Das Wissenschaftliche als soziale Praxis

Die Feststellung, dass das wissenschaftliche Handeln in einen sozialen Zusammenhang eingebettet ist und von sozialen Konstellationen abhängt, kann entweder als selbstverständlicher Allgemeinplatz angesehen oder als für das Verständnis des Wissenschaftlichen  unwesentlich beiseite getan werden. Da die Einbettung in das Soziale letztlich für alle menschliche Tätigkeiten eine Tatsache ist, die wissenschaftliche Praxis hier also selbstverständlich keine Ausnahme ist, kann man argumentieren, dass es für das Verständnis des Wissenschaftlichen gerade nicht hilfreich ist, ihre sozialen Abhängigkeiten und Bedingtheiten, die sie ja gerade mit allen anderen Praxen gemeinsam hat, in den Fokus zu nehmen.

Röttgers (2012, 100) hat allerdings Wissenschaft „als gesellschaftlich organisiertes Wissen“ charakterisiert. Das Wissen des Einzelnen, und auch das Wissen einer Gemeinschaft kann noch nicht als Wissenschaft gelten, „sondern erst das in einem gesellschaftlich ausdifferenzierten Diskurs organisierte Wissen“ (ebd.). Wir können somit annehmen, dass das Wissenschaftliche in ganz besonderer Weise von sozialen Zusammenhängen geprägt ist. Einiges von dem, was in den vorangegangenen Abschnitten gefunden wurde, weist darauf hin. Zu nennen ist zum einen die besondere Bedeutung der symbolischen Repräsentation und Dokumentation der wissenschaftlichen Kenntnisse. Diese zeichnet das Wissenschaftliche insofern aus, dass es unabhängig wird von den persönlichen Erinnerungen des Wissenschaftlers an das konkrete Zustandekommen seiner Kenntnisse. Auf diese Weise kann – und das ist im Alltag der zentrale Nutzen – die Kenntnis eines Wissenschaftlers durch andere Wissenschaftler nachvollzogen werden. Zwar kann auch dem einzelnen Forscher selbst seine Dokumentation zum späteren Nachvollziehen früherer Ergebnisse dienlich sein, aber es ist wenigstens nicht unmöglich, dass die für Wissenschaftler offenbar wichtige Anerkennung ihrer Erkenntnisse durch Kollegen den Weg und die Form der Dokumentation wesentlich bestimmt und damit auch das Wissenschaftliche selbst prägt. Zum anderen wurde in den vorherigen Abschnitten immer wieder auf die Bedeutung von gelernten Verfahren des experimentellen Gewinnens und des theoretischen Ableitens von Kenntnissen hingewiesen. Diese Verfahren werden natürlich in sozialen Beziehungen, zumeist an Universitäten in Lehrer-Schüler-Beziehungen, gelernt. Damit ergibt sich die Frage, ob dieses besondere soziale Gefüge der Reproduktion von wesentlichen Verfahren auch das wesentlich prägt, was als Wissenschaftliches angesehen wird.

Diesen Fragen soll auf den nächsten Seiten nachgegangen werden. Wiederum werden exemplarisch einige Standpunkte aus den letzten Jahrzehnten diskutiert und kritisch reflektiert, ohne dass es möglich ist, die Gesamtdebatte, die teilweise auch äußerst kontrovers geführt wurde, annähernd umfassend darzustellen. Auf die Struktur dieser Kontroversen wird allerdings im Laufe der weiteren Untersuchung zurückzukommen sein. Hier wird sie nur so weit nachvollzogen, wie sie für die weitere Schärfung eines Begriffes vom Wissenschaftlichen relevant ist.

Wissenschaftliche Tatsachen und Denkkollektive

Fast auf den Tag genau, als Karl Poppers Standardwerk der Wissenschaftstheorie, die Logik der Forschung, erschien, schloss Ludwik Fleck seine Studie Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache ab.  Während Poppers Buch schnell einflussreich wurde und die wissenschaftstheoretische Debatte bestimmte, wurde Flecks Buch kaum wahrgenommen. Beides war den politischen Verhältnissen in Europa in den 1930er Jahren geschuldet. Popper emigrierte wie viele andere Wissenschaftstheoretiker in den englischsprachigen Raum, während Fleck als polnischer Jude von den deutschen Nationalsozialisten erst ins Getto und später ins Konzentrationslager gesperrt wurde. An Einfluss gewann Flecks Werk erst vermittelt durch Thomas Kuhns Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, in dessen Vorwort Kuhn schreibt, dass Flecks Buch viele seiner eigenen Gedanken vorwegnehme und dass er ihm in mancher Hinsicht verpflichtet sei (Kuhn 1973, 8).

Für Fleck sind alle wissenschaftlichen Bergriffe „Ergebnis denkgeschichtlicher Entwicklung“ (31) und somit außerhalb einer bestimmten historischen Situation gar nicht zu verstehen. „Das Wissen war zu allen Zeiten für die Ansichten jeweiliger Teilnehmer systemfähig, bewiesen, anwendbar, evident. Alle fremden Systeme waren  für sie widersprechend, unbewiesen, nicht anwendbar, phantastisch oder mystisch.“ Das bedeutet, dass die Akzeptierbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse als Tatsachen überhaupt nicht beurteilbar ist. Ob die technische Umgebung eines theoretischen oder experimentellen Systems überhaupt als Komponente einer wissenschaftlichen Forschungskonstellation angesehen werden kann, ist außerhalb einer Gemeinschaft von Forschern somit gar nicht entscheidbar.

