Was ist die Prüfinstanz der phänomenologischen Beschreibung? Folgt man Husserl, dann ist es die Nachvollziehbarkeit dessen, was die Beschreibung sichtbar macht, durch andere. Eine phänomenologische Beschreibung soll etwas sichtbar machen, und sie tut dies zunächst für den, der das Phänomen zu sehen vermeint und es beschreibt. Die Beschreibung hat das Ziel, das Phänomen bei anderen ebenfalls deutlich vor Augen treten zu lassen. Phänomenologie ist in so fern auf der einen Seite ein einsames Geschäft, da es immer der einzelne Phänomenologe ist, der durch Reflexion auf seine Bewusstseinsinhalte und durch kritische Analyse dieser Inhalte zu einer Beschreibung von Phänomenen gelangt. Indem er diese aber aufschreibt und ins phänomenologische Gespräch bringt, setzt er sie der Überprüfung durch andere reflektierende Personen aus – erst in diesem Gespräch bewährt sich die phänomenologische Beschreibung.
Das Phänomenologische Gespräch
Die Dynamik dieses Gesprächs und sein Beitrag zum Gewinnen der Phänomene ist vermutlich noch nicht genügend gewürdigt und selbst noch nicht zur Genüge beschrieben worden. Wahrscheinlich wäre es nötig, einen Phänomenologie des phänomenologischen Gesprächs selbst zu verfassen um sichtbar zu machen, wie die Phänomenologie zu gerechtfertigten Beschreibungen ihrer Gegenstände gelangt. Das kann und soll hier im folgenden noch nicht geleistet werden. Vielmehr soll ein solches Gespräch aufgenommen werden, auch wenn der, dessen phänomenologischer Gedankengang aufgegriffen wird, sich selbst nicht mehr äußern kann.
Phänomenologische Beschreibungen laufen schnell Gefahr, eine Suggestionswirkung zu entfalten. Gerade wenn ihre Begriffe aus einer fundamentalen Kritik des oberflächlichen Scheinens gewonnen werden, und wenn sie zudem eine unbestimmte Kritik an der Oberflächlichkeit des alltäglichen Weltverstehens zu einer klaren Begründung in einem phänomenologischen Verstehen zu führen scheinen, sieht man allzu schnell und nachsichtig über Schwachstellen hinweg, weil sich insgesamt alles so schön in ein konsistentes Konzept fügt.
So geschieht es auch bei Martin Heideggers „Sein und Zeit“. Das ist bedauerlich, weil Martin Heidegger in seiner Phänomenologie des Daseins ein gewaltiges Bild geschaffen hat, das aber doch schon an einem frühen Punkt einen wesentlichen Aspekt des tatsächlichen Daseins verfehlt und deshalb in die Irre geht.
Analyse der Alltäglichkeit
Heidegger möchte das Dasein in seiner alltäglichen Durchschnittlichkeit ins Zentrum der Analyse rücken, er will das Dasein beschreiben, wie es zunächst und zumeist in der Welt ist. Das ist, wenn wir uns vor Idealisierungen des Menschen hüten wollen, denen die Menschen nur in Ausnahmefällen und selten gerecht werden können, wenn wir den Menschen also nicht so, wie er sein könnte oder sein sollte, sondern so, wie er tatsächlich ist, in den Blick bekommen wollen, grundsätzlich ein sinnvoller Ansatz. Viel zu oft und viel zu lange hat die Philosophie, wenn sie vom Menschen sprach, ein Traumbild konstruiert, welches im Alltag nur selten aufgefunden wird, und dieses dann zum Wesen des wahren Menschen stilisiert.
Richtig ist also, beim Alltag anzusetzen bei der Analyse des Daseins. Fraglich allerdings ist, ob dieser Alltag durch eine Durchschnittlichkeit, durch ein zunächst und zumeist gekennzeichnet ist.
Das soll keineswegs bedeuten, dass jeder Mensch „etwas Besonderes“ oder „etwas Einzigartiges“ sei, und dass die Philosophie der Alltäglichkeit einer solchen Einzigartigkeit Rechnung zu tragen hätte. Fraglich ist, ob die Alltäglichkeit durch Durchschnittlichkeit bestimmt ist.
Die Person, die uns im Alltag begegnet, begegnet uns zunächst in einer Rolle, und die Person, als die je ich selbst den anderen im Alltag begegne, spielt dort ebenfalls eine Rolle. Ich bin nicht der, den „man“ erwartet, ich spiele die Rolle, die man erwartet. Die alltägliche Begegnung mag bei der Arbeit stattfinden, beim Einkaufen, auf dem Weg, in der Freizeit, mit Freunden, im politischen Engagement.
Es war selbstverständlich schon zu Heideggers Zeiten so und ist bis heute so geblieben (ich will damit nicht sagen, dass es „schon immer“ so war und „auch immer“ so sein wird), dass das Dasein darin besteht, in den verschiedenen Situationen des Alltags verschiedene Rollen zu spielen, die Rollen, die „man“ in diesen verschiedenen Situationen eben erwartet. Diese Rollen sind aber bei je zwei Personen niemals die gleichen. Zwei Arbeitskollegen haben verschiedene Freizeitaktivitäten und verschiedene politische Überzeugungen, sie haben unterschiedliche Familienstrukturen und -Verpflichtungen und ein unterschiedliches Wohnumfeld.
Man könnte zunächst vermuten, dass dies die Daseinsanalyse von Heidegger ganz unberührt lässt, weil die verschiedenen Ansprüche, die das Man an das Dasein in den verschiedenen Situationen des Alltags stellt, miteinander nichts zu tun hätten und sich nicht störten. Das ist aber aus zwei Gründen falsch.
Streit statt Gerede
Zum einen begegnen uns die verschiedenen Rollen, die eine Person spielt, in jeder Alltagssituation mit. Der Arbeitskollege ist politisch aktiv und will deshalb mit seinen Kollegen, die sich für Fußball interessieren, über die Tagesnachrichten streiten. Das, was Heidegger das „Gerede“ nennt, wird dadurch zum Streit, welcher das ganze Verhältnis der betreffenden Personen stören kann. Es kann sich gar kein Man ausprägen, das das Sprechen und Handeln der Kollegen bestimmt. Ich sehe mich gerade nicht in den anderen, da ihre unübersehbare Prägung durch Rollen jenseits der aktuell vordringlichen Rolle mich von der Identifikation abhält. Ich bin auf mich selbst geworfen.
Zum anderen lassen sich die Rollen eben nicht konfliktfrei zusammenbringen, sodass eine Dominanz und Bestimmung durch das jeweilige Man eben nicht möglich ist. Der Arbeitskollege ist Familienvater und muss rechtzeitig am Kindergarten sein, die Kollegin muss ihr demente Mutter pflegen, die andere hat Verpflichtungen bei der Gewerkschaft. Ständig treten die verschiedenen Ansprüche, die das Man der verschiedenen Rollen an das Dasein stellt, miteinander in Konflikt.
Somit kann es keine Daseinsanalyse der Durchschnittlichkeit des Zunächst und Zumeist geben. Diese ist gerade nicht das Bestimmende Moment der Alltäglichkeit. Die Heideggersche Daseinsanalyse muss also von einer Neubestimmung der Alltäglichkeit aus neu geschrieben werden.