Spätestens bei Aristoteles (Metaphysik 1006a, beim Verweis auf den unendlichen Regress) wird das Unbegrenzte mit dem Unendlichen identifiziert. Bei Anaximander, der das ἄπειρον (Negation von „Begrenztes“) als ἀρχή (Ursprung, Prinzip, Anfang) auffasst, muss diese Identifikation nicht unbedingt angenommen werden. Das Unbegrenzte als Prinzip, das ist verständlich, wenn man es so versteht, dass die Dinge grundsätzlich keine festen oder klaren Grenzen haben, dass sie ineinander übergehen, dass es Zonen des Übergangs gibt. Wenn Heraklit sagt, dass man die Grenzen der Seele nicht ausfindig machen kann, dann sagt er nicht, dass die Seele unendlich sei, denn er ergänzt, das, was man über sie sagen kann (ihr λόγος habe eine zu große Tiefe. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, unbegrenzt und doch nicht unendlich zu sein.
Ein Gebirge ist nicht unendlich – wenn unendlich meint, das das unendliche Ding sich überall auffinden lässt und soweit man auch geht, man nicht an sein Ende kommt. Im Flachland ist kein Gebirge. Aber wo das Flachland endet und das Gebirge beginnt, lässt sich so genau nicht sagen. Das Gebirge geht irgendwo ins Flachland über. Es ist unbegrenzt. Unbegrenzt zu sein ist das Grundprinzip des Seins nach Anaximander.
Anaximander lebte in einer anderen Welt als wir, das Grundprinzip des Seins in unserer Welt ist gerade, dass klare Grenzen gezogen werden können. Aber diese Grenzen zieht der Mensch, sie sind nicht in der Realität. Genauer: nur selten finden wir das Begrenzt-Sein schon an den Dingen. Ein Stein ist begrenzt – jedenfalls in unserer alltäglichen Erfahrung, die unser ganzes Weltverständnis prägt. Aber in unserer täglichen Erfahrung gibt es auch viele Dinge, die unbegrenzt, aber nicht unendlich sind. Die Wiese, die in den Wald übergeht, der Sandhaufen, in dem das Kind Höhlen, Gänge und Löcher gräbt. Das Handeln des Kindes löst die Grenzen immer mehr auf, der Sandhaufen verliert seine Begrenztheit – ohne dabei unendlich zu werden. Am Abend wird der Sand auf den Haufen und in die Kiste zurückgefegt, das Kind lernt, das in dieser Welt alles seine Grenzen hat, das Ordnung mit Begrenzung verbunden ist. Begrenzung und Abgrenzung wird zur Norm, klare Unterscheidung.
In einer Welt, in der das Unbegrenzte Prinzip ist, werden an die Stelle der Grenzen Differenzen, Abstufungen, graduelle Verschiebungen gesetzt. Es gibt ein noch-nicht-ganz und ein schon-nicht-mehr. Es bleiben Möglichkeiten des Übergangs und der Nachbarschaft, nichts ist völlig anders oder gänzlich fremd.