Die menschliche Vernunft ist nicht nur im Kopf, der Geist erweitert sich mit Denkhilfen, die der Mensch sich außerhalb seines Gehirns schafft. Im zweiten Teil dieser Serie ging es um diese Erweiterungen, von Notizen fürs Gedächtnis bis hin zu Services, die uns Entscheidungen und vielleicht sogar das Denken abnehmen. Dabei stand aber der einzelne Geist, also der einzelne Mensch mit seinen persönlichen Gedanken, Wünschen und Zielen, immer im Zentrum. Von ihm aus erweiterte sich der jeweils eigene Geist in die Welt. Wie ein Spinnennetz bindet er seinen Geist an die Welt an. Im Zentrum des Netzes sitzt der Einzelne mit seinem Geist, seinem Denken und Entscheiden. Aber zumeist trifft das Netz, das der einzelne baut, nicht auf bloße Natur, er trifft dort sozusagen auf den erweiterten Geist der anderen, auf ihre Denk- und Entscheidungshilfen, die dann jeder einzelne wiederum in seiner eigenen erweiterten Geist einbeziehen kann. So entsteht die vernetzte Vernunft: Ich erweitere meinen eigenen Geist mit Notizen, Merkzetteln, Erinnerungsstützen, und ich finde die Erinnerungsstützen der anderen in der Welt vor. Statt der eigenen Geisteswerkzeuge nutze ich die der anderen, und bald gibt es Werkzeuge, die nur dafür gemacht sind, von anderen genutzt zu werden: Telefonbücher, Lexika, Wikipedia, Suchmaschinen. Mein Geist schafft sich nicht mehr selbst seine Hilfsmittel, er passt sich den vorgefundenen Hilfsmitteln an, die andere hergestellt haben.
Ist das dann noch ein erweiterter Geist? Oder ist es nicht eher eine Einschränkung des Geistes, da er sich auf den vorgeschriebenen Pfaden der vernetzten Vernunft bewegen muss? Vielleicht ist es beides, denn natürlich ist der Geist erweitert, wenn er neben den mentalen Fähigkeiten des eigenen Gehirns auch Werkzeuge außerhalb des eigenen Kopfes nutzen kann, sei es ein Blatt Papier für Notizen oder schriftliche Rechnungen oder sei es ein Taschenrechner oder das Internet. Andererseits zwängt sich der Geist auf die Bahnen der Vorschriften und Verfahren der vernetzten Vernunft und sieht nicht, dass zwischen den vordefinierten Wegen auch noch Welt ist.
Das Netz der Anderen ist immer schon da
Für den Einzelnen ist das Netz der Anderen, das gemeinschaftliche Netz immer schon vorhanden, wenn er beginnt, seinen Geist in die Welt zu erweitern. Genau genommen wächst ja nicht mein Geist in die Welt hinaus, sondern der Geist der Anderen wächst in mich hinein. Ich stoße als Kind, wenn mein Geist erwacht, auf die Werkzeuge der Anderen und kann gar nicht anders, als sie zu benutzen. Und ich baue meine eigenen Hilfsmittel nach dem Vorbild der Anderen auf.
Schon im ersten Teil dieser Serie war deutlich geworden, dass selbst mein freier Wille nicht unabhängig vom Willen der anderen Menschen entsteht, dass ich oft das will, was in der Gemeinschaft als etwas Besonderes, Bewundernswertes angesehen wird, und was von dieser Gemeinschaft wenigstens akzeptiert wird.
Somit scheint es sinnvoll zu sein, die Perspektive einmal vollständig umzukehren, und nicht zu betrachten, wie die einzelne Person aus auf die Welt zugeht und sich in sie vernetzt, sondern die Netzstrukturen, die immer schon da sind, als etwas eigenständiges anzusehen, das den Einzelnen an sich bindet.
Wir sprechen im Alltag oft davon, dass bestimmte gemeinschaftliche Strukturen eine Überzeugung haben oder ein Ziel verfolgen. Unternehmen wollen Marktanteile vergrößern, Parteien haben politische Überzeugungen, Staaten oder Regierungen verhandeln miteinander. Wenn wir so reden, dann reden wir nicht über die Überzeugungen und Ziele von einzelnen Menschen, sondern von Organisationen und Gemeinschaften. Man könnte das für eine rein metaphorische Redeweise halten. Das würde heißen, dass etwa hinter den politischen Zielen einer Partei in Wirklichkeit die politischen Ziele von führenden Politikern stehen, oder dass sich hinter den wirtschaftlichen Interessen eines Unternehmens in Wahrheit die Interessen der Manager oder der Aktionäre verbergen.
