Die Dinge

  1. Ich beginne mit dem einfachsten Ding, welches meine Erfahrung vom Ding vielleicht auch als erstes geprägt hat. Ein Stein vielleicht. Ich kann ihn aufheben, drehen und wenden, spüre seine Oberfläche, sie ist glatt und kalt ich höre etwas, wenn ich ihn fallen lasse. Ich habe von Anfang an eine vielfältige sinnliche Erfahrung. Es ist wichtig, darauf zu achten. Der Stein wird als Ding und als Stein nur von mir wahrgenommen, wenn ich ihn aufhebe, anfasse, etwas mit ihm mache und diese Beschäftigung mit dem Stein mit allen Sinnen erlebe. Den Stein erlebe ich als Stein nicht durch das bloße Ansehen, sondern durch das Hantieren mit ihm, indem ich beobachte, was ich tue, indem ich meinen Umgang mit dem Stein erlebe.
  1. Vielleicht muss ich hier noch einmal innehalten und vermuten, dass ich den Stein zunächst nicht als Stein erlebe. Wir stoßen hier auf die grundlegende Schwierigkeit, dass wir unsere ersten Erfahrungen gar nicht zu Rate ziehen können, weil wir uns nicht an sie erinnern und weil wir Kleinkinder, die diese Erfahrungen machen, nicht befragen können. Wir können sie nur beobachten und spekulieren und bei dieser Spekulation müssen wir uns schon mit den Begriffen behelfen, die wir erst viel später gefunden haben. Wir beginnen leider erst mit der philosophischen Reflexion, wenn wir die wichtigsten Elemente unserer Erfahrung längst vergessen und mit Begriffen, über die wir nie nachgedacht haben, zugeschüttet haben. 
  2. Wenn das Kind einen Stein in die Hand nimmt, ihn wendet und beschaut, betastet, vielleicht sogar in den Mund nimmt oder daran riecht, ihn gegen die Wand schlägt und auf das Geräusch hört und schließlich in hohem Bogen wegwirft, dann erlebt es dieses Ding als ganz individuelles, als dieses Ding. Dass dieses Ding ein Ding wie andere ist, bemerkt das Kind wohl erst, wenn es weitere Steine aufnimmt und mit ihnen auf gleich Weise verfährt und das gleich erlebt, wie mit dem ersten. Es ist bemerkenswert, dass wir Erwachsenen es sind, die dem Kind beibringen, dass dieser individuelle Stein nicht mehr ist als irgend ein Stein. Das Kind zeigt mir einen Stein nach dem anderen und ich sage ihm, das sei „ein Stein“ und dies dort sei „ein anderer Stein“ und jenes „auch ein Stein“. Es wäre ein Gespräch denkbar, in dem ich stattdessen jedem Ding, das das Kind mir zeigt, einen Namen geben, der erste Stein ist „Alice“ der nächste ist „Bob“ der übernächste „Clara“. Würde das Kind das „Stein-hafte“ an den Dingen bemerken? Auf jeden Fall bestünde die Welt dann eher aus Individuen als aus Steinen.
  3. Wahrscheinlich würde das Kind schnell bemerken, dass ich nicht in der Lage bin, mir die Einzelnen Namen zu den Dingen zu merken, dass ich sie durcheinanderbringe und dass es also nicht die wirklichen Namen der Dinge sind. Aber das Beispiel zeigt, dass es keine „wirklichen Namen“ gibt. Doch dazu viel später, zu den Dingen, die Namen haben, kommen wir erst am Ende dieser Untersuchung.
  4. Es kommt darauf an, bei jeder Erkenntnis, die wir hier finden, zu fragen, ob eine menschliche Welt denkbar ist, in der diese Erkenntnis nicht möglich wäre und vielleicht eine andere Erkenntnis an ihrer Stelle stünde. In diesem Falle: Was hat es für Konsequenzen, dass ich als Erwachsener das Kind lehre, dass dies ein Stein sei, ein Stein von vielen, dass ich immer wieder „Das ist auch ein Stein“ sage, wenn mir das Kind individuelle Dinge zeigt? Was hat es für Konsequenzen, dass die Welt in solche Dinge unterschieden wird, die nur das Gleiche sind wie andere Dinge, und  solche, die einzelne Namen haben und somit individuelle Individuen sind? Was unterscheidet eine Welt, in der die Dinge, die ich kenne, vor allem Dinge unter anderen gleichen Dingen sind, von einer Welt, in der die Dinge vor allem individuell sind?
