In seinem Buch Experimentalsysteme und epistemische Dinge zitiert Hans-Jörg Rheinberger den amerikanischen Nobelpreisträger Alfred Hershey, der auf die Frage nach dem höchsten Glück des Wissenschaftlers geantwortet haben soll: „Ein Experiment zu haben, das funktioniert, und es immer wieder tun.“ (Rheinberger 2006, 20) Dieses Bild vom wissenschaftlichen Arbeiten könnte kaum weiter von dem entfernt sein, das Popper geschildert hat, als er das wissenschaftliche Arbeiten als das Aufstellen von Theorien beschrieben hat. Für Popper und viele Wissenschaftstheoretiker ist die Arbeit an logisch strukturierten Satzsystemen das Besondere am Wissenschaftlichen, die Tätigkeit, die den Wissenschaftler auszeichnet. Experimente dienen nur der Überprüfung dieser Theorien, der Beantwortung von Fragen, die von der theoretischen Arbeit aufgeworfen wurden. Ein Wissenschaftler wie Hershey, so wie ihn Rheinberger hier zitiert, wäre hingegen offenbar auch ganz ohne theoretische Leitung denkbar.
Es gibt einen interessanten methodischen Unterschied zwischen der Wissenschaftstheorie, wie sie etwa Popper betreibt, und der Wissenschaftsphilosophie Rheinbergers. Popper und mit ihm die meisten Wissenschaftstheoretiker wählen zur Illustration ihrer Argumente und zur empirischen Fundierung ihrer Beschreibungen von Wissenschaft vorrangig Beispiele aus der Geschichte der Physik. Andere Wissenschaften, wie etwa die Biologie, werden von ihnen weitgehend ignoriert (vgl. Weber 2005, 2), Rheinberger hingegen beschäftigt sich, so wie auch andere Wissenschaftsphilosophen und –historiker, die der Natur der Wissenschaften auf den Grund gehen wollen, mit Entwicklungen in genau diesen anderen Wissenschaften, wie etwa der Molekularbiologie. Ob tatsächlich die gegenwärtige Physik mehr theoretische Wissenschaft ist als die anderen Naturwissenschaften, ob das Bild des Vorweggehens der Theoretiker, die den Experimentatoren Aufgaben stellen, an denen diese sich dann unter Umständen jahrzehntelang abarbeiten müssen, ist damit allerdings nicht gesagt. Auch in der Physik wird bekanntlich sehr viel experimentiert, und oft werden Phänomene untersucht, für die es keine theoretischen Erklärungsansätze gibt oder bei denen sich die vorhandenen Hypothesen, auch wenn sie jahrzehntelang etabliert sind, später als nicht zutreffend herausstellen. Unbestritten lässt sich die Physik aber mehr als andere Wissenschaften theoretisch lehren und ihre Erkenntnisse werden in der Öffentlichkeit eher in Form von Theorien präsentiert. So spricht man heute etwa zur Illustration des Fortschritts in der Physik ganz selbstverständlich vom Fortschreiten von der Newtonschen Mechanik zur Speziellen und später zur Allgemeinen Relativitätstheorie oder von der Bestätigung des Standardmodells der Teilchenphysik durch das CERN-Experiment, welches das vorhergesagte Higgs-Teilchen gefunden hat. Fortschritt in der Biologie hingegen wird etwa durch die Enddeckung bisher unbekannter Zellstrukturen oder Bakterien illustriert, mit deren Hilfe dann erst Theorien, etwa über die Entstehung oder Verbreitung von Krankheiten, aufgestellt werden können.
Man kann also das Wissenschaftliche, zumindest, wenn man den Blick von der modernen Physik löst und sich anderen Wissenschaften zuwendet, auch ganz anders sehen, als es etwa Popper getan hat: nicht als ein Theoretisieren, aus dem sich empirisch beantwortbare Fragen ableiten lassen, sondern eher als ein Experimentieren, aus dem, möglicherweise, Theorien zu gewinnen sind. Dabei ist der Experimentator möglicherweise weit weniger auf den Theoretiker angewiesen als es umgekehrt der Fall ist. Ein Begriff vom Wissenschaftlichen, der wenigstens das spätmoderne Phänomen der Wissenschaften erfassen will, muss dem gerecht werden. Deshalb sollen im Folgenden Argumentationen der Wissenschaftsphilosophie, die vom Experimentieren ausgeht, nachvollzogen werden.
