Einleitung
Wir leben in einer christlich geprägten Gesellschaft. Seit rund 2.000 Jahren bestimmt die christliche Religion die Traditionen, den Rhythmus der Arbeitswoche, die Feiertage, die Redewendungen. Bedeutende Kunstwerke sind von christlichen Motiven geprägt, die beeindruckende Architektur in den Städten überall in Europa verdankt ihre Entstehung und ihr Aussehen der Anbetung des christlichen Gottes. Unsere moralischen Grundsätze fassen wir, ob wir gläubige Christen sind oder nicht, in Worte, die der Heiligen Schrift dieser Religion entnommen sind.
Das Christentum hat seinerseits diese Traditionen nicht frei erfunden. Sie sind, egal, ob es die Feiertage, die Formen in Kunst und Architektur oder die moralischen Grundsätze sind, aus der vorgefunden Kultur übernommen und weiter entwickelt worden. Wurden auch alte Götter gestürzt, so waren die Rituale und Kulte der gewachsenen Religionen doch immer reiche Quellen der Ausgestaltung des Christentums. Das gilt sowohl für die Zeit, in der das Christentum neu entstand, als auch überall da, wo es sich im Laufe der Jahrhunderte ausbreitete.
Das ist den christlichen Kirchen gar nicht vorzuwerfen, auch wenn manche Religionskritiker ihnen die Übernahme von Kulten und Traditionen in die eigene Religion gern ankreiden. Auch in den bestehenden Riten und Festen kommt ja schon der Kern der Religiosität der Menschen zum Ausdruck. Eine neue Religion wischt nicht alles beiseite, was den Menschen heilig und bedeutsam war, sondern sie erneuert den Kult, stellt ihn sozusagen auf einen neuen Boden und entsprechend der eigenen Sicht auf die Welt vom Kopf auf die Füße. Die Vorstellungen darüber, was Kopf und was Fuß ist, welche Bedeutungen die Rituale haben sollen, wie das Heilige vorzustellen, anzusprechen und zu verehren ist, entwickeln sich dabei natürlich weiter.
Heute geht der Einfluss der christlichen Kirchen gerade da stetig zurück, wo sie in den letzten zwei Jahrtausenden besonders prägend waren. Mit dem Gottesglauben, so wie er vom Christentum verstanden wird, können sich immer weniger Menschen identifizieren. Die Naturwissenschaften haben die Vorstellungen von Gott und Jenseits fragwürdig gemacht. Damit sind auch alle moralischen Normen, die das Christentum mit Bezug auf diesen Gottesglauben gesetzt hat und noch immer setzt, fragwürdig geworden. Diese Probleme hätte eine kluge Theologie vermutlich lösen können, wenn nicht gleichzeitig offenbar geworden wäre, dass die Kirchen als Institutionen nicht einmal in ihrem Innern in der Lage waren, die moralischen Grundsätze, die sie predigten, auch sicherzustellen. Von den großen, allgemeinen und abstrakten Begriffen wie Nächstenliebe, Güte, Vergebung und Demut bis hin zu den kleinen konkreten Einzelnormen ist die Liste der Verstöße und Verfehlungen kirchlicher Würdenträger lang. Damit, dass in der demokratischen Öffentlichkeit diese Missstände weder zu verheimlichen noch totzuschweigen waren, verlor die strenge Kirche ihre Legitimation, in moralischen Dingen in irgendeiner Weise eine besondere Autorität zu beanspruchen.
Das ist auch völlig in Ordnung. Die Situation gleicht nicht zu Unrecht gerade solchen historischen Momenten, in denen neue Bewegungen entstanden, die versuchten, ihre Religiosität gerade vor denen zu schützen, die sich in den Tempeln oder Kathedralen anmaßten, moralische Gesetze zu bestimmen, an die sie sich selbst nicht halten wollten, Vorschriften, die für die einfachen Menschen nur eine unerträgliche und unverständliche Last geworden waren, weil sie im Alltag schlicht nicht eingehalten werden konnten und zudem unsinnig waren. In einer solchen Situation befanden sich sowohl die urchristliche Gemeinde vor zweitausend Jahren als auch die ersten protestantischen Bewegungen innerhalb des Christentums.
