfen können, mir in nächster Zukunft sagen, was ich eigentlich wünsche, was ich erträume, was ich erreichen und erleben will? Schon im ersten Teil dieser Serie waren daran Zweifel aufgekommen, denn vieles, was für die Herausbildung meiner Wünsche und Sehnsüchte, die meinen Willen antreiben, wichtig ist, bleibt auch Big Data verborgen. Nur, wenn wir zu standardisierten Menschen werden, können standardisierte Informationen ausreichen, um standardisierte Wünsche zu ermitteln. Natürlich tut die vernetzte Vernunft seit langem viel dafür, dass wir uns in solche Standards einordnen. Schönheitsideale werden vorgeblich objektiv ermittelt und publiziert, und wir wiederum tun viel dafür, um diesen Idealen zu genügen. Politische Parteien geben standardisierte, glatt geschliffene Antworten auf standardisierte Fragen.
Auf der anderen Seite richtet sich unser Wille eben immer auf das unbekannte und außergewöhnliche. Wir begeistern uns nicht für den Durchschnitt, sondern für die Ausnahme, für das Fremde, das uns fasziniert und dem wir nahe kommen wollen. Es erreicht nicht nur unseren rationalen Verstand, sondern vor allem unsere Sehnsucht, unsere intuitiven Hoffnungen. Wir können davon begeistert oder enttäuscht sein. Begeisterung und Enttäuschung sind aber den Algorithmen fremd, egal ob sie aus Checklisten aus Papier bestehen oder in Cloud-Services implementiert sind. Sie haben nie selbst auf einem Berg gestanden und das Gefühl der Euphorie gespürt, und sie sind selbst nie von einem Politiker enttäuscht gewesen. Aus Begeisterung und Enttäuschung erwächst aber die typisch menschliche Erfahrung, die uns letztlich die Fähigkeit gibt, zu beurteilen, was wir wirklich wollen, wofür sich eine Anstrengung lohnt. Und diese Form der Erfahrung ist dem erweiterten Geist der vernetzten Vernunft fremd.