Eine Wissenschaftsphilosophie des Instruments
In seinem Aufsatz Das Experiment in den Wissenschaften stellt Michael Heidelberger fest, dass „seit den 1980er Jahren […] in der wissenschaftsphilosophischen Untersuchung des Experiments ein Wandel eingetreten“ ist (Heidelberger 2007,164). Er verweist auf die Vielfalt der Bereiche, in denen seit dem Studien vor allem aus soziologischer und historischer Perspektive durchgeführt wurden und äußert die „Hoffnung, dass die traditionelle Konzentration auf die Experimente der Physik bald der Vergangenheit angehören wird“ (165). Heidelberger zufolge ist dieser Wandel vor allem dem Buch Representing and Intervening von Ian Hacking (in Deutsch erschienen unter dem Titel Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften Hacking1996) zu verdanken. Unbestritten spielt Hackings Buch eine bedeutende Rolle in der Diskussion um die experimentelle Seite des Wissenschaftlichen, auch wenn Beiträge etwa von Bruno Latour, auf die weiter unten noch einzugehen sein wird, ebenso zur Belebung dieser Debatte beigetragen haben dürften.
Hacking hat dem theoretischen und dem praktischen Aspekt der Wissenschaften in seinem Buch je zwei etwa gleich umfangreiche Teile gewidmet. Besonders einflussreich ist sicherlich der zweite Teil geworden, der unter dem Titel „Eingreifen“ steht. Wie Heidelberger schreibt, sind daraus „besonders zwei Thesen in Bezug auf das wissenschaftliche Experiment populär geworden“ (ebd). In der ersten geht es um die Verteidigung des wissenschaftlichen Realismus (vgl. oben, Seite 15). Jenseits aller wissenschaftstheoretischer Erwägungen über die Rechtfertigungsmöglichkeiten einer realistischen Interpretation theoretischer Entitäten wie etwa Elementarteilchen stellt sich Hacking auf den Standpunkt, dass sie sich als real erweisen, sobald man etwas mit ihnen machen kann: „Wenn man sie versprühen kann, dann sind sie real“ (Hacking 1996, 47). Die Frage, ob die Entitäten, welche von Theorien postuliert werden, damit beobachtbare Phänomene erklärt werden können, lässt sich für Hacking somit nur praktisch beantworten. Dieser praktische Nachweis besteht nicht etwa darin, dass man die in Frage stehenden Entitäten in irgendeinem Sinne „sichtbar macht“ sondern darin, dass man sie selbst zu einem Mittel machen kann, um einen Zweck zu erreichen. Insofern wäre für Hacking die Existenz etwa des Higgs-Teilchens durch die Experimente am CERN noch nicht nachgewiesen, erst, wenn man diese Teilchen selbst in einem Experiment einsetzen könnte, um andere Objekte zu manipulieren, wären sie real.[1]
Hackings zweite These betrifft die Autonomie des Experiments gegenüber der Theorie: „Die Experimentiertätigkeit führt eine Vielzahl von Eigenleben“ (Hacking, 1996, 276). Damit ist vor allem gemeint, dass das Experimentieren in vielen Fällen ganz ohne eine Theorie auskommt, die die Beobachtung erklärt oder Beobachtungsergebnisse vorhersagt. Das betrifft ausdrücklich auch eine Vielzahl von Fällen in der Physik, wie etwa das Auftreten der Supraleitung, das zwar im Experiment wissenschaftlich untersucht und sogar selbst als Instrument eingesetzt werden kann, etwa in den Teilchenbeschleunigern, seinerseits aber lange Zeit theoretisch nicht verstanden war.[2] Hackings Thesen werden weiter unten zu Konzepten des Experimentierens in Beziehung gesetzt, die in der Folge entwickelt wurden.