Fleck begründet seine Sicht empirisch, anhand einer Studie zur Entwicklung des wissenschaftlichen Syphilisbegriffes und kann damit als Urahn einer Tradition der Wissenschaftsphilosophie gesehen werden, der auch Rheinberger sowie die Autoren, die in den folgenden Abschnitten zitiert werden, gesehen werden. Auf dieser Basis entwickelt Fleck ein anschauliches Gesamtbild von der wissenschaftlichen Forschung im „Denkkollektiv“ (54) in dem ein gewisser „Denkstil“ (55) kultiviert wird. Abwehrstrategien gegen andere Denkstile (40) beschreibt er ebenso wie die „Notwendigkeit der Erfahrenheit“ die „ein irrationales, logisch nicht legitimierbares Element in das Wissen“ bringt (125). Allerdings müssen wir uns an dieser Stelle fragen, ob Fleck damit etwas spezifisch wissenschaftliches beschreibt, oder ob es sich nicht eher um eine allgemeine Beschreibung autoritärer sozialer Systeme handelt, wie sie zu einem bestimmten historischen Moment ausgebildet werden und die hier gewissermaßen nur am Beispiel der Wissenschaften dargestellt, durch wissenschaftliche Fallstudien illustriert werden. Dann würde Flecks Studie gerade nicht das Wesen des Wissenschaftlichen treffen, sondern das beschreiben, was die Wissenschaften in einer bestimmten sozialen Konstellation mit anderen Phänomenen, etwa dem Kunstbetrieb, den religiösen Praktiken, ökonomische oder politischen Institutionen gemeinsam haben. Ich werde deshalb im weiteren Verlauf dieser Untersuchung auf Flecks Studie zurückkommen, denn wir können uns unschwer denken, dass Begriffe wie „Denkkollektiv“ und „autoritäre Gedankensuggestion“ (136) dazu geeignet sind, politische Mechanismen innerhalb der wissenschaftlichen Praxis zu kennzeichnen. An dieser Stelle jedoch, wo es zunächst um eine möglichst klare Bestimmung des Wissenschaftlichen selbst geht, ist beim Nachzeichnen der Erkenntnisse der wissenschaftsphilosophischen Tradition, welche auf Fleck zurückgeht, besondere Vorsicht geboten. Schnell kann in der detailgenauen Beschreibung des konkreten wissenschaftshistorischen Prozesses dasjenige verborgen bleiben, was das Wissenschaftliche an dem betrachteten Vorgang gerade ausmacht, es wird verstellt durch diejenigen auffälligen Attribute, die den Vorgang zu einem normalen menschlich-gesellschaftlichen machen. Es ist natürlich für eine aufklärerische Analyse des Wissenschaftlichen sinnvoll, dieses gerade nicht als etwas Besonderes darzustellen, die Tätigkeit der Wissenschaftler vom Mythos, vom Zauberhaften, Außerordentlichen zu befreien und zu zeigen, dass da Menschen am Werk sind, die nicht frei sind von den charakteristischen Denkmustern und Prägungen ihrer Zeit, die auch ihr Werk selbst prägen. Genauso wichtig ist es andererseits aber auch, in diesem durchschnittlichen, normalen, gesellschaftlich geprägten Denken das zu identifizieren, was es zum speziell Wissenschaftlichen macht, das wir doch zumeist intuitiv zu erkennen in der Lage sind. Erst auf diesem klaren Verständnis, das möglichst konsistent zu dem passen soll, was wir in den vorangegangenen Abschnitten gesehen haben, möchte ich im Weiteren die Verschränkung mit anderen Phänomenbereichen zeigen.

Nicht die Beschreibung der autoritären Einübung von Denkstilen ist deshalb an Flecks Analyse der Wissenschaften so interessant, sondern die Analyse der erkenntnistheoretischen Bedeutung des wissenschaftlichen Denkkollektivs. Fleck konstatiert in der modernen Wissenschaft zunächst eine grundsätzliche Unterscheidung „des fachmännischen und populären Wissens“ (148). Innerhalb des fachmännischen Wissens differenziert er zwischen der Zeitschriftenwissenschaft, und der Handbuchwissenschaft, zu denen als drittes für die „Einweihung in die Wissenschaft nach besonderen pädagogischen Methoden“ (ebd.) die Lehrbuchwissenschaft tritt.

Obwohl die populäre Wissenschaft nach Fleck „Wissenschaft für Nichtfachleute, also für breite Kreise erwachsener, allgemein gebildeter Dilettanten“ (149) ist, spielt sie auch für die Fachleute eine bedeutende Rolle. Sie zeichnet sich durch den „Wegfall der Einzelheiten und hauptsächlich der streitenden Meinungen, wodurch eine künstliche Vereinfachung erzielt wird“ (ebd.) aus. „Der Gipfel, das Ziel populären Wissens ist die Weltanschauung“ (ebd.) und diese allgemeine Weltanschauung, „sie mag auch nur ein gehobenes Gefühl von der Zusammengehörigkeit allen menschlichen Wissens sein, oder Glaube au die Möglichkeit einer Allwissenschaft, oder Glaube an eine, wenn auch begrenzte Entwicklungsfähigkeit der Wissenschaft“ (150), ist auch die Basis oder das Fundament allen wissenschaftlichen Arbeitens: „Gewissheit, Einfachheit, Anschaulichkeit entstehen erst im populären Wissen; den Glauben an sie als Ideal des Wissens holt sich der Fachmann von dort. Darin liegt die allgemeine erkenntnistheoretische Bedeutung populärer Wissenschaft.“ (152, Hervorhebung im Original)

