Vernetzte Vernunft

Einstieg

Die Vernunft hängt am Netz. Ohne Netz, so scheint es, können wir heute keine rationalen Entscheidungen mehr treffen, können kein Wissen mehr erwerben und kein neues Wissen mehr erzeugen. Aus den Netzen ziehen wir die Informationen, die wir für vernünftige Entscheidungen brauchen, egal, ob es um die Frage geht, wohin wir in Urlaub fahren wollen, welche Partei man wählen könnte oder wie wir leben wollen.

Wir erleben gerade den Moment, dass dieses vernetzte Denken sich aus den Köpfen und Leibern der Menschen herauslöst und in das Netzwerk hinübergleitet. Noch sind wir Menschen eine notwendige Komponente an der Peripherie dieses Netzwerk-Denkens. Wahrscheinlich bleiben wir das auch noch eine ganze Weile. Das ist gar nicht das entscheidende. Wichtiger ist, ob das Netzwerk-Denken überhaupt noch ein menschliches Denken ist.

Wir können die Frage auch anders stellen: Denkt das Netzwerk, wenn es vernünftig ist? Und genügt diese Vernunft? Oder brauchen wir jenseits der Netzwerk-Vernunft noch eine irgendwie menschlich-denkende Vernunft? Und was tut die dann noch?

 

Aber der Reihe nach

Was heißt hier Netz?

Wir sind vernetzt – das gilt nicht erst, seit dem es das Internet gibt. Wir waren schon vernetzt, lange bevor es das Internet gab – allerdings wäre es falsch anzunehmen, dass der Mensch quasi „von je her“ vernetzt ist.

Dabei ist das Internet nicht das einzige Netzwerk, das wir brauchen. Es ist das letzte, das unsere Idee vom Netz am weitesten perfektioniert hat und dabei ist, alle anderen Netze in sich aufzunehmen. Die vernetzte Vernunft ist älter als das Internet, und es ist nicht etwa so, dass das Internet unser Denken dramatisch verändert, wie es weithin immer wieder behauptet wird. Vielmehr schafft sich das allmählich, über Jahrhunderte entstandene und zur Vorherrschaft gelangte, vernetzte Denken, die vernetzte Vernunft, mit seinen Netzwerken und zuletzt dem Internet nur die Plattform, in der es sich ideal ausbreiten kann.

Net-Prinzip und Web-Prinzip

Ich glaube deshalb, dass es sinnvoll ist, zwei Prinzipien der Verschlingung von Fäden zu unterscheiden, das Net-Prinzip und das Web-Prinzip. Ich will nicht behaupten, dass Spinnen manchmal planvolle Netz-Konstrukteure sind und dann wieder launische, planlose und chaotische Weber. Überhaupt ist natürlich klar, dass die Alltagssprache mit ihren überlappenden und lebenden veränderlichen Bedeutungen ein bisschen gebändigt werden muss, um das, was uns so tagtäglich begegnet in klare Begriffe zu bringen. Die Weber gehen natürlich ebenso planvoll vor wie die Netzeknüpfer, ich weiß, dass ich diesem Berufstand im Weiteren ein wenig unrecht tue.

Das Net-Prinzip ist eine technische Angelegenheit, und das, was entstehen soll, ist eine geplante, durchschaubare, beherrschbare Struktur. Dabei gibt es zwei Varianten: Entweder, man nimmt sehr lange Fäden und verknotet diese nach einem genau vorherbestimmten System. So entstehen Fußballtore, Fischernetze und Makramee Blumenampeln. Solche Netze sollen etwas halten, den Fußball, die Fische oder den Blumentopf. Die andere Variante ist: bestehende Objekte, Städte, Häuser, Computer, Menschen, miteinander zu verbinden, und zwar mit einer Art Leitung, mit Kanälen, in denen sich irgendwas bewegt, etwas fließt, von einem Objekt zum Anderen, Güter, Strom, Informationen. Diese Netze halten nichts außerhalb ihrer selbst, sie halten das, was sie miteinander verbinden, am Leben, versorgen die verbundenen Objekte mit dem, was sie brauchen.

