Vernünftig streiten heißt, die Frage nach dem Grund einer Meinung oder einer Erwartung zu akzeptieren und bereit zu sein, Gründe anzugeben. Das reicht aber noch nicht: Die Gründe müssen für den, dem sie gegeben werden, als Grund akzeptabel sein. Das heißt nicht, dass er ihnen zustimmen muss, dass er sie als richtig ansehen muss. Sie müssen ihm nicht einleuchten, er kann sie bestreiten, aber sie müssen überhaupt als Gründe in Frage kommen. Sie müssen irgendetwas mit der geäußerten Meinung zu tun haben, was sie als Begründung in frage kommen lässt.
Ein Beispiel: Alice sagt zu Bob, dass sie fürchtet, dass Donald Trump auch die nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnen wird. (Hinweis: dieser Text ist zuerst im November 2018 erschienen und wird hier unverändert wiedergegeben.) Bob fragt sie daraufhin, warum sie das befürchtet. Stellen wir uns folgende Antwortmöglichkeiten vor:
„Ich habe heute Nacht geträumt, dass das passiert!“
„Immer, wenn es zu den Midterm-Wahlen in Europa mild war, hat der amtierende Präsident die nächsten Wahlen gewonnen!“
„Ich glaube, die Amerikaner sind einfach dumm!“
„Obwohl der Trump so viel Mist macht, hat er so viele begeisterte Anhänger!“
Es mag sein, dass Bob einige dieser möglichen Antworten als Begründung akzeptiert. Das bedeutet noch nicht, dass er ihnen zustimmt, dass sie ihn überzeugen. Ohne weitere Informationen über Alice und Bob ist es zudem schwer, zu entscheiden, welche dieser Antworten für Bob als Grund für Alices Befürchtung akzeptabel sind. Das hängt zunächst auch davon ab, wie nah Alice und Bob sich sind und was Bob bereits über Alice weiß. Begegnen sie sich zum ersten Mal in einer Facebook-Diskussion oder sind sie seit Jahren miteinander verheiratet und haben sie die letzten Abende miteinander verbracht? Im ersten Fall wird der Verweis auf den Traum irrational klingen, im zweiten Fall kann es sein, dass Bob sich daran erinnert, dass sie beide am Abend zuvor gemeinsam eine Fernsehsendung über die politische Situation in den USA gesehen haben.
Notwendige Gemeinsamkeiten
Daraus ergibt sich eine zweite These über das vernünftige Sprechen: Vernünftig ist, Gründe so anzugeben, dass man vermuten kann, dass der Adressat meiner Aussage den Grund als Begründung akzeptieren kann. Alice verhält sich vernünftig, wenn sie überlegt, welche Begründung Bob überhaupt verstehen kann. Zu ihrem Mann kann sie sagen: „Ich habe das geträumt“, weil der die Chance hat, diese Information so in sein Wissen über Alice einzubauen, dass der Traum als Grund für die Sorge verständlich wird. In einer Facebook-Diskussion wird dies fragwürdig sein.
Wir halten an dieser Stelle mehrere Fäden in der Hand, die wir einzeln verfolgen müssen, um die Grundsätze des logischen Sprechens zu verstehen. Diese Fäden werden sichtbar, wenn wir die Situation des Ehepaars mit der der Facebook-Diskussion genauer vergleichen.
Zunächst: Jede vernünftige Diskussion setzt voraus, dass die Teilnehmenden gewisse Gemeinsamkeiten haben (oder wenigstens vermuten, dass diese Gemeinsamkeiten bestehen). Vernünftig ist, sich bei einer Äußerung oder spätestens beim Begründen der Äußerung, diese Gemeinsamkeiten in Erinnerung zu rufen und wenigstens zu überlegen, ob auf Basis der Gemeinsamkeiten der Grund, den man angeben will, als Begründung akzeptabel sein kann.
