Das Anhäufen von Unmengen unserer persönlichen Daten über unser Tun und Lassen irgendwo auf Servern von Behörden und Unternehmen macht uns Sorgen. Wir haben Angst, durchschaubar, klassifizierbar und manipulierbar zu werden. Manipulierbarkeit heißt, dass wir irgendwann nicht mehr nach unserem eigenen Willen Handeln sondern, vielleicht sogar ohne es überhaupt zu ahnen, dem Willen fremder Mächte willenlos folgen. Zudem könnte es sein, dass diese Mächte, gestützt auf jene ungeheuren Datenmengen, die Deutungshoheit über unseren Willen erlangen. Dann wären wir selbst nicht mehr diejenigen, die wüssten, was wir wollen. Stattdessen würden die Datensammler und -analysierer mit Sicherheit sagen, was unser Wille ist. Sie wüssten, was wir wollen, vielleicht, um unserem Willen zu dienen, vielleicht aber auch, um zu verhindern, dass wir unsrem bösen Willen folgen können.
Was ist der freie Wille?
Der Wille, zumal der „Freie Wille“ ist in die Defensive geraten. Nicht erst, seit die Neurobiologie meint, nachweisen zu können, dass das Gehirn schon eine Entscheidung über die Auswahl einer von zwei Optionen getroffen hat, bevor das Ich selbst etwas davon weiß, haftet dem Willen der Ruf an, etwas unnötiges oder sogar unerwünschtes zu sein. Schon in meinen Kindertagen würde ich darauf hingewiesen, dass das Wollen etwas Unerhörtes ist. „Ich will ein Eis!“ Das auszusprechen war ungehörig, „ich möchte gern“ oder „ich möchte bitte“ das hatte ein wohl erzogenes Kind zu sagen. Nietzsches „Wille zur Macht“ geistert als Phrase durch die politischen Kommentare der Gegenwart, machtwillige Politiker sind uns suspekt, auch wenn wir sie heimlich bewundern.
Andererseits nötigt uns der Wille Respekt ab. Wenn Menschen einen Ironman-Triatlon absolvieren oder einen Ozean durchschwimmen, dann sagen wir, dass nur ein „eiserner Wille“ das möglich gemacht hat. Dem Willen werden heilende Kräfte zugeschrieben, etwa, wenn wir sagen, dass jemand eine schwere Krankheit aufgrund seines starken Willens überstanden habe.
Wir haben also offenbar ein ambivalentes Verhältnis zum Willen. Offensichtlich ist jedenfalls, dass er aber im Alltag nichts zu suchen hat, dort haben wir den Willen dem Funktionieren, der Ratio, oder der Taktik unterzuordnen. Und das gilt nicht nur für den alltäglichen Umgang mit Freunden, Kollegen, Verwandten. Führungskräfte und Politiker, die wir beobachten und deren Verhalten wir diskutieren, werden für ihren starken Willen, der sie durchsetzungsfähig und mächtig macht, zwar bewundert, aber er macht sie nicht sympathisch.
In der Dichtung vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte begegnet uns der Wille als etwas großes, als eine bewundernswerte Eigenschaft. Hölderlin schreibt vom großen Willen, der durch die Liebe niedergezwungen wird, und von der Freiheit des Menschen, aufzubrechen wohin er will. In Schillers Balladen vollbringen willensstarke Menschen unglaubliches, aber sie können, wie der Taucher, auch scheitern.
Der Wille erscheint als etwas, das dem Handeln große Ziele setzt, aber auch als etwas, das an den Widerständen der Welt und des Lebens scheitern kann. Der Wille ist eine Sache der Freiheit und des Aufbruchs. Freier Wille bedeutet eigentlich, dass der Mensch frei zum Aufbruch ist, hin zu dem, was ihm sein Wille als Ziel setzt.
Es ist ganz offensichtlich, dass die Experimente der Neurowissenschaftler mit dem Willen gar nichts zu tun haben. Trotzdem sollte uns die Diskussion um den freien Willen, den die Forscher ausgelöst haben, zu denken geben. Denn was sag es über unsere Zeit und unsere Kultur, dass wir überhaupt bereit waren, die Ergebnisse der Neuro-Experimente als Gefahr für den Willen anzusehen? Welche Degeneration des Begriffs vom Willen muss dem Voraus gegangen sein? Unsere Gesellschaft scheint ohne den Willen auszukommen, statt unserem Willen zu folgen, sollen wir unsere Funktion erfüllen, einen Nutzen maximieren und dafür die notwendigen Schritte ausführen. So sieht das Handeln der vernetzten Vernunft aus, in dem jeder Einzelne eben ein funktionierendes Bindeglied im Netz, ein Rad im Getriebe ist. Da kommt es auf den Willen des Einzelnen nicht an, im Gegenteil, er stört. Allenfalls kann der Wille in den Dienst dieses Funktionierens gestellt werden. Deshalb versuchen wir auch, jede Regung des freien Willens mit Nützlichkeitserwägungen zu rechtfertigen. Ich jogge nicht, weil ich einen Marathon schaffen will, sondern weil ich im Interesse von Arbeit und Gesellschaft fit bleiben muss.