Straßennetze, Energienetze und Computernetze werden geplant, entworfen, und realisiert, und dazu sind eine Menge Verabredungen und Definitionen nötig. Das Web-Prinzip hingegen ist eher ein Wuchern. Es wächst irgendwas, trifft auf etwas anderes, an dem es hängenbleibt, sich dadurch hält. Vielleicht umschlingt eins das andere, bedrängt oder tötet es, hält sich an den Resten, das eine stirbt ab, das andere wächst und wuchert weiter, sich verzweigend. Ein Dickicht entsteht, ein Gestrüpp, undurchdringlich, oder, genauer gesagt, nur mit einem Schwert zu zerteilen, durchzuhauen wie der gordische Knoten. Wenn ein Dickicht gelichtet werden soll, dann geht das nur mit Verlusten ab, Lebensadern werden durchschnitten.

In der Wirklichkeit findet immer beides gleichzeitig statt. Ein Netz wird geplant und planvoll umgesetzt, aber an den wohldurchdachten Wegen entstehen plötzlich wilde Abzweigungen, Trampelpfade, Abkürzungen. Ein Netz, so könnte man vermuten, braucht immer eine Polizei, die Wildwuchs verhindert, Zäune aufstellt und Verbotsschilder, und natürlich eine Regierung, die Regeln aufstellt, auf deren Einhaltung die Polizei dann achtet.

Nicht nur die Straßen und Wege in diesem Land sind schöne Beispiele solcher Netze, auch etwa Strukturen in Unternehmen und Organisationen. Da wird klar definiert, wer mit wem über was reden soll, wie die Entscheidungs- und die Informationswege sind. Sie bilden ein gut durchdachtes Netz. Aber dann gibt es die „kurzen Dienstwege“ und die informellen Gespräche. Das ist das Web-Prinzip, da bildet sich nicht nur ein Gewebe, sondern ein Filz, der undurchdringlich und undurchschaubar ist. Wie gesagt: Das Net-Prinzip sorgt für Klarheit und Transparenz, das Web-Prinzip für undurchschaubare Intransparenz. Wer entscheidet wirklich, wer hat Einfluss und wer was zu sagen? Im Web weiß das niemand, und keiner ist verantwortlich.

Wer plant das Netz?

Schauen wir uns das Netz-Prinzip ein bisschen genauer an. Ein Netz zu knüpfen, so hatte ich gesagt, ist eine planvolle, technische Angelegenheit. Aber wer ist der Planer, wer ist der Techniker des Netzes? Ein Netz kann von zentraler Stelle geplant werden, am besten von einer staatlichen Plankommission die alles durchdenkt und beachtet und dann einen großen Masterplan macht, wie das Netz am besten und effektivsten aussehen soll. Wir wissen, dass es immer wieder Versuche solcher zentralen Planungen gibt, aber dass sie eigentlich auch aus der Mode gekommen sind.

Heute wird nicht vernetzt, heute vernetzt man sich. Das Netzwerken ist eine aktive Tätigkeit derer, die im Netz gehalten werden wollen und die aus dem Netz lebensspendende Kraft gewinnen möchten. Wir schließen unser Haus an das Energieversorgungsnetz an, oder an die zentrale Kanalisation, oder wir vernetzen den Computer, oder wir vernetzen uns selbst mit anderen Menschen.

Damit das Vernetzen funktioniert, müssen wir uns aber auch auf Regeln einlassen. Vernetzen heißt genau besehen: Steckverbindungen herstellen. Dazu müssen die Stecker passen und das, was durch die Leitungen kommt, muss zu dem passen, was erwartet wird. Dazu hat jemand zuvor Protokolle definiert, Regelwerke, an die sich die halten müssen, die sich vernetzen wollen.

So betrachtet wird klar, dass Vernetzung kein Phänomen ist, das mit dem Internet entstand. Nicht nur haben wir bereits lange vor den Computern auch schon elektrische Geräte, Städte und Kontinente miteinander vernetzt, auch die Menschen begannen schon früher, auf geregelte Weise Informationen miteinander auszutauschen und Handlungen zu koordinieren. Vernetzte Menschen begegnen uns auch jenseits des Internet: Politiker, Wissenschaftler und Unternehmer knüpfen Netzwerke, aber auch Briefmarkensammler oder Hobby-Ornithologen vernetzten sich. Andererseits ist Vernetzung doch wieder eine neuartige Sache. Familienbande etwa, oder Stammeszugehörigkeiten werden nicht durch so etwas wie Netzwerken hergestellt. Um zu verstehen, wie Netzwerke funktionieren und welche Grenzen sie haben, ist es notwendig, diesen Unterschied sichtbar zu machen, auch wenn sich in der Realität das Netzwerken immer mit Formen der Verstrickung und Verfilzung verbinden – wie ein schön geknüpftes Netz, dessen Knoten sich nach einiger Zeit doch nicht mehr einfach lösen lassen, da die Fasern miteinander verwachsen und verfilzt sind, und in dessen Maschen Spinnweben hängen, an denen sich Staub und Ungeziefer verfangen.