  5. Es ist eine menschliche Welt denkbar, die aus individuellen Dingen besteht und aus der übrigen Welt, die wiederum ein Ganzes ist. Wahrscheinlich können wir uns keine Welt vorstellen, aus der der menschliche Verstand nicht einzelne Dinge herauslöst und als Einzelne betrachtet und erlebt. In diesen Sätzen sind schon sehr viele Begriffe enthalten, die noch unklar sind.
  6. Wir wollen einen Ansatz finden, der sich bewusst ist, auf dem Fundament einer gewissen bestimmten Denktradition zu stehen, der aber aus dieser Perspektive heraus über sich selbst hinausfragen will. Ich kann nicht so tun, als sei das abendländische Denken nicht viel tiefer in mir sedimentiert als irgendwelche anderen Denkweisen, die es womöglich gibt. Schon, wenn ich „Denkweise“ schreibe, habe ich einen abendländischen Begriff vom Denken, von Vernunft und Weltverstehen angesetzt, von welchem aus ich auf Anderes sehe. Also will ich gar nicht erst versuchen, dieses Denken abzuschütteln, aber ich will versuchen, herauszufinden, ob es Alternativen gibt, ob diese Welt auch anders erlebt werden kann. „Menschliche Welt“ bedeutet genau so ein Erleben.
  7. Die Welt könnte, so will ich einmal annehmen, nur als Ganze, ungeteilte, un-aufgeteilte erlebt werden. Alles wäre unbegrenzt, alles in allem enthalten, nichts von anderem unterschieden. Natürlich kämen aus verschiedenen Richtungen dieses Ganzen unterschiedliche „Reize“, würden unterschiedliche „Wahrnehmungen“ ausgelöst. Aber dies muss nicht zwingend zur Aufteilung in unterschiedliche Dinge führen. Die Welt kann aus dieser Richtung warm und aus jener Richtung kalt sein und dazumischen gibt es mehr oder weniger allmähliche Übergänge.
  8. Dennoch wird es immer Individuelles geben, Dinge, Individuen. Das scheint in der Tat nicht anders möglich für Menschen, und das liegt daran, dass die menschliche Praxis Handhabung ist. Handhabung: Ich habe Hände. Meine Welterfahrung beruht nicht zuerst auf dem Sehen, sondern auf dem Berühren, ergreifen und behandeln. Mit dem Zugreifen mache ich einen Teil der Welt zu etwas individuellen, ich greife es heraus. Erst dann „führe ich es mir vor Augen“, ich rieche, lecke daran, ich höre die Geräusche, die es macht. Nach der Tasterfahrung, dem Spüren der Schwere des Dings, kommen die übrigen Sinne ins Spiel, aber sie sind immer an die Handhabung gebunden, denn durch das Drehen und Wenden, das Stoßen und Schütteln des Dings erlebe ich die visuellen, akustischen und sonstigen Eigenschaften des Dings.
  9. Ein aus der Welt herausgegriffenes Ding ist also immer individuelles Erlebnis eines komplexes von Erfahrungen aller Sinne, angeleitet durch die Handhabung. Es scheint dem Menschen, egal in welcher Kultur er lebt, nicht möglich, Dinge nicht aus der Welt herauszugreifen und durch Handhabung zu erkunden. Durch dieses erste Handeln werden Dinge vor dem Horizont der Welt erlebt.

Ein Gedanke zu „Die Dinge“

  1. „Meine Welterfahrung beruht nicht zuerst auf dem Sehen, sondern auf dem Berühren, ergreifen und behandeln. Mit dem Zugreifen mache ich einen Teil der Welt zu etwas individuellen, ich greife es heraus. Erst dann „führe ich es mir vor Augen“, ich rieche, lecke daran, ich höre die Geräusche, die es macht. Nach der Tasterfahrung, dem Spüren der Schwere des Dings, kommen die übrigen Sinne ins Spiel, aber sie sind immer an die Handhabung gebunden, denn durch das Drehen und Wenden, das Stoßen und Schütteln des Dings erlebe ich die visuellen, akustischen und sonstigen Eigenschaften des Dings…“ Ich stimme mit Ihnen überein, wenn das Blindsein gemeint ist. Sehen jedoch ist Voraussetzung für individuelles Auswählen…“führe ich es mir vor Augen“ würde ich so umformulieren…“meine Augen führen mich zu den Dingen“…dann kommen die Tastsinne als erfahrende Bereicherung hinzu.

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