Braucht die vernetzte Vernunft noch den Menschen?

Im ersten Teil dieser kleinen Artikelserie war es um den Willen gegangen. Warum dieser für das Verstehen der vernetzten Vernunft, wie wir sie heute antreffen, wichtig ist, war im dritten Teil sichtbar geworden: Ohne Willen ist es überhaupt nicht sinnvoll, von Vernunft zu sprechen, Vernunft ist das Werkzeug, mit dem der Wille einen Weg zu seiner Erfüllung sucht, gerade dann, wenn dieser Weg nicht offensichtlich und trivial erkennbar ist. Im zweiten Teil der Serie ging es darum wie sich die Vernunft des Einzelnen aus dem Kopf in die Außenwelt vernetzt und diese in den Geist einbezieht. So entsteht die vernetzte Vernunft. In der modernen Welt verselbständigt sich diese Vernunft, angetrieben von der logisch-rationalen Weise des Vernünftigseins, das durch den Siegeszug der Naturwissenschaften und der Technologien zur Vorherrschaft gelangt. Netzwerke von Menschen, also Communities, Parteien, Organisationen und Unternehmen, werden selbst zu vernünftigen Gebilden, die ihren eigenen Willen ausprägen und einer eigene Vernunft entwickeln und Wege zum Erreichen ihrer Ziele finden.

Wenn aber Netzwerke von Menschen dadurch vernünftig werden, dass sie logische Regeln stabil und nachvollziehbar zur Entscheidungsfindung anwenden, warum soll dann nicht auch ein technisches Netzwerk selbst eine eigene Vernunft entwickeln? Im Folgenden will ich zeigen, dass wir uns tatsächlich auf dem Weg zu einer solchen selbständigen technischen Vernunft befinden. Die Entwicklung lässt sich durch zwei Gedankenexperimente demonstrieren, in denen die Attribute der vernetzten Vernunft von Organisationen auf technische Netzwerke angewandt werden. Am Ende stellt sich die Frage, wo die Menschen selbst in einem solchen Szenario bleiben. Mit ein paar Gedanken zu dieser Frage schließt die Serie.

Die Vernunft geht ins Netz

Vor ein paar Jahren wurde im Umfeld der Piratenpartei ein Softwaresystem zur Abwicklung eines neuen demokratischen Willensbildungs-Verfahrens entwickelt: Liquid Democracy oder Liquid Feedback. Die Details sind für mein Argument uninteressant, wichtig ist, dass damit die Idee aufgetaucht ist, durch ein vernetztes Softwaresystem Willensbildungsprozesse einer Community zu ermöglichen, also eine technische Plattform für die Entscheidungsfindung einer Gemeinschaft zu bauen. Theoretisch ist das Verfahren der flüssigen Demokratie natürlich auch ohne eine Online-Vernetzung und ohne technische Netzwerkstrukturen möglich, es wäre aber so kompliziert, dass es praktisch nicht umsetzbar ist. Andererseits ist jedes einfache Abstimmungstool im Internet eine technische Möglichkeit, Willensbildungsprozesse von Gemeinschaften zu realisieren, die ohne Vernetzung nicht möglich wären.

Man muss sich immer klar machen: Zuerst sind da die einfachen technischen Regeln, nach denen eine Gemeinschaft zu einem Ergebnis kommt, das alle akzeptieren. Dass etwa von mehreren möglichen Terminen für ein Treffen der Gemeinschaft derjenige ausgewählt wird, zu dem am meisten Teilnehmer Zeit haben, ist so eine technische Regel. Sie wird von allen für vernünftig gehalten und akzeptiert. Durch ein Softwaresystem in einer vernetzten Umgebung wird dann nur die Möglichkeit geschaffen, diese Regel effektiv anzuwenden. Das Internet ist für viele solcher Regeln die ideale Infrastruktur ist. Es ermöglicht sogar die Anwendung von Verfahren, die ohne Internet schlicht nicht realisierbar wären. Das ist der Grund für den Erfolg und die zunehmende Dominanz des Netzes. Nicht das Netz zwingt uns die Regeln auf, es implementiert konsequent die Art der regeln, die wir seit langem für die besten halten.

Zurück zu der Online-Gemeinschaft, die ein Abstimmungstool für die Entscheidungsfindung nutzt. Sie ermöglicht ihren Mitgliedern, zu allen möglichen Fragen die eigene Meinung, den eigenen Willen oder die eigenen Überzeugungen in den Prozess der kollektiven Willensbildung einzubeziehen. Das kann nun aber für das einzelne Mitglied ziemlich schwierig werden. Selbst wenn es zu den Themen, bei denen es sich selbst nicht auskennt, seine Stimme an einen Experten seines Vertrauens delegieren kann, wie es bei Liquid Democracy vorgesehen ist, muss es ja entscheiden, wem es zu einem Thema vertraut, und auch diese Entscheidung will das Mitglied vernünftig begründen.