Aber am Ende zählt der große Wille. Stolz sind wir darauf, etwas Ausgefallenes zustande gebracht zu haben, auch wenn es scheinbar sinnlos ist. Es muss Kraft kosten. Widerstände müssen überwunden werden. Rückschläge sind hinzunehmen. Es braucht einen langen Atem. Das Wort Wille sollten wir ganz und gar für das Streben nach Zielen reservieren, die nur durch eigenes Handeln und auch dann oft nur durch aktives Überwinden von Widerständen erreicht werden können, wobei regelmäßig eine gewisse Ausdauer und Beharrlichkeit von Nöten ist. Der Wille ist nicht das, was uns hilft, vorher bekannte und gerechtfertigte Ziele auch zu erreichen, sondern der Wille setzt selbst diese Ziele. Diese Ziele sind für den Einzelnen groß, sie haben Bedeutung, sie geben dem ganzen Leben einen Sinn. Ziele des Willens müssen nicht für alle und jeden bedeutend sein, was für den einen eine große Sache ist, kann für jemanden anders im wahrsten Sinne bedeutungslos sein.
Der Wille des Einzelnen im Netz der sozialen Beziehungen
Trotzdem bleibt natürlich offen, ob sich der Wille rechtfertigen muss und wo er herkommt, ob ein Wille gebildet wird und ob jeder Wille akzeptabel ist. Die Akzeptanz des Willens eines Jeden wird in der sozialen Gemeinschaft ausgehandelt. Zunächst einmal ist klar, dass in einer liberal und demokratisch verfassten Gesellschaft der Wille eines jeden seine Schranken beim Willen der anderen findet. Wir akzeptieren nicht, wenn einer seinen Willen auf Kosten anderer durchsetzt.
Das ist allerdings keine große Einschränkung. Wenn wir genau hinsehen, bemerken wir nämlich, dass wir im allgemeinen Dinge wollen, die auch die anderen in der Gemeinschaft großartig finden. Wille ist immer schon vernetzter Wille. Das hat zwei Gründe.
Einerseits kommen wir auf die Ziele unseres Willens meistens durch die Beobachtung dessen, was andere machen. Ich sehe im Fernsehen, wie jemand die Eiger-Nordwand bezwingt, das nötigt mir Respekt und Bewunderung ab. Ich denke: Das will ich auch mal erleben. Dieses Gefühl, nach einer solchen Strapaze oben am Gipfel zu stehen, muss grandios sein. Also will ich auch auf den Berg. Es muss nicht der Eiger sein, schon gar nicht die Nordwand. Aber es muss etwas sein, was mich im Handeln mit diesem bewundernswerten Bergsteiger verbindet.
Andererseits ist eine starke Motivation für das Durchhalten der Strapaze auf dem Weg zum Ziel meines Willens die Anerkennung durch andere. Ich will zur Gemeinschaft der Bergsteiger gehören, will mit ihnen Geschichten von Bergbesteigungen austauschen können. Und ich will meinen Freunden, die nicht auf Berge klettern, davon erzählen, will sie mit meiner Willensstärke vielleicht auch beeindrucken, will jedenfalls, dass sie meine Begeisterung anerkennen.
So bildet sich ein soziales Netzwerk des Willens. Wir vernetzen uns mit Menschen, die den gleichen Willen haben, die unsere Ziele teilen oder anerkennen. Auf diese Weise kann es gar nicht geschehen, dass mein Wille für die Gemeinschaft nicht akzeptabel ist. Er wird zum gemeinschaftlich geteilten Willen. Am Ende kann es sich sogar um den Willen einer Gemeinschaft handeln, nämlich dann, wenn eine Gruppe gemeinsam etwas will, und der einzelne seinen Willen dem Ziel der Gruppe anpasst.
Können Algorithmen wissen, was ich will?
Allerdings ist es denkbar, dass mir die Anderen Vorschriften darüber machen, was ich überhaupt wollen darf. Das kann sowohl das Festsetzen meines Willens betreffen, als auch die Akzeptanz meiner Handlungen, zu denen ich mich entschließe, um meine Ziele zu erreichen.
Wenn ich einen Bergsteiger im Fernsehen bewundere und daraufhin beschließe, auch Bergsteiger werden zu wollen, mache ich mich vielleicht lächerlich: Ich habe keine Erfahrung, bin vielleicht nicht sportlich genug, oder schon zu alt. Vielleicht haben andere schon gesehen, dass ich außer Atem komme, wenn ich nur das Treppenhaus benutze. Sie sagen: Das kannst du gar nicht wollen.
Wenn ich mich dann trotzdem in die Berge aufmache und trotz des schlechten Wetters versuche, den Berg zu besteigen, wird man mich als leichtsinnig bezeichnen, wird mich nicht bewundern sondern vielleicht sogar verachten dafür, dass ich meiner Sehnsucht gefolgt bin, dass ich meinen Willen nicht unter Kontrolle hatte und mich oder vielleicht sogar andere in Gefahr gebracht habe.