Heidelberger selbst skizziert zum einen eine „Zweistufentheorie des Experiments“ und zum anderen eine „Wissenschaftsphilosophie des Instruments“. Beides kann für die Entwicklung eines konsistenten Konzepts des Wissenschaftlichen fruchtbar gemacht werden und soll deshalb hier kurz nachvollzogen werden.
Auf einer ersten Ebene des Experimentierens sieht Heidelberger „eine kausale theoriefreie Stufe der Manipulation von Objekten mit Instrumenten“ (167). Diese ähnelt dem Umgang mit Gegenständen im Alltag, vor allem auch hinsichtlich der Kausalitätsvorstellungen. Man könnte sich einen Experimentator vorstellen, der etwa beobachtet, was an einem Ende der Experimentieranordnung passiert, wenn er an einem anderen Ende etwas manipuliert. So, wie man im Alltag vielleicht davon spricht, dass das Wasser auf dem Herd zu kochen begonnen hat, weil man den zugehörigen Schalter in die Position „9“ gebracht hat, so kann der Experimentator im wissenschaftlichen Experiment feststellen, dass immer, wenn er die Lichtstärke, die auf eine Photodiode fällt, über einen bestimmten Wert erhöht, die Stromstärke im angeschlossenen Amperemeter sprunghaft ansteigt.
Darauf aber, so Heidelberger, baut eine Struktur auf, „bei der die symbolische Interpretation dominiert“ (ebd.). Dies ist die zweite Stufe, hier werden „die kausalen Erfahrungen einem symbolischen Zusammenhang assimiliert“ (ebd.). Das Experiment dient „auf der theoretischen Ebene als Anpassung an ein theoretisches Konzept“ (ebd.).
Diese Zweistufentheorie nutzt Heidelberger zu einer wissenschaftsphilosophischen Einteilung der Instrumente, die im Experiment genutzt werden. Auf der ersten Stufe unterscheidet er produktive und konstruktive Instrumente: produktive Instrumente haben die Funktion, die Phänomene zu produzieren, die dann im Experiment untersucht werden können. So stellt etwa die Luftpumpe ein Vakuum her, oder die Elektrisiermaschine eine elektrische Spannung. Wichtig ist, dass diese Phänomene ohne das produktive Instrumente der wissenschaftlichen Erfahrung nicht zugänglich wären. Man muss hier sehr vorsichtig und präzise formulieren: Heidelberger würde sicherlich nicht bestreiten, dass es etwa elektrische Spannungen auch in der Natur und ganz ohne produktive Instrumente gibt, jedoch ist es für das Verständnis des wissenschaftlichen Experimentierens (und wohl auch des Wissenschaftlichen überhaupt) wesentlich, dass es des produktiven Instruments bedarf, um das Phänomen für die wissenschaftliche Untersuchung zugänglich zu machen. Selbstverständlich könnte man auch durch bloße Beobachtung und sorgsame Beschreibung natürlich vorkommender elektrischer Entladungen einiges über elektrische Spannungen und deren Wirkungen lernen. Fraglich ist allerdings, ob man diese als elektrische Spannungen beschreiben könnte. Um sie aber, in welchem Sinne auch immer, wissenschaftlich zu begreifen, ist das produktive Instrument notwendig, denn es stellt das interessierende Phänomen quasi auf Abruf, bei Bedarf, bereit. Darüber hinaus gibt es allerdings auch produktive Instrumente, die Phänomene erzeugen, deren Vorkommen in der Natur zumindest so unwahrscheinlich ist, dass ihre Beobachtung oder gar ihr Verstehen grundsätzlich auszuschließen ist, so etwa die genannte Supraleitung, der Laser, oder auch der photoelektrische Effekt.