Gegenwärtig ist die Meinung verbreitet, dass mit dem Reputationsverlust der alten Kirchen das Ende der Religionen überhaupt gekommen wäre. Warum haben die Menschen überhaupt immer wieder eine neue Religion und eine neue Kirche aus dem Bestehenden heraus geschaffen, warum haben sie die ganze Idee der religiösen Kulte, die von einer Kirche zelebriert und gepflegt werden, nicht längst lachend beiseite getan? Die Vermutung, dass eben erst wir heute so klug sind, zu erkennen, dass es keinen Gott und kein Jenseits gibt, dass alles erklärbar ist und dass es für Götter keinen Ort und keine Notwendigkeit gibt, greift zu kurz. Auch die alten Griechen hielten die Welt für erkennbar, auch unter ihnen gab es schon Denker, die die Existenz der Götter bestritten und dafür gute Gründe angeben konnten. Wir machen es uns zu leicht, wenn wir sagen, dass die Menschen in früheren Jahrtausenden eben einfach noch dümmer oder unwissender waren als wir, und erst wir heute so viel Wissen angehäuft hätten um beweisen zu können, dass es Götter nicht gibt oder dass sie wenigstens nicht gebraucht werden.
Auch ein zweites, häufig genanntes Argument ist nicht befriedigend, die Aussage nämlich, dass die Religionen und Kirchen nur als Machtinstrument der herrschenden Schichten gebraucht wurden, und dass die Kirchen als Wächter des Glaubens eigentlich die Funktion hätten, die Macht der Reichen und Herrschenden sicherzustellen. Diesem Argument nach wüssten die Mächtigen längst, das es keinen Gott und kein Jenseits gibt, hielten aber die große Masse in Dummheit und im Glauben an einengten Gott und ein seliges Leben nach dem Tode, um ihre diesseitige Macht zu bewahren.
Niemand bestreitet, dass die Kirchen in ihrer Geschichte zum Machtinstrument geworden sind, sowohl in der Hand der weltlichen politischen und ökonomischen Herrscher, als auch im Dienste der Kirchenoberen selbst. Aber ein Machtinstrument, das über Jahrtausende funktioniert, muss sich auf irgendein sehr festes Fundament bei den Beherrschten stützen, um aus der Macht des Wortes und der Religiosität heraus eine sichere Unterwerfung zu ermöglichen. Hinzu kommt, dass das Christentum nicht nur Unterwerfung, sondern auch Widerstand gegen die Mächtigen ermöglicht hat, aus ihrem Glauben heraus haben sich Menschen auch gegen Unterdrückung zur Wehr gesetzt, Kirche war nicht immer nur Unterdrückungswerkzeug, sondern oft auch Basis und Infrastruktur des Kampfes der Menschen gegen ihre Unterdrückung.
In einem ganz ursprünglichen und fundamentalen Sinn ist uns Menschen die Religiosität offenbar wesenseigen. Das bedeutet nicht, wie man manchmal meint, dass Spiritualität oder gar Mystik, oder der Wunsch nach schönen Ritualen in einem romantischen Sinn ein Bedürfnis sind, das die Religionen in den Kirchen befriedigen, so wie Rockbands und Fußballmannschaften in Stadien unser Bedürfnis nach gemeinsamen Erlebnissen befriedigen. Religiosität ist vielmehr die Weise, wie die Menschen als Gemeinschaft mit sich und der Welt überhaupt umgehen können, es ist die Methode, mit der wir uns selbst in die Gesellschaft integrieren und das Wirken in dieser Gesellschaft und aus ihr heraus in die Umwelt hinein verstehen und gestalten können.
Das mag, in einer Zeit, in der es gerade in den Welt der Aufklärung mit den Religionen und den Kirchen allmählich zu Ende zu gehen scheint, überraschend, ja vielleicht sogar absurd klingen. Aber machen wir uns klar, was Religiosität eigentlich bedeutet. Dazu müssen wir einerseits den Blick vom Christentum lösen und diejenigen Praktiken mit ansehen, die in anderen Traditionen entstanden sind und ebenfalls als religiös bezeichnet werden, andererseits müssen wir beim Christentum etwas genauer hinsehen und uns fragen, was beim Ausüben der Religion, wenn wir den Glauben an einen Gott und an ein Jenseits einmal ausklammern, eigentlich passiert.