Bemerkenswert ist, dass Fleck die populäre Wissenschaft nicht nur als einen einseitig gerichteten Informationsfluss von den Fachleuten, den Experten, hin zu den Laien ansieht, durch welchen das interessierte Publikum sozusagen über die Ergebnisse der Forschungen der Wissenschaftler in Kenntnis gesetzt wird. Populäre Wissenschaft hat auch nicht in erster Linie eine rechtfertigende Funktion, aus der die Investitionen der Gesellschaft in wissenschaftliche Forschungen für den allgemeinen Erkenntnisgewinn als sinnvoll und gewinnbringend für die ganze Gesellschaft eingeordnet werden kann. Die wesentliche Rolle für die Fachwissenschaft selbst besteht darin, dass die Wissenschaftler aus der populären Wissenschaft selbst ihren Erkenntnisoptimismus und ihr wissenschaftliches Gesamtbild von der Welt beziehen. Das populäre wissenschaftliche Weltbild bildet für die forschenden Wissenschaftler selbst das stabile Fundament, auf dem sie sozusagen ihre vorläufigen, instabilen und provisorischen Gebäude der Spitzenforschung errichten können. Gleichzeitig bildet es den Konsens mit den Laien über die Möglichkeiten und den Fortschritt der Wissenschaften, der ohne dieses stabile Fundament durch Rückschläge und Irrtümer leicht erschüttert werden könnte.

Für die meisten Wissenschaftler dürfte die erste Begegnung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen durch Darstellungen der populären Wissenschaft erfolgt sein, und diese vereinfachten Erfolgsgeschichten der Forschung dürften den Anreiz gegeben haben, sich selbst auf das Feld der Forschung wagen zu wollen. Während der späteren eigenen Forschung bleiben diese Geschichten der sichere Anker, die Gewissheit, dass letztlich klare, richtige Erkenntnis möglich sein wird. Auf den meisten Gebieten bleiben zudem auch die Wissenschaftler Laien, die die Resultate der Forschungen über populäre Darstellungen zur Kenntnis nehmen. Somit bildet das Gesamtsystem der populären Wissenschaft einen soliden Rahmen, in dem die experimentellen Konstruktionen – und damit meine ich hier auch die theoretischen Konstruktionen, die ja im gewissen Sinne auch experimentell sind, solange sie noch vorläufige Modelle sind – eingehängt werden können.

Die eigentliche wissenschaftliche Forschung spielt sich nach Fleck in der Zeitschriftenwissenschaft ab. Das Ziel des „schöpferischen Fachmanns“ (156) ist der Bericht, der zur Zeitschriftenwissenschaft gehört. „Die Zeitschriftenwissenschaft trägt also das Gepräge des Vorläufigen und Persönlichen“ (ebd.). Vielleicht ist diese Beschreibung von Ludwik Fleck die erste in der Geschichte der Wissenschaftsphilosophie in der deutlich wird und betont wird, das das Ziel der modernen wissenschaftlichen Forschung der Zeitschriftenartikel ist. das, was heute „das Paper“ genannt wird, ein ganz spezifisch produzierter und strukturierter Ergebnisbericht über die Forschung ihres Autors, der mit dem Ziel geschrieben wird, in ein Gesamtsystem integriert zu werden. Dieses Gesamtsystem ist nicht etwa die populäre Wissenschaft, sondern das, was Fleck die Handbuchwissenschaft nennt: „eine kritische Zusammenfassung in ein geordnetes System“ (ebd.).

Obwohl die Zeitschriftenartikel vorsichtig formuliert sind und eine Korrigierbarkeit der dargestellten Ergebnisse zulassen, suchen sie immer Anschluss an das Gesamtsystem, ordnen sie sich immer in die Handbuchwissenschaft ein. Durch die erfolgreiche Einordnung in das Handbuch der Disziplin verschwindet gleichzeitig das Vorläufige, Vorsichtige und Persönliche, das Handbuch enthält das gesicherte Wissen der Disziplin in dem Sinne, dass es „entscheidet, was als Grundbegriffe zu gelten habe, welche Methoden lobenswert heißen, welche Richtungen vielversprechend erscheinen, welchen Forschern ein Rang zukomme“ (158)

Es kann dahin gestellt bleiben, ob Handbücher dieser Art für jede Disziplin mit Namen und Titel identifiziert werden können, oder ob sie heute in manchen Disziplinen durch Lehrbücher, in anderen durch den Review-Teil der führenden Fachzeitschriften und in anderen wiederum durch den fließenden Konsens der Forscher-Gemeinschaft sozusagen virtuell abgebildet werden. Konzeptionell ist der Begriff der Handbuchwissenschaft in jedem Fall hilfreich, um das Streben der Forscher zu verstehen, mit ihren Zeitschriftenartikeln in den gesicherten Bestand des Wissens der jeweiligen Forschergemeinschaft aufgenommen zu werden.