Dann: zumeist muss zwischen der Begründung und dem, was begründet werden soll, eine Brücke gebaut werden. Das Baumaterial dieser Brücke sind die Gemeinsamkeiten, die Bob und Alice haben. Die Brücke wird in unserem Fall von Bob gebaut, er schließt die Lücke zwischen der Begründung und der Aussage aus dem Fundus der Gemeinsamkeiten. Wie und warum das geschieht, werden wir später zu betrachten haben. Auf jeden Fall ist die Bereitschaft, sich am Bau dieser Brücke zu beteiligen, von der Diskussionssituation abhängig. In Facebook-Diskussionen mit Fremden wird sie weit weniger vorhanden sein, als unter guten Freunden.
Schließlich: Die Frage nach dem Warum kann im Falle einer Befürchtung drei verschiedene Bedeutungen haben: Warum vermutest du das, was dir Sorgen macht? Warum macht es dir Sorgen? Und: Warum sprichst du die Sorge aus? In unserem Beispiel: Alice hat am Abend zuvor eine Sendung gesehen, die die Zustimmung zu Trumps Politik zeigt. Daher kommt es, dass sie seine Wiederwahl für möglich hält. Es macht ihr Sorgen, weil sie die Politik Trumps für gefährlich hält. Sie spricht darüber, weil sie hofft, dass Bob ihre Sorgen entkräften kann, weil sie mit ihm über Konsequenzen für ihr Leben reden will, oder weil sie einfach gern über Politik spricht. Gerade der letzte Aspekt ist wichtig, wenn wir Diskussionen mit Fremden und solche mit guten Freunden miteinander vergleichen. Oft meint man, dass Menschen, wenn sie mit ganz Fremden diskutieren, bestimmte Ziele der Beeinflussung verfolgen. In Diskussionen mit nahen Freunden sucht man hingegen vielleicht eher Klärung oder Anteilnahme.
Das Prinzip der Nachsichtigkeit
Wenn wir für ein vernünftiges Sprechen voraussetzen, dass sowohl der, der spricht und Gründe angeben soll, als auch der, der die Gründe fordert, gewisse Gemeinsamkeiten vermuten müssen, dann kommt ein weiteres Prinzip des vernünftigen Sprechens ins Spiel: Das der Nachsichtigkeit.
Um zu verstehen, warum ich hier von Nachsichtigkeit spreche und was damit gemeint ist, muss kurz die Herkunft des Begriffs erläutert werden. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts ist dieses Prinzip durch die Philosophen Willard Van Orman Quine und Donald Davidson bekannt geworden. Quine zitiert in Word and Object Wilson und kennzeichnet dessen Prinzip im Englischen als „principle of charity“. Diesen Begriff übernimmt Davidson in seinen Aufsätzen in dem Band Truth and Interpretation. Joachim Schulte, der beide ins Deutsche übersetzt hat, übersetzt „charity“ mit „Nachsichtigkeit“. Was ist aber wirklich gemeint?
„charity“ kommt von „caritas“, und „caritas“ ist das lateinische Wort für das altgriechische „agape“. Agape ist die uneigennützige, schenkende Menschenliebe, das gegenseitige Wertschätzen, die Gewissheit, dass das gute Leben im gemeinschaftlichen Zusammenwirken gefunden wird, in dem jede und jeder Quelle eigener Erkenntnis ist. Agape ist auch das gemeinschaftliche Mahl, zu dem alle Speisen und Getränke mitbringen und sich gegenseitig bewirten.
Ursprünglich ist also agape nicht das, was wir heute unter Caritas verstehen oder was wir meinen, wenn wir von Charity-Veranstaltungen reden, wo der Reiche großzügig dem Armen gibt. Agape ist ein Prinzip der Gegenseitigkeit. Auf den Erkenntnisprozess bezogen heißt es: Jede wahrhaftige Äußerung, wenn ich sie richtig verstehe, ist Quelle für meine Erkenntnis, Einsicht und für mein Verständnis der Sache.
