Ein Beispiel: eine Person kann einmal sagen „ich weiß, dass ich den Nachrichten der ARD vertrauen kann“ und ein andermal kann die gleiche Person sagen: „auch den Nachrichten der ARD kann man nicht trauen“. Möglicherweise wird sie die beiden Sätze nicht im gleichen Gespräch äußern, vielleicht wird sie die Sätze mit Worten wie „vollständig“, „meistens“ oder mit Floskeln wie „in gewissem Umfang“ oder „ zunächst mal“ anreichern. Aber befragt, in welcher Hinsicht die eine Aussage und in welcher die andere Aussage gilt, wird die Person keine genaueren Angaben machen können. Sie wird vielleicht Beispiele geben, die sich aber nicht genau bestimmten Klassen von Erfahrungen oder Situationen zuordnen lassen. Die Beispiele haben eher illustrierenden Charakter, als dass sie zu einer Differenzierung von Situationen und Hinsichten beitragen würden. Die Person wird sagen, dass genau in diesem Widerspruch die Wahrheit über die Vertrauenswürdigkeit des Senders liege. Viele Menschen werden das Argument dieser Person verstehen und nachvollziehen können, sie werden sagen, dass sie die Sache genau so sehen. Der Versuch, die Fälle klar zu unterscheiden, in denen der eine Satz oder der andere Satz wahr ist, scheitert, die betroffenen Personen werden sagen, dass die Klassifizierung keine größere Wahrheit bringt, dass sie sich eher von der Wahrheit entfernt.
1. Logik als philosophische Disziplin ist zunächst ein deskriptives Unternehmen, wenn sie fragt, wie es möglich ist, dass Menschen über die Wahrheit von Aussagen, die in Beziehung zu anderen Aussagen treten, Gewissheit erlangen. Jedes konkrete logische System, welches man aus einer gelungenen sprachlichen Kommunikation über Sachverhalte ableiten kann, muss man ja daraufhin befragen, wie es seine Regeln rechtfertig, warum die Regeln, die es benutzt, für tatsächliches sprachliches Schlussfolgern zur Norm werden sollten.
2. Die Menschen kennen im Alltag viele Möglichkeiten, einen Sachverhalt als gewiss anzusehen. Die Anwendung formaler Schlussregeln, wie man sie aus der formalen Logik kennt, ist nur ein Weg, die Wahrheit von Aussagen auf die Wahrheit anderer Aussagen zurückzuführen. Andere Wege können etwa die Argumentation mit einsichtigen Beispielen (intuitives Schließen von einem demonstrierenden Beispiel auf das Wesen einer Sache und damit auf ein Allgemeines) oder die Erhellung eines Sachverhaltes durch Begriffsklärung oder durch künstlerische Präsentation sein.
3. Das formale Schlussverfahren ist auf einen engen Bezirk der menschlichen Praxis beschränkt, in der Alltagslogik kommt es quasi nicht vor. Das macht die Alltagslogik nicht defizitär, sie muss nicht formal werden, um erfolgreich zu sein. Erfolgreich meint hier ausdrücklich nicht, dass man im Alltag irgendwie damit zurecht kommt, sondern dass die Alltagslogik tatsächlich zwischen Sprechern zu einem Konsens über die Wahrheit von Aussagen führen kann, der stabil ist und von anderen Sprechern ebenfalls mit guten Gründen eingefordert werden kann.
4. Formale Logik geht von Prämissen und Schlussprinzipien aus. Warum die Prämissen und die Schlussprinzipien zu akzeptieren wären, kann sie gerade nicht erklären. Schaut man sich die Begründungsversuche dazu genauer an, sieht man oft Figuren, die eigentlich von den Autoren, wenn sie die Logik mit normativer Absicht präsentieren, vorgeblich gerade bekämpft werden sollen. So wird etwa auf die lange und erfolgreiche Geschichte verwiesen, auf die Anwendung in den strengen Wissenschaften. Dies sind jedoch Autoritätsbegründungen. Andere Begründungen sind bei genauer Betrachtung ad-hoc-Setzungen.
5. Wittgenstein hat in Über Gewissheit zu recht darauf hingewiesen, dass uns nicht einzelne Behauptungen, sondern ein Netz von Aussagen, die sich gegenseitig halten, einleuchten. Dies könnte auch für die formale Logik gelten, in der das, was als Prämisse oder grundlegende Schlussweise angesehen wird, letztlich durch die vielen plausiblen Schlussfolgerungen, die sich daraus gewinnen lassen, gehalten wird. Dann wird natürlich unklar, was Prämisse und was Folgerung ist – aber das muss die Sache nicht schlechter machen.
6. Logik ist die Beschreibung des vernünftigen Denkens und Sprechens. Aber vernünftig heißt eben nicht logisch formal korrekt und basierend auf einem Set von grundlegenden, angeborenen Axiomen. Auch der Satz vom ausgeschlossenen Dritten ist nicht selbstverständlich.
7. Vernünftiges Denken und Sprechen heißt, dass der Sprecher akzeptiert, dass er Gründe für seine Überzeugungen angeben können muss. Er muss akzeptieren, dass die Begründungen einer Kritik unterzogen werden, er muss bereit sein, seine Begründungen zu begründen. Die Weise der Begründung kann höchst unterschiedlich sein, und so gibt es eine Vielzahl von Logiken.
8. Eine politische Philosophie muss von einer solchen Vielzahl von Logiken ausgehen. Gefordert werden darf niemals ein bestimmtes Schlussverfahren, sondern nur die Bereitschaft zur Begründung, wobei sich in der Begründung die spezielle Logik des Sprechers erst zeigt.
9. Allerdings kann kein Sprecher seine ganze Logik selbst explizit aussprechen. Dass er seine Logik nicht beschreiben kann, heißt nicht, dass er keine hat. Deshalb kann es in einer demokratischen Gesellschaft gerade nicht ein Ausgrenzungskriterium sein, dass die Rede des Anderen nicht „logisch“ sei oder dass er sich nicht an Regeln einer irgendwie gesetzten Logik hält.