Wissenschaftliche Forschung kann mit Fleck also als ein ganz spezifisch ausgeprägter Prozess der Dokumentproduktion verstanden werden: Es geht darum, Zeitschriftenartikel zu produzieren, die zu einem Baustein in einem Gesamtsystem werden, das von der relevanten Gemeinschaft der Forscher als verbindlich akzeptiert wird. Dieses Gesamtsystem wird ständig weiter entwickelt, aufgestockt und umgebaut. Die Integration der Einzelbausteine ist damit verbunden, dass die Spuren des persönlichen und des vorläufigen beseitigt werden, außerdem werden natürlich diejenigen Zwischenergebnisse weggelassen oder herausgestrichen, die sich zum Schluss nicht konsistent in das Gesamtsystem einfügen lassen, die sich, wie man dann sagt, als Irrtümer oder Sackgassen erwiesen haben. Somit entsteht ein schönes, plausibles Gesamtgebäude, bei dessen Betrachtung man den Eindruck gewinnen kann, dass es planvoll und zielgerichtet erbaut wurde.

Bevor wir uns der Frage zuwenden, wie dieses Bild von Wissenschaft mit dem Begriff des Wissenschaftlichen zusammenpasst, den wir in den vorangegangenen Abschnitten zu entwickeln begonnen haben, möchte ich die außerordentliche Bedeutung der Beschreibung des wissenschaftlichen Forschens als, wie wir es nennen können, Dokumentenproduktionssystem hervorheben. Denn tatsächlich charakterisiert Fleck das wissenschaftliche Arbeiten hier auf eine Weise, die es deutlich von allen anderen Unternehmungen der modernen Gesellschaft abgrenzt, aber auch von früheren Aktivitäten, die als Wissenschaft bezeichnet werden.

Selbstverständlich gibt es auch in anderen Bereichen der Gesellschaft Aktivitäten mit dem Ziel, Texte in Zeitschriften zu veröffentlichen und damit Anerkennung oder Einfluss in der Gesellschaft zu erlangen, etwa im Journalismus oder in der Kunst. Auch wenn wir den Rahmen etwas weiter stecken und über das Präsentieren eigener Werke innerhalb einer Gemeinschaft von Fachleuten sprechen, mit dem Ziel, Anerkennung und langfristige Einordnung als Schöpfer von Rang zu erzielen, können wir die verschiedenen Bereiche der Kunst und der Publizistik nennen. Auch dort geht es sicherlich darum, sich in allgemein mehr oder weniger verbindliche Normen einzuordnen oder diese mit zu bestimmen. Jedoch ist es dabei niemals das Ziel, das eigene Produkt so von allem subjektiven und persönlichen zu befreien, dass der Autor nicht mehr sichtbar ist. Auch eine vollständige Integration in ein Gesamtsystem wird weder vom Journalisten noch vom Künstler angestrebt. Das Werk soll eine gewisse Wirkung haben und auch auf eine gewisse Erwartungshaltung Bezug nehmen, aber es bleibt ein eigenständiges Produkt, es soll nie zum bloßen Baustein in einer Gesamtkonstruktion werden.

Somit unterscheidet sich Flecks Darstellung der Wissenschaft grundsätzlich von jedem anderen gesellschaftlichen Unternehmen. Das ist umso erstaunlicher und bemerkenswerter als wir zu Beginn der Beschäftigung mit seiner Studie die Gefahr gesehen hatten, dass die soziologische und historisch konkrete Herangehensweise das spezifisch Wissenschaftliche gerade verdecken könnte, dass das so zu findende Verständnis von Wissenschaft sich gerade nicht von anderen Bereichen der modernen Gesellschaft abgrenzen ließe.

Diese moderne Wissenschaft unterscheidet sich aber nicht nur von den anderen Bereichen der modernen Gesellschaft, sondern auch von allen früheren Unternehmungen, die als Wissenschaft gelten. Noch Isaak Newton, der doch der Urvater der heutigen Physik ist, hat bekanntlich keineswegs Zeitschriftenartikel verfasst, die Eingang in ein Handbuch der Physik finden sollten. Das unterscheidet ihn eben gerade von seinen berühmten Nachfahren wie etwa Albert Einstein, dessen Theorien als Geburtsurkunden ein paar Aufsätze in den Annalen der Physik des Jahres 1905 haben. Im gleichen Sinne lässt sich auf das große Werk von Charles Darwin verweisen, der mit der Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl die Evolutionsforschung begründet hat, eine Disziplin, die heute in eine Vielzahl von Spezialgebieten mit einer ausgeprägten Zeitschriften- und Handbuchwissenschaft, aber auch mit einer Vielzahl von Werken der populären Wissenschaft aufgefächert ist. Man kann wohl sagen, dass eine Disziplin umso mehr moderne Wissenschaft ist, desto weniger ihre aktuelle Forschung durch große Monographien vorangebracht und dominiert wird, sondern durch ein System von speziellen Fachzeitschriften und Konferenzen, in denen der jeweils aktuelle Stand dessen ausgehandelt wird, was Fleck als Handbuchwissenschaft bezeichnet hat.