Es mag Fälle geben, in denen sich Ziele und Entscheidungen von Gruppierungen tatsächlich so einfach erklären lassen. Insbesondere mag es sein, dass sich die gesellschaftlichen Strukturen früherer Zeiten auf diese Weise verstehen lassen. In Königreichen und Grafschaften, in Handwerksbetrieben und auf Bauernhöfen kann man das Ziel der Gemeinschaft mit dem des einzelnen Herrschers oder Eigentümers identifizieren, und manche Organisationen werden wohl noch heute nach diesem Prinzip geführt. Aber gerade die Tatsache, dass solche Strukturen uns merkwürdig unpassend und überholt vorkommen zeigt, dass für unsere moderne, vernetzte Gesellschaft ein anderes Organisationsprinzip charakteristisch ist.
Der Wille der Organisation
Dieses Prinzip muss gar nicht zwingend demokratisch sein, denn Demokratie bedeutet ja letztlich, dass doch wieder der Wille und die Ziele der einzelnen Menschen entscheidend sind. Demokratie ist eine Methode, aus den Zielen und Wünschen der Einzelnen etwas zu machen, was für alle akzeptabel ist, etwa weil das Ergebnis des demokratischen Prozesses den Willen der Meisten zum Ausdruck bringt.
Oft wird aber der Wille des Einzelnen in der Organisation erst gebildet, bevor jemand sich einer Gemeinschaft anschließt, sei es eine politische Partei oder eine Online-Community, hat er zu vielen Themen, die dort verhandelt werden, weder eine Überzeugung noch ein konkretes Ziel. Zwar gibt es ein paar abstrakte allgemeine Übereinstimmungen oder Erwartungen, die einen Menschen dazu bringen, einem Netzwerk beizutreten, aber mit der Mitgliedschaft beginnt ein Prozess der Wandlung, Neubildung und Deformation der Überzeugungen und Ziele, in deren Verlauf das Mitglied der Community zum funktionierenden Glied im Mechanismus der Zielbildung und Entscheidungsfindung der Gemeinschaft wird.
Deshalb ist es völlig richtig, vom Willen und von Zielen, auch von Entscheidungen und Handlungen der Organisation selbst zu sprechen. Der Mensch wird vom aktiven Gestalter, der seine eigenen Ziele verfolgt, zum Mitwirkenden, zum Helfer und Vollstrecker des Apparates, der Organisation. Die Deformation des Willens des Einzelnen durch den Willen der Organisation nennen wir euphemistisch den Kompromiss.
Aber wie ist es möglich, dass eine Organisation, eine Gemeinschaft, eine Online-Community Überzeugungen hat, einen Willen ausbildet, und letztlich auch handelt, und zwar so, dass ich diese Überzeugungen und Handlungen nicht auf die Überzeugungen und Handlungen der Mitglieder reduzieren lassen?
Voraussetzung dafür, dass wir eine Organisation als Träger von Überzeugungen ansehen, und dass wir akzeptieren, dass die Organisation selbst nach diesen Überzeugungen sinnvoll handelt, ist, dass wir die Organisation selbst für vernünftig halten. Damit das möglich ist, benötigen wir einen Begriff von Vernunft, der auch von einer Organisation, einem Netzwerk von Mitgliedern, erfüllt werden kann. Diesen Vernunft-Begriff haben wir in den letzten paar Jahrhunderten allmählich ausgebildet: Für vernünftig halten wir Überzeugungen und Entscheidungen, die aufgrund von Faktenanalyse und logischen Schlussfolgerungen nach klar nachvollziehbaren, möglichst wissenschaftlich gestützten objektiv richtigen Verfahren begründet werden können. Alles andere, insbesondere etwa emotionale Urteile und Intuition, wenn sie sich nicht wenigstens im Nachhinein rational begründen lassen, gelten als unvernünftig.