Neben dem Netzwerk gibt es das Gewebe, welches auch geordnet sein kann, aber oft auch unordentlich ist. Ein Geflecht entsteht, wenn jeder Faden seinen eigenen Weg sucht

Das Internet kennt beide Prinzipien: Netzwerk und Gewebe. Nicht von ungefähr bezeichnen wir es mal als Net und mal als Web. Hannah Arendt schreibt in Vita Activa, dass „Handeln darin besteht, den eigenen Faden in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht hat“. Das ist etwas anderes, als sich zu vernetzen. Und so, wie wir handeln, denken wir auch, wenn wir es denn schaffen, zu denken. Wo die vernetzte Vernunft regelkonforme Schlussfolgerungen zieht, beginnt das Denken zu sinnieren, zu reflektieren, in den Sedimenten der Erfahrungen zu suchen.

Netzwerke als Extended Mind

Für den Einzelnen ist so ein Netzwerk heute zunächst mal eine sehr praktische Angelegenheit, es ist eine Art „Extended Mind“

Was ist Vernunft, was ist vernünftig?

Zur Vernunft kommen wir, indem wir nachdenken. Wer wollte diesen Satz bestreiten. „Sei doch vernünftig, denk doch mal nach!“ das haben wir schon als Kinder von unseren Eltern gehört. Aber was ist dann mit Nach-Denken gemeint? Nachdenklich sitzt der Denker da, den wir für das Cover der „Kritik der vernetzten Vernunft“ nachempfunden haben. Was tut er da. Ist Nach-Denken so etwas wie das Nacharbeiten einer Vorlesung? Oder wie das Nachvollziehen einer Tätigkeit eines anderen? „Denk nach!“

Scheinbar heißt Nachdenken, den Pfaden der Vernunft zu folgen. Dieser Idee von Vernunft liegt auch ein Netzwerk-Gedanke zu Grunde. Die Regeln der Vernunft leiten uns von einer Tatsache zur nächsten, oder von einer Schluss-Folgerung zur Anderen, so, wie Uns die Wege eines Verkehrsnetzes von einer Weggabelung zur anderen leiten, so, wie die Informationspakete von einem Netzwerkknoten zum nächsten transportiert werden.. Wenn das Netzwerk vernünftig aufgebaut ist, dann kommen die Dinge schnell und ohne Umweg ans Ziel.

Vernunft scheint also mit dem Befolgen rationaler Regeln zu tun zu haben, mit dem Anwenden der mathematisch-logischen Methode, durch die die Physik in den letzten Jahrhunderten so erfolgreich geworden ist. Aber das ist ein etwas überraschender Befund, denn es hieße, dass wir erst seit relativ kurzer Zeit vernünftig sind – und dass in vielen Bereichen, in denen diese Methode (noch) nicht etabliert ist, keine Vernunft regiert. Oft sagen wir das auch so: Politik etwa sei nicht vernünftig, oder ökonomische Entscheidungen, oder der Alltag, in dem wir uns entscheiden, einen Film zu sehen, einen Marathon zu laufen oder auf einen Berg zu klettern

Aber kann es sein, dass die Menschen erst in den letzten paar Jahrhunderten vernünftig geworden sind? Oder brauchen wir einen anderen Begriff von Vernunft?

Die Frage nach dem „Warum“

Vernunft, ist die Fähigkeit, etwas begründen zu können. Wer vernünftig ist, versteht die Frage nach dem „Warum“ und kann sie beantworten. Mehr noch: Er beantwortet sie in einer gewissen konsistenten Weise, d.h., unter gleichen Umständen wird er auf die Warum-Frage die gleiche Antwort geben, und unter ähnlichen Umständen wird die Antwort irgendwie auch ähnlich ausfallen.