Um die eigenen Entscheidungen auch vernünftig treffen zu können, kann das Mitglied dann wieder Werkzeuge benutzen, Entscheidungshilfen, die funktionieren wie die Wahl-O-Maten oder die Auswahl-Tools der Dating-Plattformen.

Es wäre naheliegend und benutzerfreundlich, diese Entscheidungswerkzeuge direkt mit den Demokratie-Werkzeugen zu verbinden. Dann brauche ich nur noch meine Präferenzen in die Tools eingeben und im Falle einer Wahlentscheidung berechnet das Tool ganz eigenständig, wie ich zu wählen hätte, und gibt für mich die Stimme ab. Nichts spricht dagegen, so zu verfahren. Man könnte sich denken, dass das Entscheidungswerkzeug mir in der ersten Version der Integration in das Wahl-System den Wahlvorschlag noch anzeigt, und ich ihn bestätige. In der nächsten Version könnte ich dann ein Häkchen setzen mit der Option, dass das Tool bei der nächsten Frage zum gleichen Sachgebiet für mich automatisch abstimmt. In der dritten Version würde das Tool mir dann die Möglichkeit geben, dass ich nur noch im Einzelfall manuell in den automatischen Wahlprozess eingreife.

Aber warum sollte ich mir überhaupt noch über meine Präferenzen Gedanken machen? Hier könnte mir Big Data helfen. Die Datensammel-Algorithmen könnten doch schlicht aus meinem Verhalten meine Präferenzen ableiten und diese dann automatisch in die Entscheidungstools einspeisen. Auch hier ist ein mehrstufiges Verfahren denkbar, das über mehrere Versionen meine eigene aktive Beteiligung mit meinem Einverständnis immer weiter reduziert.

Am Ende dieses Prozesses ist der Mensch aus der Willensbildung der Gemeinschaft ausgeschieden, und zwar aus freien Stücken. Er wird schlicht nicht mehr gebraucht, oder nur noch als passiver Datenlieferant für die Ermittlung von Präferenzen. Machen wir uns klar, dass jede strukturierte Erhebung von messbaren Größen in der Marktforschung, jede Kategorisierung von Menschen in soziale Schichten und Ziel- und Wählergruppen, ein Schritt in die Richtung solche automatisierten Willensbildungssysteme ist. Das alles ist hochgradig vernünftig, es gehorcht der Logik der vernetzten Vernunft.

Aber selbst die Datenerhebung zur Ermittlung von Präferenzen wird am Ende vielleicht nicht mehr nötig sein, denn am Ende geht es nicht mehr um den Willen der Menschen, sondern eben um den Willen des technischen Netzwerk-Systems selbst. Was das bedeutet, soll das zweite Gedankenexperiment zeigen.

Die Vernunft des Netzwerks

Schon lange kennen wir Regelungsmechanismen in Netzwerken, die nicht dafür da sind, dem Willen der Nutzer oder Teilnehmer zu dienen, sondern die Funktion des Netzes selbst zu sichern. Genauer gesagt, geht es oft darum, die Ressourcen des Netzes selbst in irgendeinem Sinne optimal zu nutzen. Werkzeuge zum Routing und zur Lastverteilung in Netzwerken gehören zu diesen Regelmechanismen.

In die zukünftigen technischen Netzwerke gehören aber nicht nur die Computer-Netze, die die Informationen transportieren, sondern auch etwa die Verkehrsnetze, die Netzwerke der Handelsbeziehungen, in denen Waren- und Finanztransfers abgewickelt werden. Wenn eine Ware irgendwo auf der Welt gekauft und transportiert wird, wobei die Vertragsdokumente, die Liefer-Avise und die Zahlungstransaktionen synchron mit der Bewegung der Ware selbst erzeugt und übermittelt werden, dann können wir bald gar nicht mehr sagen, ob die Transaktion im Versand der Ware, der Lieferdokumente oder der Geldzahlung besteht. Die verschiedenen Netze verschmelzen zu einem Netz, die nur verschiedene Dimensionen der gleichen Transaktionen unterschiedlich sichtbar machen.

Dieses zukünftige Netzwerk wird über Regelmechanismen verfügen, welche den Gesamtprozess im Interesse des Netzwerks selbst optimiert. Die Informationen, die per Big Data über uns eingesammelt werden, werden darin nicht mehr dafür verwendet, unsere Präferenzen, also unseren Willen zu ermitteln, sondern dafür zu sorgen, dass das Netzwerk selbst sich erhält, gut funktioniert. Wir könnten, zunächst metaphorisch, sagen, dass das Netzwerk dafür sorgt, dass es ihm gut geht. Und wir werden sagen, dass es in unserem eigenen Interesse ist, dass das Netzwerk sich wohl fühlt, dass es ihm gut geht (so wie wir heute sagen, dass es einem Unternehmen gut geht), denn wir hängen davon ab, dass das Netzwerk funktioniert.