Wir hatten oben (Seite 43) das Wissenschaftliche als das Finden kausaler Zusammenhänge in Modellen charakterisiert. Solche kausalen Zusammenhänge bestehen darin, dass die Modelle in einer nachvollziebaren Weise manipuliert werden können und Manipulationen jeweils die gleichen Ergebnisse haben. Modelle sind dabei in Theorien oder in Experimentalsysteme eingebettet. Dieses Verständnis des Wissenschaftlichen erklärt die Struktur der modernen Wissenschaft als Zeitschriften- und Handbuchwissenschaft: In den Handbüchern der Disziplin werden die verbindlichen theoretischen Systeme und Experimentalsysteme dokumentiert, während in Zeitschriftenartikeln die Modellkonstruktionen und -manipulationen, die neu gefundenen kausalen Zusammenhänge dokumentiert werden. Dies geschieht genau zu dem Zweck, dass sie von anderen Wissenschaftlern nachvollzogen und damit gesichert werden können, auf dass sie in das gesicherte Wissen des Handbuchs als Baustein eingehen.

Ich werde das Gesamtbild des Wissenschaftlichen, das so entsteht, am Ende dieses Kapitels zusammensetzen. Zuvor soll in den verbleibenden Abschnitten die weitere Entwicklung der Wissenschaftsphilosophie, wie sie von Fleck initiiert wurde, skizziert werden. Daraus werden wir weitere Teile des gesuchten Bildes gewinnen können.

Wissenschaft als Paradigmendynamik

Der wohl einflussreichste Nachfolger der Wissenschaftsphilosophie Ludwik Flecks war wohl Thomas Kuhn mit seiner Studie Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, die zuerst 1962 erschien. Die zentralen Begriffe, mit denen Kuhn das Wesen der Wissenschaften zu erfassen versucht, sind das Paradigma, die Normalwissenschaft, die wissenschaftliche Revolution sowie die Inkommensurabilität. Während in den Zeiten der Normalwissenschaft in einer Disziplin auf der Basis eines klaren Paradigmas gearbeitet wird, und im Rahmen dieses Paradigmas im Wesentlichen ein so genanntes Rätsellösen stattfindet, wird während einer wissenschaftlichen Revolution ein altes Paradigma durch ein neues ersetzt. Das alte und das neue Paradigma sind inkommensurabel, d.h., sie sind nicht ineinander übersetzbar, sie sind nicht gleichzeitig möglich, schließen einander aus. Wir werden im Folgenden die Kuhns Argumentation kritisch nachzeichnen, um das Bild des Wissenschaftlichen, welches wir hier entwickeln, zu prüfen und zu ergänzen.

Kuhns Beschreibung der Normalwissenschaft unter einem Paradigma ist im Wesentlichen eine Neuformulierung dessen, was Fleck mit den Begriffen „Denkkollektiv“ und „Denkstil“ beschrieben hat[1]. Kuhn schreibt: „Menschen, deren Forschung auf gemeinsamen Paradigmata beruht, sind denselben Regeln und Normen für die wissenschaftliche Praxis verbunden“ (1973, 26). Auch wenn der Begriff des Paradigmas von Kuhn nirgends ganz klar gefasst wird, mal ist es eine wissenschaftliche „Leistung“ (25), mal eine „Theorie“(32), ein „festumrissener Forschungkonsensus“ (30) und mal eine „vorgeformte und relativ starre Schublade“ (38) in welche die Natur hineingezwängt wird, wird deutlich, welche Rolle das Paradigma in der wissenschaftlichen Arbeit spielt. Es bildet das fraglos geltende stabile Fundament dessen, was der Forschergemeinschaft als zweifelsfrei zutreffend gilt. Gerade deshalb muss der Begriff des Paradigmas auch eine gewisse Unschärfe haben. Das, was als sicheres Fundament gilt, kann eben je nach Forschungsprogramm und Disziplin etwas sehr unterschiedliches sein. Es kann sich um eine grundlegende Theorie ebenso handeln wie um die Menge vernünftiger Fragestellungen wie auch um die in der jeweiligen Disziplin als Standard geltenden Experimentieranordnungen oder die als gesichert geltenden experimentellen Befunde. Dass etwas als Paradigma gelten kann, kann nicht vorab durch theoretische Erwägungen bestimmt werden – es ist eine praktische Frage. Dadurch, dass die Forschergemeinschaft etwas als einen ausreichenden Konsens bestimmt hat, dadurch, dass sie es als Fundament vereinbart hat und darauf in der täglichen Forschung verweist, wird es zum Paradigma. Insofern ist hier fraglich, warum Kuhn hier überhaupt einen gegenüber Fleck neuen Begriff eingeführt hat, denn die Rolle, die dieser Konsens im „Denkkollektiv“ zu spielen hat, nämlich das Denken auf bestimmten, konsensfähigen Bahnen zu halten, wurde durch Flecks Begriff des „Denkzwangs“ wesentlich klarer bestimmt.

Auch für Kuhn wird, ebenso wie für Fleck, das Paradigma in Grundlagenwerken dokumentiert, wobei Kuhn nicht zwischen Handbuch-Wissenschaft und Lehrbuchwissenschaft unterscheidet, sondern nur über die Lehrbücher der Disziplin spricht: „Heute werden solche Leistungen in wissenschaftlichen Lehrbüchern, für Anfänger und für Fortgeschrittene, im Einzelnen geschildert, wenn auch selten in ihrer ursprünglichen Form. Diese Lehrbücher legen das anerkannte Theoriengebäude dar“ (25). Kuhn verweist auf den qualitativen Unterschied dieser Lehrbücher zu den „Klassikern der Wissenschaft“ (ebd.) auf den wir oben bereits eingegangen waren. Bedeutsam ist, dass diese Klassiker, die in vorparadigmatischer Zeit oder während des Findens des ersten Paradigmas einer Disziplin entstanden, sich auch an ein breites verständiges Publikum wandten (34). Das verweist darauf, dass auch für Kuhn ein Unterschied zwischen der vormodernen Wissenschaft und der modernen Wissenschaft in dem Sinne besteht, dass sich in letzterer ein charakteristisches Verfahren der Erkenntnisdokumentation herausbildet, in der bestimmte Erkenntnisformen in zugehörigen Dokumentarten dargestellt werden. Das Paradigma wird in Lehrbüchern dargestellt. In der modernen Wissenschaft entwickeln sich parallel zum Erscheinen der Lehrbücher die „Fachzeitschriften“ (33), mit „kurzen Artikeln, die sich nur an die Fachkollegen wenden, bei denen die Kenntnis eines gemeinsamen Paradigmas vorausgesetzt werden kann“ (34).