Die intentionale Einstellung

Eine intentionale Haltung nehmen wir zu vielen Objekten ein, die uns umgeben, nicht nur zu Menschen, sondern auch zu Tieren und oft auch zu Geräten, von denen wir “eigentlich” genau wissen, dass sie keine Absichten, Hoffnungen, Wünsche haben. Man denke nur daran, wie oft man sagt “Der Computer will mich ärgern.” Während man bei leblosen Gegenständen meist schnell darüber einig ist, dass diese Redeweise nicht wörtlich gemeint ist, sieht die Sache bei Pflanzen und Tieren schon anders aus, und bei Hunden und Katzen sind wir schon fast selbstverständlich bereit, von Wünschen, Hoffnungen oder auch Ängsten zu sprechen

Der Grund liegt darin, dass die intentionale Einstellung sehr erfolgreich ist. Welche Alternativen hätten wir denn, das Verhalten eines Hundes, einer Katze oder eines Schachcomputers zu erklären und vorherzusagen?

Damit begebe ich mich in die Intentionale Haltung, und ich betrachte den Computer als Intentionales System. Es ist klar, dass diese Haltung von meinen eigenen Absichten abhängt.

 

Der “wahre Gläubige” (The true believer)

1984, in “The Intentional Stance” verwendet Dennett einen interessanten Begriff für solche Systeme. Wenn ich als Beobachter die intentionale Haltung einnehme und das Verhalten des Systems unter der Zuschreibung von Wünschen und Hoffnungen gut vorhersagen kann, dann kann ich dieses System als einen “wahren Gläubigen” bezeichnen.

 

Ein “true believer” ist also auch der Schachcomputer, soweit wir sein Verhalten vorhersagen können indem wir ihm Intentionalität, Rationalität und entsprechechendes Handeln zuschreiben

Diese Zuschreibung ist immer eine des Beobachters, der sich in der intentionalen Haltung befindet. HInsichtlich von Katzen und Mäusen befinden wir uns im Alltag in intentionaler Haltung, während sich Biologen wahrscheinlich in funktionaler Haltung befinden, wenn sie das Katz-und-Maus-Spiel untersuchen.

Sind Netzwerke rationale Akteure?

Zu einem weiteren spannenden Aspekt des Netzwerkens. Das Wort Netzwerk ist ja doppeldeutig: Es meint einerseits das ganze Netz mit allen Knoten und Verbindungen, andererseits meint es konkrete einzelne Gebilde, bestimmte Communities etwa. Im Leben außerhalb des Internet kennen wir viele stabile Netzwerke, Vereine, Parteien, Unternehmen. Sie funktionieren alle, wie ich oben beschrieben habe, nach dem Net-Prinzip, mit der Tendenz zur Verwebung und Verfilzung.

Solchen Netzwerken sprechen wir schnell einmal einen eigenständigen Willen, eigene Ziele und Handlungen zu, wir sagen etwa „Die Wirtschaftsjunioren wollen sich um die Schule kümmern“. Philosophisch spannend ist, ab wann solche Verbünde von Menschen wirklich eigenständige Überzeugungen und Ziele ausbilden, die sich nicht mehr einfach als Summe der Überzeugungen und Ziele der Mitglieder bestimmen lassen. In Unternehmen und Parteien ist das – meiner Überzeugung nach – sicher der Fall, bei Fußballmannschaften oder Chören kann man da lange streiten. Wenn man z.B. sagt, „die CDU ist der Überzeugung, dass die Pille danach nur auf Rezept ausgeteilt werden soll“ dann bedeutet das nicht, dass diese Überzeugung alle CDU-Mitglieder oder die Mehrheit oder auch nur das Führungspersonal hat. Es könnte sein, dass niemand diese Überzeugung hat, aber dass z.B. die Meinung vorherrscht, dass man diese Überzeugung als Partei verficht, weil anderes nicht zum Programm passt oder dass die Wähler ein konservatives Signal brauchen usw. Die CDU wird somit zu einem eigenständigen Akteur, der den Überzeugungen entsprechend handelt. Frage ist, ob sich „im Netz“ ohne klar definierte Entscheidungsstrukturen und -prozesse, Akteure dieser Art etablieren können.