Mit ihrer Religiosität versehen die Menschen ihre Welt mit Bedeutsamkeit. Das gilt für die Position jedes einzelnen Lebens innerhalb der Gemeinschaft als auch für das gemeinschaftliche Wirken in der Welt, für das Verstehen dieser Wirklichkeit, in der die Realität auf die Menschen wirkt so wie umgekehrt menschliche Praxis auf die Welt wirkt. Wir können diese Verwebung und Einwebung der Menschen in die Gemeinschaft und in die Welt nur verstehen, indem wir sie in ihrer Bedeutung begreifen. Die einzelnen Bedeutungen bringen wir in einen Bedeutungszusammenhang, der Geburt, Leben und Tod, die Regelmäßigkeiten des gemeinschaftlichen Lebens, die Differenzierungen innerhalb unserer gesellschaftlichen Einbindungen und die Wechselfälle und Ereignisse des Lebens einschließt. Religiosität bedeutet, diese Bedeutsamkeit gemeinsam verständlich und erfahrbar zu machen und damit „dem Ganzen“ einen Sinn zu geben, den wir akzeptieren können.
Eine so verstandene Religiosität wird mit dem wissenschaftlichen Fortschritt und den technischen Errungenschaften nicht überflüssig, denn diese können weder unserer Verbindung mit der Welt, noch der Verflechtung der einzelnen Person mit der Gesellschaft Bedeutung und Sinn geben, sie können uns vielleicht sagen, warum die Dinge so sind, wie wir sie vorfinden, aber nicht, warum wir die Dinge verändern sollen, sie können uns Werkzeuge zum Handeln geben, aber keinen Grund, aus dem heraus wir handeln sollten.
Das macht deutlich, dass Religionen nicht irgendein merkwürdiges Bedürfnis befriedigen, es geht nicht um Unterhaltung oder um Erbauung, nicht darum, sich gemeinsam ein paar schöne Stunden zu machen und dafür einige geeignete Anlässe zu finden. Es geht auch nicht darum, die Grundsätze einer christlich geprägten Moral in das nachchristliche Zeitalter hinüberzuretten, weil wir gemerkt haben, dass es für ein halbwegs gelungenes Zusammenleben der Menschen ganz sinnvoll sein kann, weiterhin an die zehn Gebote und die Bergpredigt zu denken. Wir sollten die Traditionen der nahen und fernen Religionsgemeinschaften gerade nicht wie einen Fundus nützlicher Regeln, einen Steinbruch für Lebens- und Moralbausteine betrachten, die wir geschickt und planvoll in unser modernes, gottfernes Lebensgebäude einbauen können.
Religiosität ist – auch wenn das immer noch befremdlich klingt – das Grundprinzip des menschlichen Weltverstehens, die Basis des sicheren menschlichen Handelns. So, wie sich die Alten Griechen, die im Zentrum ihrer Religion Geschichten einer komplexen Götterwelt hatten, sich wohl nicht vorstellen konnten, dass zur Religion ein einziger Gott ausreicht, so können sich Christen nicht vorstellen, dass Religiosität auch ganz ohne einen Gottesglauben möglich und sinnvoll sein kann. Aber die vieltausendjährige Geschichte der monotheistischen Religionen hat gezeigt, welche vielfältigen Ausprägungen mit dem Glauben an einen Gott möglich sind. Wie sich die Religiosität der Menschen in Zukunft weiter entwickelt, ist völlig offen, sicher scheint nur, dass wir am Beginn eines Umbruchs stehen, sicher scheint auch, dass Traditionen, Rituale, Geschichten und Symbole der alten Kirchen in die neuen Formen von Religiosität eingehen werden. Die folgenden Kapitel sollen zeigen, welche vielfältigen Anknüpfungspunkte da existieren, und was sich aus ihnen entwickeln kann, sie sollen nicht als Prognose oder Vorschau auf eine zukünftige Kirche verstanden werden.
Glauben, Religion und Kirche
Wir verwenden die Worte Glauben, Religion und Kirche oft synonym. Wenn wir von jemandem sagen, dass er religiös ist, dann meinen wir, dass er an einen Gott glaubt oder dass er einer Kirche angehört. Aber die drei Worte bedeuten nicht da gleiche und es ist sinnvoll, sich gerade die Unterschiede in den Bedeutungen klar zu machen, um herauszufinden, ob es auch Glauben ohne Religion und Religion ohne Glauben geben kann, und ob Kirchen nur möglich sind, wenn es einen Glauben gibt.