In den Zeiten der Normalwissenschaft findet in diesen Fachartikeln der Zeitschriften das Lösen von wissenschaftlichen Problemen statt, die Kuhn drei Klassen zuordnet: „Bestimmung bedeutender Tatsachen, gegenseitige Anpassung von Fakten und Theorie, Artikulation der Theorie“ (47). Damit wird die Normalwissenschaft zum „Rätsellösen“ (49ff): Innerhalb des Paradigmas werden einzelne konkrete Aufgabenstellungen und Konstellationen ausgewählt und untersucht, etwa die Bewegung zweier Körper unter dem Newtonschen Paradigma, oder die Schwingung einer Saite. Dabei kann es sein, dass die bisherige Formulierung des Paradigmas an Grenzen stößt, sodass eine Neuartikulation nötig ist (hier ist als Beispiel die Langrangesche oder die Hamiltonsche Formulierung der Newtonschen Mechanik einschlägig).

Bis zu diesem Punkt handelt es sich bei Kuhns Wissenschaftsphilosophie, so kann man mit seinen eigenen Worten sagen, um eine Neuartikulation der Beschreibung, die wir schon bei Fleck gefunden haben. Hinsichtlich der Literaturproduktion ist Kuhns Bild eine Vereinfachung, die, wie wir noch sehen werden, auch Probleme mit sich bringt. Hinsichtlich etwa der Typologie der Probleme, die in der Normalwissenschaft gelöst werden, handelt es sich um eine Ergänzung. Einen wirklich neuen Schritt geht Kuhn gegenüber Fleck erst durch seine Beschreibung der wissenschaftlichen Revolutionen, durch die ein Paradigma durch das andere abgelöst wird.

Kuhn hat sich ganz bewusst für den Begriff der Revolution entschieden und beginnt seine Argumentation mit einer Skizze einer Theorie der gesellschaftlichen Revolution (104f), die ein wenig an Marx und Engels erinnert. Ausgangspunkt der Revolution ist, dass ein Teil der Gemeinschaft das Gefühl hat, dass die geschaffenen Institutionen ihrer Rolle nicht mehr gerecht werden. Die Revolution soll diese Institutionen auf Weisen ändern, die „von jenen Institutionen selbst verboten werden“ (105). Kuhn will zeigen, dass sich die revolutionäre Wahl „zwischen zwei konkurrierenden Paradigmata als eine Wahl zwischen zwei unvereinbaren Lebensweisen der Gemeinschaft“ erweist (106). Die verschiedenen Paradigmata sind inkommensurabel.

Kuhn erläutert seine Revolutionstheorie an einer Reihe von plausiblen historischen Beispielen. Trotzdem ist gerade dieser Teil seines Konzepts in der Folge oft kritisiert und angegriffen worden (Lakatos und Musgrave 1970, Hacking 1981, Hoffmann 2013, 100). Das ist auch verständlich wenn man bedenkt, dass viele Grundkonzepte der Wissenschaften, die Kuhn als Beispiele alter Paradigmata nennt, welche auf revolutionäre Weise durch neue abgelöst werden, noch heute in den Lehrbüchern der betreffenden Disziplinen stehen und im Studium der jeweiligen Wissenschaft gelehrt und geprüft werden. So muss sich etwa jeder Student der Physik sowohl im theoretischen Teil seiner Ausbildung als auch im physikalischen Praktikum noch heute die Newtonsche Mechanik aneignen, dies sogar in größerem Umfang als er sich etwa der Relativitätstheorie oder der Quantenmechanik zu widmen hat. Das spricht nicht gerade dafür, dass auf diesem Gebiet eine Revolution stattgefunden hat, durch die eine „Lebensweise der Gemeinschaft“ durch eine andere abgelöst worden wäre, die mit der ersten unvereinbar wäre.