Die erste Frage ist dabei, wie und ob es zu gemeinsamen Handlungen kommt. Pettit und Schweickard haben geschrieben, dass dafür Bedingung ist, dass alle die gemeinsame Handlung wollen, dass alle ihren Teil zur gemeinsamen Handlung beitragen wollen, jeder glaubt, dass auch die anderen das wollen und dass alle ihren Beitrag in dem Wissen leisten wollen, dass die anderen das auch wollen. Das klingt ziemlich kompliziert, aber im Falle etwa eines Chores kann man sich schön vergegenwärtigen, was hier gemeint ist. Alle wollen gemeinsam singen, alle wollen ihren Beitrag dazu leisten, indem sie singen. Aber nur, wenn ich glaube, dass die anderen auch singen werden, weil ich weiß, dass sie wissen, dass wir alle singen, wird auch wirklich gesungen. Man weiß, wie die Sache manchmal ausgeht, wenn einer in der Gruppe plötzlich anfängt „Happy Birthday“ zu singen, und die anderen nicht mitmachen. Oder wenn drei Politiker auf dem Berliner Rathausbalkon stehen und „Einigkeit und Recht und Freiheit“ intonieren.

Es gibt auch einfachere Fälle, etwa, wenn im Konzert einer anfängt zu klatschen und alle machen mit. Wobei auch hier interessant ist, dass man sich mit der Kultur auskennen muss, um richtig zu klatschen. Nur wenn man an der richtigen Stelle losklatscht, hat man die Chance, nicht peinlich zu wirken. Es entsteht ein gemeinsamer Applaus, der nicht so komplizierte Überzeugungen zur Grundlage haben muss. Wenn keiner mitmacht, hört man einfach wieder auf.

Nun ist die Frage, ob so ein wechselseitiges Überzeugungsgeflecht in einem Netzwerk, wie ich es beschrieben habe, möglich ist. Ich denke, in einem Netzwerk, das nur nach dem Net-Prinzip aufgebaut ist und kein bisschen Web hat, ist das unmöglich. Denn ein anderes Wort für diese wechselseitige Überzeugung ist Vertrauen, und das ist nur möglich, wenn Fassaden verschwinden und Masken fallen. Deshalb ist der Schwarm auch nicht zur politischen oder unternehmerischen Aktion fähig. Alles, was er kann, ist applaudieren und einen Shitstorm auslösen.

Aber es geht noch weiter. Die zweite Frage ist, wie es dazu kommen kann, dass sich im Netz ein Netzwerk bildet, das tatsächlich eigene Ziele und Überzeugungen hat, und so eigenständige Handlungen ausführt, um entsprechend der Überzeugungen auch die Ziele zu erreichen.

Wir sprechen ja schnell mal einem Ding Ziele, Wünsche und Handlungen zu. Etwa der Katze zu Hause, oder dem blöden Computer, der keine Lust hat, zu arbeiten, oder der Software, die uns ärgern will. Das ist zumeist nur metaphorisch gemeint, und so kann man auch „dem Schwarm“ Intentionen oder gar Intelligenz, also Rationalität zusprechen. Zur Rationalität gehört aber zumeist mehr, etwa die Fähigkeit, Ziele zu priorisieren und nachvollziehbare Entscheidungen zu treffen, die relativ stabil verfolgt werden. Politische Parteien und Unternehmen sind in diesem Sinne rationale Akteure.

Damit ein Netzwerk, sei es ein virtuelles Unternehmen, eine Community oder „der Schwarm“, zum Akteur wird, benötigt es nicht nur eine wechselseitige Vertrauensbindung, sondern auch Strukturen, die bestimmte Äußerungen als die des Netzwerks erkennbar machen. Es ist die offene Frage, ob so etwas ohne Hierarchien funktionieren kann.

Für netzwerkende Unternehmen und Unternehmer heißt das, dass gemeinsame Handlungen bereits durch – wenn auch anspruchsvolle – gegenseitige Vertrauensbeziehungen  möglich werden. Vertragliche Regelungen sind dazu nicht zwingen möglich, wohl aber ein gewisser Grad an Verfilzung. Um als eigenständiger Akteur agieren und wahrgenommen zu werden, braucht es aber noch mehr, und dieses „Mehr“ muss wohl ein Vertragswerk sein, das Verhaltensbindung garantiert. Ob so etwas spontan entstehen kann, ist für mich noch offen.