Das Netzwerk könnte zu dem Ergebnis kommen, dass es einen neuen Verkehrsweg braucht, dass ein Flughafen erweitert werden muss. Es könnte sogar über sein Demokratie-Subsystem einen politischen Entscheidungsprozess herbeiführen. Wir würden sagen: Das Netzwerk will eine neue Straße haben.

Damit wäre offensichtlich, dass auch dieses technische Netzwerk einen Willen haben könnte, und damit ist alles gegeben, was notwendig ist, um dem Netzwerk eine eigene Vernunft zuzusprechen. Das wäre dann die letzte konsequente Realisierungsform der vernetzten Vernunft, die heute denkbar ist.

Der Mensch wäre allerdings in dieser vernetzten Vernunft nicht mehr vorhanden, er wäre schlicht nicht mehr nötig. Er hat sich selbst daraus verabschiedet, er hat sich von der Last der vernünftigen Entscheidungsfindung befreit. Er wäre frei für die unvernünftigen Dinge, könnte man optimistisch vermuten.

Ist der Mensch in der vernetzten Vernunft überflüssig?

Allerdings sollten wir uns vielleicht nicht vorschnell aus der vernetzten Vernunft verabschieden. Die Frage ist ja, von welcher Art der Wille der vernetzten Vernunft wäre, wenn sie wirklich gänzlich vom menschlichen Willen befreit wäre – und was wir mit unserer Freiheit zur Unvernunft dann wirklich anfangen könnten.

Schon im ersten Teil dieser Serie war zur Sprache gekommen, dass die moderne vernetzte Vernunft wenig Toleranz gegen einen menschlichen Willen zeigt, der sich nicht rational mit ökonomischen Gründen der Nützlichkeit oder der sachlichen Ziele rechtfertigen lässt. Einfach auf einen Berg klettern wollen oder einen Marathon laufen zu wollen, wird schnell als unvernünftig abgetan, insbesondere, wenn offensichtlich ist, dass der Anstrengung für das Erreichen des Ziels kein messbarer Nutzen gegenüber steht, oder wenn ein Risiko, vielleicht sogar für die Gemeinschaft, zu erwarten ist.

Es ist zu erwarten, dass eine technische vernetzte Vernunft solchen unvernünftigen Zielen gegenüber nicht sehr aufgeschlossen ist. Sie wird das Durchschnittliche ermöglichen, nicht das Außergewöhnliche.

Hinzu kommt: Für viele große Ziele braucht der Mensch die Technik. Würde die technische vernetzte Vernunft auf die Idee kommen, zum Mars zu wollen? Schon heute, das ist bemerkenswert, wird mit der Vernunft argumentiert, dass es nicht sinnvoll sei, dass Menschen zum Mars fliegen. Es ist kostengünstiger, sicherer, und wissenschaftlich genauso nützlich, dorthin nur unbemannte Raumschiffe und Roboter zu schicken. Dass es eben der menschlichen Sehnsucht entspricht, den Fuß auf den fremden Planeten zu setzen, das ist der technischen Vernunft fremd.

Genauso fremd ist einer technischen Vernunft, aus Gewissensgründen Handlungen zu unterlassen, die rational und ökonomisch geboten sind. Ein technisches Projekt nicht umzusetzen, weil die Schönheit einer Landschaft bedroht ins, würde vor der technischen Vernunft als irrational gelten – wenn es sich nicht wieder unter einem Nutzensaspekt als sinnvoll herausstellen würde.

Gewissen, Sehnsucht und Intuition gehören jedoch zur menschlichen Vernunft. Etwas um der Schönheit willen zu tun, sich von etwas rühren zu lassen, sich euphorisch zu freuen, weil etwas vollbracht ist, etwas zu unterlassen, weil das Gewissen es verbietet – das alles ist auch Vernunft. Allerdings lässt es sich nicht in ein logisch-rationales Konzept von Vernunft, das technisch implementiert werden kann, hineinzwingen. Es durchbricht die festen Bahnen der vernetzten Vernunft.

Das ist der Grund, weshalb es nicht sinnvoll wäre, die Vernunft ganz an die vernetzte Technik zu delegieren. Mit Hilfe der Technik werden wir Menschen uns noch viele Sehnsüchte erfüllen können, solange der menschliche freie Wille die Technik dominiert. Nur, wenn die technische Vernunft zum Maß aller Dinge würde, wäre der freie Wille dahin.