Von den produktiven Instrumenten unterscheidet Heidelberger Instrumente mit konstruierender Funktion. Sie „sind dazu da, die Phänomene so zu beeinflussen und zu bearbeiten, dass sie in einer gewünschten Weise im Labor beherrschbar werden“ (168). Die Ausschaltung störender Einflüsse gehört ebenso zur Aufgabe dieser Instrumente wie die Ermöglichung der Modellierbarkeit und Manipulierbarkeit der Phänomene.
Produktion, Isolierung, Beherrschung und Manipulation der Phänomene gehören für Heidelberger zur ersten Stufe des wissenschaftlichen Experimentierens, zu der produktive und konstruierende Instrumente benötigt werden, genauer gesagt, Instrumente mit produktiver und konstruierender Funktion, denn wie Heidelberger selbst schreibt dient ein konkretes Gerät oft „sowohl als produktives wie als konstruktives Instrument“ (171). Mit ihnen können Phänomene erzeugt wie auch systematisch manipuliert werden. Damit lassen sich kausale Zusammenhänge zwischen Phänomenen begreifen, wenn etwa durch die systematische und wiederholbare Manipulation eines Phänomens ein anderes Phänomen produziert und ebenfalls manipuliert werden kann.
Auf der zweiten Stufe des wissenschaftlichen Experimentierens kommt die symbolische Repräsentation ins Spiel. „Repräsentierende Instrumente haben nun den Zweck, die Abhängigkeit eines Phänomens von anderen Phänomenen symbolisch darzustellen“ schreibt Heidelberger (169). Repräsentierende Instrumente sind diejenigen, die für gewöhnlich als Messinstrumente bezeichnet werden, sie ermöglichen es, das Phänomen als Symbol, und das heißt zumeist, als Zahl darzustellen. Genau genommen sind repräsentierende Instrumente ebenfalls produktive Instrumente, da das erzeugte Symbol, etwa die Stellung des Zeigers oder die angezeigte Zahl, natürlich selbst auch ein Phänomen ist. Man kann die Experimentieranordnung in den Begriffen von Heidelberger als ein kontrolliertes und Stück für Stück zusammengebautes und erweitertes Netz von produktiven und konstruktiven Instrumenten auffassen. Einige dieser Instrumente sind gleichzeitig repräsentierende Instrumente, die von ihnen erzeugten Phänomene sind symbolische Darstellungen für das, was im Experiment produziert und konstruiert wird. Die Verknüpfungen im Netz haben eine Richtung, die Produktion und Konstruktion, sprich beherrschte Manipulation, wird genutzt, um wiederum andere Phänomene zu produzieren und zu beherrschen, bis hin zu einem repräsentierenden Instrument, das die symbolische Repräsentation des Phänomens ist, das eigentlich Gegenstand der Untersuchung ist, zumeist, weil es noch nicht sicher beherrscht wird.
Die verschiedenen symbolischen Repräsentationen der Phänomene können nun von den Instrumenten der realen Experimentieranordnung abgelöst werden und außerhalb des Labors, als Symbole zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die kausale Manipulation der Phänomene im Labor wird durch symbolische Beziehungen repräsentiert, etwa durch mathematische Formeln oder logische Verknüpfungen. Das ist es, was Heidelberger die „Assimilation an die symbolische Form“ (172) nennt. In diesem Prozess wird die kausale Manipulation auf phänomenologische Gesetze abgebildet. Dabei werden einerseits die experimentellen Phänomene in ihrer symbolischen Repräsentation mit Begriffen belegt: Man „misst“ nicht die beobachtete Erwärmung eines Körpers im Experiment, die durch verschiedene Erfahrungstatsachen spürbar wird, sondern deren symbolische Repräsentation, die Temperatur. Zum anderen werden für die Repräsentation der kausalen Beziehung in einer symbolischen Form selbst neue Begriffe geschaffen, insbesondere die Konstanten, die aus den symbolischen Relationen mathematische Gleichungen machen, wie etwa die Gravitationskonstante oder der elektrische Widerstand.