Erklärlich wird das, wenn man annimmt, dass eine wissenschaftliche Forschergemeinschaft nicht durch ein einzelnes Paradigma geprägt ist, oder durch einige, nebeneinander bestehende Paradigmata, die sich ergänzen, sondern durch ein hierarchisches Netz über- und untergeordneter, allgemeiner und spezieller Paradigmata. Das allgemeine Paradigma bleibt auch Paradigmata von Änderungen spezieller Paradigmata unberührt. So ist etwa der Konsens, dass die physikalische Welt sich durch mathematische Gleichungen beschreiben lassen sollte, wobei Modelle für konkrete Konstellationen aus allgemeinen Gleichungen, so genannte physikalische Gesetze, hergeleitet werden müssen, durch den Übergang von der Newtonschen Mechanik zur Relativitätstheorie oder zur Quantenmechanik gänzlich unberührt geblieben. Auch wenn die Vorstellung, dass Entfernungen und Zeitmessungen sowie die Masse eines Körpers bei Geschwindigkeitsänderungen nicht konstant bleiben, mit der Newtonschen Mechanik nicht vereinbar sind und für manchen Forscher als ein unannehmbarer Paradigmenwechsel, für andere als eine bedeutende Revolution des Weltbildes erscheinen musste, war doch nicht in Frage gestellt, dass die Bewegung von Körpern durch Bewegungsgleichungen beschreibbar ist. Der Wechsel von der deterministischen Mechanik zur Quantenmechanik stellte ebenfalls ein Paradigma in Frage: an die Stelle deterministischer Bewegungsgleichungen traten Gleichungen über statistische Verteilungen, die nicht auf deterministische Gesetze zurückgeführt werden konnten. Trotzdem blieb der wesentliche Konsens bestehen, dass die physikalische Welt mathematisch beschreibbar ist, somit bestand für die Vertreter des einen Paradigmas kein Zweifel, dass auch die Vertreter des anderen zur Gemeinschaft der Physiker gehören. Mehr noch: Gerade für die Vertreter eines neuen Paradigmas ist es selbstverständlich, dass die Studenten der Disziplin an den alten Paradigmata zunächst die Grundsätze der Disziplin zu erlernen haben, bevor sie sich den aktuellen Theorien zuwenden könnten.

Geht man weiter ins Detail der Forschung einer Disziplin, so steigt man in der Hierarchie der Paradigmata immer weiter hinab. Was von einer allgemeinen Perspektive aus als Normalwissenschaft des Rätsellösens erscheint, erweist sich bei genauerer Betrachtung als Kampf zwischen Einzelparadigmata, als „permanente Revolution“.

Diesem Bild von Wissenschaft wird Flecks Unterteilung in populäre Wissenschaft, Lehrbuch-, Handbuch- und Zeitschriftenwissenschaft weit besser gerecht als Kuhns vereinfachtes Modell, in dem es nur die Lehrbücher, in denen das Paradigma gelehrt wird, auf der einen Seite, und die Zeitschriftenartikel, in denen das Rätsellösen stattfindet, auf der anderen Seite gibt. Wie wir oben gesehen haben, beziehen auch die Forscher an der vordersten Front einer Einzelwissenschaft seine allgemeinen Überzeugungen über die richtigen Grundsätze und die Möglichkeiten der Wissenschaften aus der populären Wissenschaft. Dort werden die allgemeinen und langlebigsten Paradigmata gebildet. Dass auch diese Paradigmata einem Wandel unterliegen, die man durchaus als revolutionär bezeichnen kann, haben etwa Foucault (2003) oder Heidegger (2003) gezeigt. Wir werden darauf zurückkommen, halten aber für den Moment fest, dass es auf dieser allgemeinen Ebene in der Zeit der Moderne oder gar der Spätmoderne keinen Paradigmenwechsel gegeben hat, dass vielmehr das, was wir als das Wissenschaftliche in den Blick zu bekommen versuchen, gerade das ist, was diesem modernen Paradigma entspricht.

In den Lehrbüchern findet sich die Beschreibung verschiedener nützlicher, akzeptabler, wenn auch vielleicht veralteter Paradigmata, an denen die Studenten der jeweiligen Wissenschaft vor allem lernen können, wie leistungsfähig das allgemeine Paradigma ist und welche großen Werke es hervorgebracht hat. Auf dieser Basis können sie dann auch lernen, dass es neuere Paradigmata gibt, die die alten zum Teil korrigieren, zum Teil ablösen.

Die Stabilisierung und vorläufige Verfestigung spezieller Paradigmata geschieht auf der Ebene, die Fleck die Handbuchwissenschaft genannt hat. Heute gibt es, wie wir bereits festgestellt haben, eine Vielzahl von Ausprägungen der Darstellung dieser Paradigmata: Sie finden sich in Review-Artikeln der führenden Fachzeitschriften, in Konferenzserien, deren Beiträge in speziellen Buch-Reihen veröffentlicht werden, sowie in Sammelbänden und Übersichtsmonographien. Der Übergang zur Lehrbuchwissenschaft auf der einen Seite sowie zur Zeitschriftenwissenschaft auf der anderen ist fließend. In der Zeitschriftenwissenschaft, zu der neben den Artikeln, die in Fachzeitschriften erscheinen, auch die Beiträge zu Fachkonferenzen sowie die Arbeitspapiere gehören, die heute zunehmend auf den Webseiten der Institute bereitgestellt oder in offenen Datenbanken im Internet publiziert werden, findet sowohl die Normalwissenschaft als auch die permanente Revolution statt. Allerdings kann bei einem einzelnen Artikel gar nicht unbedingt genau entschieden werden, ob er ein Rätsel der Normalwissenschaft löst oder ein revolutionäres spezielles Paradigma beschreibt. Jeder Artikel ordnet sich in ein übergeordnetes Paradigma ein und schließt an bestehende spezielle Paradigmata an, um sie zu ergänzen oder auszubauen.