Hier kommen nun Big Data und die Algorithmen ins Spiel. Sie sind nicht das Fundament, sondern die Konsequenz der vernetzten Vernunft. Schon in der Beurteilung meiner Sportlichkeit, meines Alters und meiner gegenwärtigen Fähigkeiten kommt die Idee zum Ausdruck, dass man berechnen könnte, ob mein Wille vernünftig ist. Dass man sozusagen objektiv ermitteln könnte, was ich wollen sollte und dürfte.
Nicht nur den mächtigen Unternehmen und Behörden, auch uns selbst werden bald nicht nur nahezu unbegrenzte Speicherkapazitäten zur Verfügung stehen, sondern auch Softwarelösungen auf Supercomputern, die in der Lage sind, die angehäuften Datenmengen rasend schnell zu analysieren, zu kategorisieren, und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Sie können und werden uns unterstützen, Urteile zu treffen, Entscheidungen für Handlungen herbeizuführen, die wir bisher unserer menschlichen Kreativität und Intuition anvertraut haben.
Aber kann ein Algorithmus, der Datenberge analysiert, mir Vorschriften bezüglich meines Willens machen? Machen wir uns einmal bewusst, welchen Anteil dessen, was wir tun, wir tatsächlich per Smartphone den großen Datensammlern mitteilen. Oft wird behauptet, wir übermitteln fast alles von uns an irgendwelche Big-Data-Algorithmen. Es mag auch Leute geben, die mit Körperfunktionsmessern ausgestattet joggen, dabei ihre Laufstrecke aufzeichnen, Mails lesen und im Internet Einkäufe erledigen. Aber selbst die schaffen nicht mehr als einen Bruchteil dessen, was wichtig ist, in die Cloud zu übermitteln. All das, was ich im Vorbeilaufen sehe, der Freund, dem sie zuwinken, die Frau, der ich nachschaue. Und vor allem, das alles, was ihnen während des Laufens durch den Kopf geht, bleibt den Algorithmen verborgen. Dass sie den Sonnenaufgang bewundern oder dass sie eine Blume am Wegesrand gar nicht wahrnehmen, dass sie sich täglich über den Duft aus einem Café freuen, an dem sie vorbeikommen.
Mark Twain sagte, jeder Mensch sei wie ein Mond, der den Anderen nur immer eine Seite zuwendet und die andere vor ihnen verbirgt. So verbergen wir auch ganz selbstverständlich ganz wesentliches von uns vor den Algorithmen. Wollen sie vom sichtbaren auf das unsichtbare schließen, haben sie das gleiche Problem wie ein guter Bekannter, der meint mich zu kennen: sie müssen raten, und sie wissen nie, wie weit sie daneben liegen.
Nun nützt es uns vielleicht wenig wenn wir uns selbst über die Grenzen des Wissens der Algorithmen völlig im Klaren sind, gleichzeitig aber andere ihre Entscheidungen, die uns selbst betreffen, auf den Analysen und Ergebnissen der Big-Data Verfahren aufbauen. Was hilft es, wenn Big Data uns in Wahrheit nicht kennt, aber die Behörden uns nach der Analyse der abgeschöpften Daten als Terroristen klassifiziert?
Es steht völlig außer Frage, dass diese Gefahr ein guter Grund ist, den Datensammlern jeder Couleur kritisch gegenüber zu stehen und ein Klima zu erzeugen, dass den Algorithmen prinzipiell misstraut. Voraussetzung für das Funktionieren dieser Mechanismen ist ja, dass ihre Nutzer tatsächlich glauben, dass ihre Algorithmen im Wesentlichen richtig liegen. Wiederum ist also notwendig, dass das Ergebnis der Berechnungen der Großcomputer nicht nur als richtig, sondern als Wahrheit genommen wird, dass also in der Gesellschaft insgesamt ein Konsens darüber besteht, dass man durch Datensammlung und algorithmische Analyse nicht nur etwas zutreffendes, sondern auch etwas Wahres über einen Menschen herausfinden könnte. Wenn wir alle dem rational-logischen Kalkül misstrauen würden, dann würden auch Politiker und Geheimdienstchefs diesem Kalkül misstrauen, denn sie sind wie wir Bewohner einer gemeinsamen Kultur, sie teilen unsere Grundüberzeugungen.
Wir greifen also viel zu kurz, wenn wir uns nur damit beschäftigen, wem unsere Daten gehören und was er damit machen darf. Wenn wir bei dieser Frage stehen bleiben, dann haben wir schon zugestanden, dass mit diesem Wissen irgendetwas Wesentliches über uns in Erfahrung zu bringen wäre. Es kommt darauf an, diesen Konsens fragwürdig zu machen, zu erkennen, dass der Wille des Menschen nicht algorithmisch verstehbar und vorhersehbar ist.