Glauben ist die Überzeugung, dass es etwas gibt, ohne dass wir uns selbst von seiner Existenz überzeugt hätten, sei es, durch direkte Anschauung oder sei es durch logische Schlussfolgerung aus solchen direkten Anschauungen. Streng genommen basiert fast alles, was wir als sicheres Wissen bezeichnen, auf Glauben, wir glauben, was die Eltern sagen, was die Lehrer und Professoren uns lehren, wir glauben, was in den Lehrbüchern steht und was die Nachrichten uns mitteilen. Es ist eine verwickelte Sache mit der Sicherheit des Glaubens und es ist nicht einfach, zu verstehen, warum wir Informationen über manches, das wir nie selbst gesehen haben, doch zu unserem sicheren Wissen zählen, während anderes, was sich sogar auf eigene Beobachtungen stützt, als Glauben oder sogar als Aberglauben bezeichnen.
Der Glauben einer Person richtet sich auf verschiedene Weise auf andere Menschen. Ich kann jemandem glauben, das bedeutet, dass ich etwas für richtig halte, weil es mir jemand, dem ich vertraue, als wahr hinstellt. Glauben hat also immer mit Vertrauen zu tun, es ist von Anfang an eine soziale Angelegenheit. Dass wir vertrauen, dass wir einander Glauben schenken können, ist eine ganz wichtige, unverzichtbare menschliche Eigenschaft, viel wichtiger als die Fähigkeit, durch eigene Anschauung und durch rationales Schlussfolgern etwas zu lernen. Niemand wäre in der Lage, sich ohne schlichtes Vertrauen in Autoritäten und Institutionen das notwendige Wissen über seine Umgebung zu verschaffen, um handeln zu können. Das gilt nicht nur für Kinder, die noch viel von Eltern und in der Schule lernen müssen, sondern auch für jeden Erwachsenen. Man mache sich nur einmal klar, wie viel man glauben muss, wenn man etwa eine Reise von Münster nach Hamburg unternehmen möchte.
Ich glaube aber nicht nur anderen, ich glaube auch an andere. Beides hat miteinander zu tun, denn aus beidem spricht Vertrauen. Wenn mir jemand sagt, dass er mich am Zug in Hamburg abholen wird, dann glaube ich ihm und glaube gleichzeitig an ihn, an seine Bereitschaft, sich für mich zu engagieren.
Weil Glauben von Anfang an eine soziale Angelegenheit ist, wird er auch gerade dann notwendigerweise wirksam, wenn es um die wichtigen, die bedeutsamen Dinge des Zusammenlebens und des Lebens des Einzelnen in der Gemeinschaft geht. Die Bedeutsamkeit, der Sinn des Lebens, kann nicht gewusst werden, weil es vor dem objektivierenden Blick der Wissenden, vor den Wissenschaften, gar keinen Sinn, keine Bedeutsamkeit gibt. Bedeutsamkeit und Sinn entsteht ja durch meine Deutung der Dinge, ich, oder vielmehr wir in der Gemeinschaft, erkennen Bedeutungen für uns, diese sind nicht objektiv, sondern sie gehören zum Weltverständnis der subjektiven Menschen und einer Gemeinschaft, die sich als Wir versteht. Die Aussage der Naturwissenschaft, dass das menschliche Leben gar keinen Sinn hätte, dass unser Streben keine Bedeutung hat, ist nicht falsch, sie ist genau genommen eben selbst sinn-los und bedeutungslos für die handelnden und sterbenden Menschen, für die die Bedeutung ihres Strebens und der Sinn ihrer Handlungen ja offensichtlich vorhanden sind.
Die Sprache, in der sich Bedeutsamkeit zeigt, ist die der Rituale. Zwar können wir die Bedeutungen von Ereignissen und den Sinn vor Erlebnissen auch in Worte fassen, aber sie zeigen sich im Ritual. Ich kann meinem Freund versichern, dass ich ihn Schätze und ihm beistehen werde, aber viel verständlicher wird, was er mir bedeutet, im festen Händedruck. Die Bedeutung des Abschiedsschmerzes spüren wir in der Umarmung am Bahnsteig. Durch die Zeremonie der Zeugnisübergabe wird die Bedeutung des Moments bewusst. Die Bedeutung des Moments spricht im Ritual, das die Gemeinschaft mit diesem Moment verbindet, und umso selbstverständlicher und stärker das Ritual gelebt wird, desto bedeutsamer ist der Moment. Wir glauben die Bedeutung einer Freundschaft umso sicherer, desto fester und selbstverständlicher der Händedruck und die Umarmung beim Abschied sind.