Die wissenschaftliche Produktion von Text

Der Gedanke, wissenschaftliche Forschung als spezielle Textproduktion zu beschreiben, ist vor allem von Bruno Latour (etwa in Latour und Woolgar 1986, Latour 2000) detailliert ausgearbeitet worden. Latour und Woolgar sehen sich in der Rolle von (soziologischen) Anthropologen, die die Wissenschaftler bei ihrer Arbeit beobachten und versuchen, einen Sinn, eine Struktur in ihrem Tun zu entdecken. Latour hat dazu einige Monate in einem Laboratorium verbracht und seine Beobachtungen aufgezeichnet. Was ihm dabei ins Auge fiel, war die „central prominence of documents“ (Latour und Woolgar 1986, 52). In Auseinandersetzung mit Standpunkten, die die große Rolle informaler Kommunikation in den Wissenschaften betonen, stellen die Autoren fest: „much informal communication in fact establishes its legitimacy by referring or pointing to published literature. … Even the most informal exchanges constantly focused either directly or indirectly on documents.“ (53) In der Kommunikation der Wissenschaftler geht es entweder um die Inhalte von Dokumenten oder um das Schreiben von Texten, etwa um eine Kooperation, in der ein Artikel entstehen soll. Es werden Entwürfe diskutiert oder die Frage behandelt, welche Reaktionen auf eigene Artikel in kommenden Artikeln zu erwarten sind (ebd.).

Latour und Woolgar zeichnen in ihrer Studie im Wesentlichen die Entstehung wissenschaftlicher Artikel nach und zeigen, wie durch sie ein Bereich der Wissenschaft hervorgebracht wird und seine Dynamik entwickelt. Ein solcher Bereich wird als Feld bestimmt. Der Begriff des (Forschungs-)Feldes ist insofern für das Verständnis des tatsächlichen Forschungsprozesses besser geeignet als der der Wissenschaft oder der Disziplin, dass er auch Forschung an den Schnittstellen verschiedener Disziplinen sowie Hybridbildungen aus verschiedenen Disziplinen erfasst, die für die moderne Wissenschaft gerade typisch sind. Die Zuordnung eines Feldes zu einer Disziplin oder einer Wissenschaft ist gerade nicht notwendig, Felder können geradezu beliebig durch Zusammenstellung von Methoden und Gegenständen aus verschiedenen Disziplinen gebildet werden.

Als „mixture of beliefs, habits, systematic knowledge, exemplary achievements, experimental practices, oral traditions, an craft skills“ (54) ist ein Feld ein kulturelles Phänomen. Es wird durch eine eigene Geschichte, mit Vorläufern, mythischen Gründern und Revolutionen definiert. Schon in diesen Geschichten wird auf Dokumente referenziert. Wir hatten oben bereits auf die großen Monographien der Väter ganzer Disziplinen, wie Issak Newton oder Charles Darwin verwiesen, oder auf die Artikel Albert Einsteins in den Annalen der Physik von 1905. Latour und Woolgar führen ähnliche Beispiele an. Auch bei Fleck finden sich solche Referenzen, ebenso in den oben zitierten Arbeiten von Rheinberger.

Die Größe und Bedeutung eines Feldes, seine Wachstumsdynamik, aber auch sein Niedergang, lässt sich an der Zahl der publizierten Artikel pro Jahr messen (57). Auch einzelne Ausprägungen innerhalb eines Feldes lassen sich in ihrer Dynamik durch die Zahl der Publikationen beschreiben. Der gesamte Forschungsprozess erscheint als ein strukturiertes Verfahren, um aus Ausgangsdaten Artikel zu produzieren (63ff).

Da Latour und Woolgar sich auf ein Experimentallabor konzentrieren, zeichnen sie den Weg von Messergebnissen aus Experimenten zu Zeitschriftenartikeln nach. Schon die Messung selbst erfolgt so, dass sie in strukturierten Zahlenwerken und grafischen Darstellungen dokumentiert werden können. Die akzeptierten Mess- und Protokollierungsverfahren und die Art und Weise  der Dokumentation gehört zur Kultur des Feldes ebenso wie die Verfahren, nach denen dieser Ergebnisse in Diagrammen organisiert werden. Diese Darstellungen sind Gegenstand der Diskussion unter den beteiligten Forschern, in ihnen wird nach den „harten Fakten“ gesucht, deren Reproduzierbarkeit in folgenden Experimenten (genauer: in Diagrammen, die aus folgenden Experimenten abgeleitet werden) angestrebt wird, damit sie als wissenschaftliche Erkenntnis, als Wissensbaustein des Feldes angesehen werden können. Die Präsentation dieser Wissensbausteine in einem publizierten Artikel ist letztlich das Ziel: „The production of papers is acknowledged by participants as the main objective of their activity.“ (71)

Während die Zahl der Publikationen die Bedeutung und die Dynamik eines Forschungsfeldes anzeigt, wird die Bedeutung und der Einfluss eines Instituts, einer Arbeitsgruppe oder einzelner Forscher nicht nur durch die Anzahl der Publikationen bestimmt, die in der Publikationsliste dokumentiert wird (72). Ebenso bedeutend ist die Zahl der Zitationen der eigenen Artikel in den Artikeln anderer Forscher und Arbeitsgruppen, die auf dem gleichen Feld arbeiten (220, 225). Die Glaubwürdigkeit eines Forschungsergebnisses wird in erster Linie durch die Zahl der Zitationen des betreffenden Papers bestimmt.

[1] Mößner (2011) verweist darauf, dass diese Aussage von vielen Wissenschaftsphilosophen geteilt wird, arbeitet allerdings gleichwohl wichtige Unterschiede zwischen den beiden Konzepten heraus.