Epistemische Dinge in Experimentalsystemen
Während Heidelberger in seiner „Wissenschaftsphilosophie des Instruments“ die Komponenten der Experimentalanordnung im Fokus hat, betrachtet Hans-Jörg Rheinberger diese zunächst als eine Einheit. Er sieht „in einer Forschungsanordnung oder in einem Experimentalsystem die Kernstruktur, in der die wissenschaftliche Aktivität sich entfalten kann“ (2006, 22). Experimentalsysteme sind „die kleinsten vollständigen Arbeitseinheiten der Forschung“ (25), in denen „zwei verschiedene, jedoch nicht voneinander trennbare Strukturen ineinandergreifen“ (27). Die eine ist der eigentliche „Gegenstand der Forschung“, das „epistemische Ding“ (ebd). Die epistemischen Dinge „verkörpern, paradox gesagt, das, was man noch nicht weiß“ (28). Auch wenn ihnen das eigentliche Interesse der Forschung gilt, haben die Wissenschaftler von ihnen nur eine vage, verschwommene und schwankende Vorstellung, die sich aus den Erfahrungen ableitet, die sie innerhalb des Experimentalsystems gemacht haben. Damit eine solche Erfahrung aber überhaupt möglich ist, muss das Experimentalsystem eine zweite Struktur enthalten, die Rheinberger „als Experimentalbedingungen oder als technischen Dinge“ bezeichnet. „Die epistemischen Dinge werden von ihnen eingefasst und damit in übergreifende Felder von epistemischen Praktiken und materiellen Wissenskulturen eingefügt“ (29).
Wissenschaftliches Experimentieren bedeutet also, mit Hilfe bekannter technischer Komponenten den eigentlichen Gegenstand der Forschung, den Teil des Experimentalsystems, über den noch Unsicherheit besteht, buchstäblich in den Griff zu bekommen. Zu den Experimentalbedingungen gehören dabei nicht nur zuverlässig funktionierende Apparate, Messgeräte und Vorrichtungen, sondern auch gelernte und sicher beherrschte Verfahren und Vorgehensweisen des Experimentierens. In der Biologie gehören zu den technischen Dingen im Experimentalsystem auch standardisierte Modellorganismen (ebd.). An ihrem Beispiel wir besonders deutlich, dass die Grenze zwischen technischen Bedingungen und den epistemischen Dingen nicht „material begründet“ sondern „funktional zu verstehen“ (30) ist. Sie ist fließend. Einerseits kann auch ein Teil der technischen Bedingungen wieder zum epistemischen Ding werden, wenn etwa ihr Verhalten unter bestimmten Bedingungen nicht hinreichend stabil wird, und damit wieder Unsicherheit produziert und auf Unbekanntes verwiesen wird. Andererseits kann ein epistemisches Ding innerhalb des Experimentalsystems zur technischen Bedingung werden, wenn zum einen sein Verhalten hinreichend stabilisiert ist und sich damit eine Frage an ein neues epistemisches Ding innerhalb des Experimentalsystems generieren lässt.
Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Rheinberger mit dem Konzept des Experimentalsystems eine Phänomenologie des wissenschaftlichen Experimentierens entwickelt hat. Einige wichtige Teile dieser Phänomenologie lassen sich für eine allgemeine Phänomenologie des Wissenschaftlichen in der Spätmoderne nutzbar machen. Dazu gehören vor allem die Dynamik von Reproduktion und Differenz sowie die Repräsentation von epistemischen Dingen in Graphemen, Spuren und Inskriptionen. Diese Konzepte sollen deshalb im Folgenden kurz dargestellt werden.