Quine geht es in Word and Object um die Frage, wie man Bedeutungen von Sätzen verstehen kann, die in einer fremden Sprache formuliert sind oder die (in meiner eigenen Sprache) einen Gebrauch von Wörtern machen, der mir unverständlich ist. Er schreibt: „Die durchaus vernünftige Annahme, die hinter dieser Maxime steckt, ist, dass die Dummheit des Gesprächspartners über einen bestimmten Punkt hinaus weniger wahrscheinlich ist als eine schlechte Übersetzung oder – im einzelsprachlichen Fall – abweichendes Sprachverhalten.“ (Wort und Gegenstand. Stuttgart 1980. Seite 115) Darauf folgt die Fußnote, die auf Wilson verweist und den Namen „principle of charity“ verwendet. Auf diese Stelle wiederum verweist Davidson, wenn er in seinen Aufsätzen das Konzept des „principle of charity“ eingehend betrachtet und weiterentwickelt.
Genau daran knüpfe ich hier an. Wenn ich im Weiteren von Nachsichtigkeit spreche, ist nicht die Nachsicht des Klugen mit dem (noch) Dummen gemeint, sondern der bescheidene, demütige Umgang mit dem erreichten Stand des gegenseitigen Verstehens. Nachsichtig ist jeder dabei vor allem auch mit sich selbst. Nachsichtigkeit im Sinne von Agape bedeutet zudem, dass jeder den anderen als Spendenden versteht und am Gelingen des gemeinsamen Verstehens (wie eines gemeinsamen Mahls) mitwirken möchte. [1]
Die Nachsichtigkeit ist mit der Wahrhaftigkeit verwandt, die im ersten Teil dieser Reihe eingeführt wurde. Wenn ich voraussetze und vermute, dass mein Gesprächspartner wahrhaftig ist, dass er nicht lügt und dass er das zu sagen beabsichtigt, wovon er wirklich überzeugt ist (oder was er vermutet, befürchtet, erhofft,…), dann folgt selbstverständlich, dass wir nachsichtig miteinander sein müssen, wenn wir Aussagen nicht verstehen oder seine angegebenen Gründe nicht akzeptieren können. Nachsichtigkeit bedeutet, dass jede beteiligte Person versucht, die Brücke zwischen Begründung und Aussage zu bauen, die fehlt, um den Grund als Begründung verstehen und akzeptieren zu können. Nachsichtigkeit bedeutet, dass wir die Gemeinsamkeiten suchen oder erst herstellen, die fehlen, um die Verbindung zwischen Grund und Aussage herzustellen. Wie das vernünftig möglich ist, wird in den nächsten Folgen zum Thema werden.
Das Prinzip der Nachsichtigkeit umfasst aber mehr als das Schließen der Lücke zwischen der geäußerten und gehörten Meinung und ihrer Begründung. Es bedeutet vor allem auch zu versuchen, in jeder Äußerung und auch in der Art der Äußerung den gemeinten Sinn zu verstehen. Ein Beispiel:
Alice sagt: „Politikern kann man nicht trauen.“ Und gleich darauf verkündet sie: „Die Angela Merkel ist ein ehrlicher Mensch, der vertraue ich.“[2]
Ohne das Prinzip der Nachsichtigkeit würde Bob hier möglicherweise darauf hinweisen, dass die beiden Sätze sich widersprechen und würde darauf bestehen, dass Alice ihre Formulierungen so abändert, dass dieser Widerspruch verschwindet. Da Bob aber dem Prinzip der Nachsichtigkeit folgt, wird er erkennen können, dass gerade in diesen beiden Sätzen zusammen, die ja beide Meinungen von Alice zum Ausdruck bringen, eine vernünftige, begründbare Sicht von Alice auf die politische Wirklichkeit zum Ausdruck kommt. Diese Sicht kann am besten in zwei Sätzen zum Ausdruck gebracht werden, die widersprüchlich erscheinen, wenn man sie auf formale Logik zu reduzieren versucht. In einer Logik der Meinungen und des alltäglichen Gesprächs sind die Sätze aber sinnvoll miteinander vereinbar.