Solche vernünftigen Verfahren lassen sich natürlich in Organisationen als Vorschriften und Regeln oder wenigstens als Kultur implementieren. Umso besser die Regeln eingehalten werden, desto vernünftiger ist die Organisation. Die Krone der Vernunft ist die technokratische Bürokratie.
Das klingt zunächst etwas überspitzt und merkwürdig. Aber es ist durchaus plausibel. Als vernünftig sehen wir einen Menschen an, dessen Überzeugungen nachvollziehbar sind, der verständlich ist. Vernünftig ist jemand, der für seine Entscheidungen und Überzeugungen Gründe angeben kann. Wie diese Gründe zustande kommen, kann sehr unterschiedlich sein, aber sie müssen durch andere akzeptabel und für andere verständlich sein. In der modernen Gesellschaft ist das Begründen durch logisches Schließen, wie es die Naturwissenschaften ideal praktizieren, die am meisten akzeptierte Weise des Verständlichmachens von Gründen. Wenn eine Organisation solche Verfahren für die Herleitung von Überzeugungen und die Ableitung von Entscheidungen implementiert, gilt sie zu Recht als vernünftig.
Solche Verfahren sorgen zudem dafür, dass auch ein anderes Kriterium der Vernünftigkeit eingehalten wird: die Stabilität von Überzeugungen und Entscheidungen. Das bedeutet zweierlei. Einerseits sehen wir jemanden oder etwas als vernünftig an, wenn unter den gleichen Umständen immer das gleiche Ergebnis, die gleiche Überzeugung und die gleiche Entscheidung zustande kommt. Wenn jemand heute Lehrer und morgen Bäcker werden will, ohne dass sich irgendetwas in seiner Umwelt geändert hat, dann halten wir das für irrational, für unvernünftig. Andererseits sollte bei kleinen Veränderungen der Bedingungen auch das Ergebnis eines vernünftigen Subjekts irgendwie ähnlich bleiben. Wenn jemand bei 30°C Außentemperatur baden gehen will, bei zwei Grad weniger aber Bergsteigen träumt, erscheint uns das auch irrational.
Stabilität der Vernunft sorgt dafür dass wir die Handlungen und Entscheidungen eines vernünftigen Wesens vorhersehen können, dass wir uns darauf einstellen können. Wir sagen, ein vernünftiger Mensch ist berechenbar, und das gilt eben auch, wenn wir den Vernunftbegriff auf eine Community, eine Partei oder ein Unternehmen anwenden.
Hat Technik Vernunft?
So gesehen können wir auch technischen Objekten Vernunft zusprechen. Es wäre jedoch zu simpel, schon etwa im Heizungsthermostat ein vernunftbegabtes Wesen zu sehen. Was dem Thermostaten zur Vernunft fehlt, ist eben der Wille, das eigene Ziel. Zwar könnte man sagen, dass der Thermostat es warm haben will und deshalb die Warmwasserzufuhr zur Heizung entsprechend reguliert, so dass es ihm angenehm ist. Aber ein Thermostat wird nichts unternehmen, wenn die Heizung ausfällt. Im ersten Teil dieser Serie hatte ich geschrieben, dass der Wille sich nicht im einfachen Anstreben eines erreichbaren Zieles zeigt, sondern darin, dass der Weg zu einem Ziel überhaupt erst gesucht wird, und dass ein Wille gerade dann stark ist, wenn das Ziel nicht einfach zu erreichen ist.
Schlichte technische Regelungsmechanismen sind also noch nicht selbst als vernünftig zu bezeichnen, auch wenn sie von der Vernunft ihrer Erfinder zeugen können. Der Wille des Menschen, es im Haus jederzeit gleichmäßig warm zu haben, hat zur Erfindung des Thermostaten geführt.
Wenn wir aber Netzwerken von Menschen, wie Parteien und Unternehmen, einen eigenen Willen und am Ende, wie oben gezeigt, eine eigene Vernunft zuordnen können, dann ist es nicht ausgeschlossen, dass auch technische Netzwerke so etwas wie einen eigenen Willen und eine eigene Vernunft entwickeln. Wie das vorstellbar ist und welche Konsequenzen es hat, darum geht es im letzten Teil dieser Serie, die die Erkenntnisse der ersten drei Teile zusammenbringen wird.