Reproduzierbarkeit spielt in den Wissenschaften eine wesentliche Rolle und es ist bereits darauf verwiesen worden (vgl. oben, Seite 13), dass auch Popper in der Wiederholbarkeit von Experimenten ein wesentliches Charakteristikum wissenschaftlicher Arbeit sah. Reproduktion als Eigenschaft eines Experimentalsystems ist aber zunächst etwas anderes: Ein Experimentalsystem, so kann man sagen, reproduziert sich selbst. Rheinberger schreibt: „Der reproduktive Charakter des Experimentalprozesses hängt damit zusammen, dass er eine nicht abreißende Kette von Ereignissen darstellt, durch welche die materiellen Bedingungen zur Fortsetzung eben dieses Experimentalprozesses erhalten bleiben.“ (90) Zum Experimentalsystem gehören eben mehr Dinge als ein paar Geräte und Materialien für das Durchführen von Experimenten. Mit jedem Experiment im Labor wird nicht nur ein Ergebnis erzielt, sondern ein Verfahren des Experimentierens weiter etabliert, die Routine in der Handhabung bestimmter Messgeräte wird verbessert, wissenschaftlicher nachwuchs wird eingewiesen und ausgebildet, Erfahrungen über das Verhalten der Systemkomponenten werden gesammelt. Damit wird das Experimentalsystem immer sicherer beherrscht und es wächst die Bereitschaft, seine Möglichkeiten weiter auszuloten, die Schwerpunkte der Forschung allmählich zu verschieben und auf neue Felder zu verlagern. Deshalb gehört zur Reproduktion des Experimentalsystems wesentlich die Differenz. „Experimentatoren repetieren unablässig, ohne deshalb an Identitäten interessiert zu sein. Sie suchen vielmehr nach dem, was sie ‚spezifische Differenzen‘ nennen“ (Rheinberger 2006, 96. Zitiert wird hier der amerikanische Biochemiker Robert B. Loftfield).
Wissenschaftlicher Fortschritt ist nach diesem Verständnis also die differentielle Reproduktion von Experimentalsystemen. Einerseits reproduziert sich das Experimentalsystem stabil und sorgt damit dafür, dass die technischen Bedingungen beherrschbar bleiben. Gleichzeitig existieren in ihm epistemische Dinge, die noch unbekanntes bergen und die für die Produktion von Differenzen sorgen.
Wie aber und in welchem Sinne wird in diesen Experimentalsystemen Wissen erzeugt, „wie entfalten diese Systeme ihre epistemische Wirkmacht“ (Rheinberger 2006, 126)? Auch für Rheinberger steht im Zentrum der wissenschaftlichen Aktivität, ebenso wie für die Wissenschaftstheoretiker in der Tradition Poppers, die Repräsentation des Wissens: „im Zentrum dessen, worum es in der wissenschaftlichen Praxis geht, stoßen wir auf das Problem der Darstellung“ (ebd). Allerdings handelt es sich für Rheinberger nicht um logisch aufgebaute Satzsysteme, in denen das wissenschaftliche Wissen dokumentiert wird. Die Repräsentationen entstehen nicht losgelöst vom Experimentieren, sie sind nicht Produkt der Gedankenarbeit des Theoretikers, sondern sie entstehen im Prozess des Experimentierens selbst.
Experimentalsysteme sind so aufgebaut, dass die epistemischen Dinge Spuren erzeugen (2006, 131), Inskriptionen, wie Rheinberger sie auch in Anlehnung an Latour nennt. „Ein Wissenschaftsobjekt wird im Rahmen eines bestimmten Experimentalsystems innerhalb eines Raumes materieller Repräsentation entfaltet und zur Artikulation gebracht“ (Rheinberger 1992, 29). Die „graphematischen Spuren“ bilden erst das „epistemische Ding“ sie „verkörpern bestimmte Seiten des Wissenschaftsobjekts in fassbarer, im Labor handhabbarer Form“ (1992, 29). Als Beispiele aus der biologischen Forschung führt Rheinberger an gleicher Stelle „ein Chromatogramm […] ein DNA-Sequenzgel, eine Reihe von Reagenzgläsern, denen Rundfilter zugeordnet werden, mit denen wiederum Zähleinheiten radioaktiven Zerfalls korreliert werden können“ auf, aus der Physik etwa kann man Aufnahmen einer Nebelkammer und Aufzeichnungen von Messgeräten nennen. Ob ein Laborant nötig ist, der die Aufnahmen macht oder etwa die Anzeige des Thermometers regelmäßig nach einer bestimmten Vorschrift in ein Diagramm überträgt, oder ob die Aufzeichnung durch die Apparatur selbst vorgenommen wird, ist dabei zweitrangig, denn der Laborant gehört, einschließlich seiner erlernten und fachkundig ausgeführten Messtätigkeit zum Experimentalsystem dazu.