Wir werden uns diese Logik, die man sicherlich als nachsichtiger Gesprächspartner auch intuitiv erfassen kann, noch detaillierter ansehen. Hier mag es genügen, sich zu vergegenwärtigen, dass der erste Satz, als Erwartung verstanden, bedeutet: „Jedem Politiker, von dem ich zum ersten Mal etwas höre, begegne ich mit Misstrauen.“ Während der zweite Satz verstanden werden kann als „Angela Merkel hat sich bisher auch als Politikerin als vertrauenswürdig erwiesen und ich hoffe, dass das so bleibt“. Bob als nachsichtiger Gesprächspartner wird vielleicht nachfragen, ob Alices Aussagen auf diese Weise miteinander zu vereinbaren sind. Er wird aus beiden Aussagen zusammen erkennen, dass Alice von Politikern grundsätzlich keine Ehrlichkeit erwartet und wohl auch der Meinung ist, dass vernünftig ist, Politikern zu misstrauen, dass sie gleichwohl Fälle gelten lässt, in denen Vertrauen möglich und angemessen ist. Aus den widersprüchlich erscheinenden Aussagen kann Bob über die reinen Tatsachenbehauptungen hinaus einiges weitere über Alice lernen, was für das weitere Gespräch zu politischen Themen wertvoll sein wird: Alice würde sich wünschen, dass Politiker ehrlicher sind, und sie hält das nicht für ausgeschlossen, wie sie bei Angela Merkel zu sehen meint.
Nachsichtig sein heißt keineswegs, dem Gesprächspartner Widersprüchliches oder Unverständliches einfach durchgehen zu lassen, weil man ihm nicht wehtun will oder keinen Streit provozieren möchte. Es bedeutet, zunächst einmal anzunehmen, dass das, was widersprüchlich klingt, gerade durch die widersprüchliche Formulierung einen Sinn hat, der sich in Aussagen, die keine Widersprüche enthalten, nicht ohne weiteres ausdrücken lässt. Wenn man diesen Sinn nicht versteht, kann man nachfragen, und wenn man ihn zu verstehen glaubt, aber nicht sicher ist, ebenfalls. Ebenso gehört zur Nachsichtigkeit, für Schlussfolgerungen, die man nicht nachvollziehen kann, nach den fehlenden Gemeinsamkeiten zu suchen, bevor man den Zusammenhang ganz verwirft.
[1] Lesenswert ist dazu der Paragraph 13 von Willard Van Orman Quines Buch „Wort und Gegenstand“, welches als Reclam-Band erschienen ist, sowie der Aufsatz-Sammelband „Wahrheit und Interpretation“ von Donald Davidson, erschienen als Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft.
[2] Ein ähnliches Beispiel führt Catherine Z. Elgin in ihrem neuen Buch „True Enough“ (Seite 21f) an: Eine Person kann aus ihrer bisherigen Erfahrung und aus allem, was sie bisher gelernt hat, davon überzeugt sein, dass alle Schlangen giftig sind und trotzdem akzeptieren, dass die Strumpfbandnatter, der sie in Maine begegnet, harmlos ist. Sie kann sich dazu bringen, darauf zu verzichten, jedesmal um Hilfe zu rufen, wenn sie ein solches Tier sieht. Ihre Meinung über Schlangen überhaupt stellt sie deshalb nicht in Frage (was auch vernünftig ist). Und vermutlich wäre sie auch nicht überrascht, wenn jemand eines Tages von einer Strumpfbandnatter gebissen wird und tot umfällt. Elgin liefert in ihrem Buch eine umfassende Beschreibung von Arten, etwas als gegeben anzunehmen. Dabei kann es einige Dinge geben, von denen man sogar weiß, dass sie falsch sind, die man aber trotzdem akzeptiert, weil sie den Erkenntnisprozess voranbringen (bestimmte Modelle in den Wissenschaften z.B.)
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