Bedeutsam für das wissenschaftliche Experimentieren ist also nicht nur, dass etwas beobachtet werden kann, etwa der Zeigerausschlag eines Messinstruments oder die Verfärbung einer Substanz in der Petrischale, sondern dass diese Beobachtungen aufgezeichnet werden, und zwar innerhalb des Experimentalsystems, durch die technische Umgebung, die die Stabilität dieser Aufzeichnung garantieren. So werden die epistemischen Dinge produziert und selbst stabilisiert bis sie, entsprechend der gewonnenen Grapheme, selbst zu den technischen Objekten im Experimentalsystem werden können, da ihr Verhalten, das in den graphematischen Spuren repräsentiert ist, stabilisiert ist.
Damit dies gelingt, ist noch etwas anderes notwendig, nämlich, dass das Experimentalsystem Modell ist. Rheinberger schreibt an anderer Stelle, „dass das Modellbilden und Modellieren wesentlich zur experimentellen Praxis und damit zur Praxis aller modernen Wissenschaft gehört“ (2006a, 13). Dabei ist „Modell ein Terminus für Substanzen, Reaktionen, Systeme oder Organismen, die zur Herstellung von Inskriptionen […] besonders geeignet sind“ (2006, 135). Rheinberger erläutert dies anhand der „in-vitro“-Systeme, die Modelle für Vorgänge in lebenden Zellen sind. Im Reagenzglas werden Substanzen, die aus lebenden Zellen gewonnen werden, untersucht, wobei es im Experimentalsystem, etwa durch den Einsatz von Zentrifugen, möglich ist, die Konzentration verschiedener Reaktionsprodukte zu ermitteln, was mit lebenden Zellen nicht möglich wäre.
Das Modell ist also ein System, welches im Labor für ein anderes System steht, das der Laboruntersuchung selbst nicht zugänglich ist. Insbesondere ermöglicht das Modell, so von der technischen Umgebung eingefasst zu werden, dass graphematische Spuren, Inskriptionen erzeugt werden, die dann wiederum das Modell und letztlich den Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses repräsentieren.
Experimentalsystem und Instrumente
Sowohl Heidelbergers Wissenschaftstheorie des Instruments als auch Rheinbergers Bild von der differentiellen Reproduktion in Experimentalsystemen sind Beschreibungen dessen, was Hacking die „Eigenleben der Experimentiertätigkeit“ genannt hat. Beide Konzepte sind miteinander kompatibel, sie stehen nicht zueinander im Widerspruch, sondern werfen aus verschiedenen Perspektiven ein Licht auf denselben Gegenstand, und ihre Beschreibungen dieses Gegenstandes, des wissenschaftlichen Experimentierens, ergänzen einander zu einem konsistenten Gesamtbild.
In diesem Gesamtbild besteht die Experimentieranordnung der Wissenschaftler im Labor einerseits aus Komponenten, die Phänomene hervorrufen und manipulierbar machen. Heidelberger bezeichnet diese Komponenten als produktive und konstruierende Instrumente, während Rheinberger sie als technische Umgebung bezeichnet. Allerdings geht Rheinbergers Begriff über die Instrumente, die auf dem Labortisch stehen[3], hinaus, er umfasst auch die erlernten Verfahren der Labormitarbeiter, letztlich auch die Verfahren der Schulung dieser Mitarbeiter selbst, sowie die Prozesse der Bereitstellung aller anderen Voraussetzungen, die das Experimentalsystem braucht, um sich reproduzieren zu können. Da sich Heidelberger bewusst auf die Experimentieranordnung auf dem Labortisch konzentriert, erfasst er diese Verfahren und Prozesse nicht.
Wo aber findet sich in Heidelbergers Konzept das „epistemische Ding“, auf das es Rheinberger ankommt? Es ist nicht das produzierte Phänomen, denn die stabile Hervorbringung von Phänomenen ist gerade die Aufgabe der technischen Umgebung. Die Suche nach dem epistemischen Ding in Heidelbergers Experimentieranordnung macht deutlich, dass dieses nicht unbedingt ein Ding sein muss. Das epistemische Ding steckt in dem kausalen Zusammenhang, welchem das Interesse des Experimentators gilt. Die Experimentieranordnung ist natürlich während der meisten Zeit des Experimentierens nichts Statisches, vielmehr wird sie im Experimentieren erst gebaut, variiert, und angeordnet. Das Experimentieren ist gerade das Herstellen einer Vernetzung von Instrumenten, die den kausalen Zusammenhang erscheinen, Phänomen werden lassen.
Wenn Rheinberger darauf hinweist, dass das epistemische Ding durch die graphematischen Spuren, die es repräsentieren, gebildet wird, dann spricht er genau von dem Prozess, den Heidelberger durch die Funktion der symbolisierenden Instrumente beschreibt. Erst auf der Ebene der symbolischen Repräsentation, darin sind sich Heidelberger und Rheinberger einig, findet das wissenschaftliche Verstehen statt. Dort entstehen die epistemischen Dinge, dort werden die kausalen Zusammenhänge, die in der Manipulation der Phänomene sichtbar werden, als wissenschaftliches Wissen formulierbar.
Das bedeutet jedoch nicht, dass das „Eigenleben der Experimentiertätigkeit“ auf der symbolischen Ebene aufhören würde. Im Gegenteil, diese Ebene, die Rheinberger den repräsentationsraum nennt, gehört zum Eigenleben des Experimentierens noch vollständig dazu. Hier werden die Konzepte formuliert, die Begriffe gefunden, die die epistemischen Dinge letztlich als Teile der technischen Umgebung verfügbar machen. Der Satz vom Versprühen der Elektronen, den Hacking zitiert, gehört in diesen Repräsentationsraum. Durch ihn wird ausgedrückt, dass ein epistemisches Ding, hier die Elektronen als Bündel von messbaren Eigenschaften und graphematischen Spuren, die von ihnen erzeugt werden, verfügbar geworden ist für die Produktion von Phänomenen. Dass auf dieser Basis auch eine Theorie entwickelt in welche die kausalen Beziehungen des Experiments eingeordnet werden können, ist dabei nicht ausgeschlossen, aber auch nicht notwendig.
[1] An dieser Stelle ist ein Nachdenken über die Doppeldeutigkeit des Wortes „Wenn“ im Deutschen lohnend, auch wenn Hackings These im englischen Original mit einem „If“ beginnt, das eindeutiger mit „Falls“ zu übersetzen wäre. Werden die Entitäten erst durch ihren Einsatz als Werkzeug real, oder wird ihre Realität durch diesen Einsatz erst nachgewiesen. Die Frage ist keine bloße Spielerei, denn Hacking selbst schreibt, dass die Experimente „oft die Phänomene erzeugen, die dann Kernstücke der Theorie bilden“ (Hacking 1996, 364) Wenn aber die Phänomene erst im Experiment erzeugt werden, so könnte man vermuten, dass auch die Entitäten, die postuliert werden, um diese Phänomene zu erklären, auch erst dort entstehen.
[2] Hacking führt selbst das Beispiel der Supraleitung an und schreibt, dass es 1957 gelang, „auch die Supraleitung quantenmechanisch zu begreifen“ (1996, 276). Allerdings wurde durch die Theorie damals vorhergesagt, dass es Supraleitung oberhalb einer Temperatur von 30K nicht geben könne. In den 1980er Jahren gelang es jedoch, Supraleitung bei wesentlich höheren Temperaturen zu erzeugen, wofür es zumindest 2011 noch keine theoretische Erklärung gab (vgl. Mann 2011).
[3] Diese bildhafte Sprechweise soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass so manche Experimentieranordnungen gerade in der Gegenwart Dimensionen haben, gegen die ein Labortisch winzig ist. Auch für sie gilt jedoch das hier gesagte in vollem Umfang.