1918 notierte der junge Wittgenstein sein berühmtes Diktum „was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen. Und worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen“. Diese zwei Sätze zeigen, dass vor 100 Jahren die Digitalisierung der westlichen Kultur schon weit fortgeschritten war. Es ist nicht überraschend, dass sie zu den beliebtesten Wittgenstein-Zitaten in der heutigen Online-Welt zählen. Wenn wir über die Situation der heutigen vernetzten Vernunft sprechen wollen, dann müssen wir nicht beim Internet anfangen, sondern bei der Herkunft des digitalen Denkens.
Was heißt heute digital?
„Digital“ das bedeutete einmal, „mit zwei Werten, Zahlen oder Buchstaben, auszudrücken“. Wir haben das Attribut „Digital“ scheinbar von seiner ursprünglichen Bedeutung entfernt. Heute wenden wir es auf alles an, was in seinem Inneren auf dem technischen Prinzip der Zweiwertigkeit beruht. Das Null-oder-eins-Prinzip, die An-oder-aus-Feststellung, und die mathematisch-logischen Regeln, nach denen aus Null Eins wird und umgekehrt, wirken im Innern von Computern und Routern. Somit heißt digital heute scheinbar eben alles, was irgendwie auf Computern und deren Vernetzung beruht.
Aber der Schein trügt. Das Wort digital eignet sich deshalb so gut für die Kennzeichnung unserer Zivilisation als einer digitalen Gesellschaft, weil die Zweiwertigkeit des Digitalen tief in unserem Gebrauch dieser technischen Netzwerke eingeschrieben ist. Man kann sogar sagen: Nicht die Computer und Netzwerkprotokolle sind irgendwo tief in ihrem Innern digital, sondern unsere Kommunikation, unser Wissen, unser Reden und unsere Vernunft sind es.
Logos steht bekanntlich bei den Griechen noch gleichermaßen für die Rede und die Vernunft, die vernünftige Begründung von Wissen. Dass wir heute die Logik allein auf das Feststellen von Wahr und Falsch nach festen Regeln reduzieren, nicht nur in der Mathematik, sondern ebenso im Alltag und in jeder Form des Wissens, zeigt die Digitalisierung als Kulturprozess eindringlicher an als die Nutzungsintensität von Tablets und Smartphones.
Wir fordern die Klarheit im Sagen, mithin also die mathematische Logik im Logos, wie es der junge Wittgenstein tat. Das zwingt ständig zu digitalen Entscheidungen: Wahr oder Falsch, Erfasst oder nicht Erfasst, Enthalten oder nicht enthalten, Klar oder Unklar, ja, sogar Logisch oder Unlogisch. Die Logik sagt, was gilt, was Geltung hat. Sie bringt die Dinge auf den Punkt, der ein Schnitt-Punkt, ein Knoten im Begriffsnetzen der vernetzen Vernunft ist.
Digitale vernetzte Vernunft
Die so verstandene wissenschaftliche Logik zwingt uns auf die Bahn der digitalen Vernunft. Diese bildet die Wirklichkeit in eine Welt der definierten Dinge ab. Die Dinge werden Kategorien zugewiesen, welche Attribute vorgeben, die wir messen und protokollieren können und die verstandenen Gesetzen gehorchen. Dieses Denken hat Martin Heidegger im Wintersemester 1951/52 als das „eingleisige Denken“ bezeichnet. Wir können es heute treffender die vernetzte Vernunft nennen.
Die vernetzte Vernunft ordnet ihr Wissen in Begriffsnetzen. Die Vielfalt und Differenziertheit der Wirklichkeit wird auf eine Welt von klaren abgegrenzten Begriffen abgebildet, die durch logische Relationen miteinander verbunden sind. Ein einfaches Beispiel soll dies erläutern. Ein Kind beobachtet zum ersten Mal Schneekristalle, es sieht die Vielfalt der Formen. Die Eltern weisen es auf die sechseckige Sternenform hin. Kaum einer der Kristalle genügt dieser Form. Manche sind zerbrochen, andere ungleichmäßig gewachsen. Sie haben sich ineinander verhakt, sind zusammengewachsen. Diejenigen, die dem Ideal besonders nahe kommen, werden bewundert, sie werden als wahre, schöne, wunderbare Schneekristalle bezeichnet. Sie werden gemalt. Die Bilder werden im Kinderzimmer aufgehängt. Sie werden fotografiert und im Internet hochgeladen. Wir suchen im Internet nach Bildern von Schneekristallen und finden lauter schöne, fast ideale Exemplare. Bald betrachten wir den Schnee draußen vorm Fenster nicht mehr so genau. Wie ein Schneekristall aussieht, lernen wir im Internet. Aber die Digitalisierung des Schnees hat nicht mit dem digitalen Fotoapparat begonnen, sondern mit dem digitalen Blick auf die Lebenswelt.
In meiner Welt sind Schneekristalle symmetrische Sterne mit sechs Strahlen. Ich kann sie klar vom Hagel und vom Graupel abgrenzen. Ich kann über sie kommunizieren in den Netzwerken, die mich mit anderen Menschen meiner digitalen Kultur verbinden. Ich verstehe den Wetterbericht, ich kann bei Facebook mit einem fremden Menschen darüber streiten, ob es gerade schneit oder graupelt.
Die Wahrheit liegt im Dazwischen
Heidegger hat das, was wir hier als vernetzte Vernunft bezeichnen, das eingleisige Denken genannt und ihm genau genommen den Namen Denken verwehrt, denn er sagt „Das Bedenkliche an unserer bedenklichen Zeit ist, dass wir noch nicht denken“. Aber wir sind doch sehr erfolgreich mit der vernetzten Vernunft. Das ist richtig, und niemand wollte bestreiten, dass die vernetzte Vernunft eine nützliche Sache ist. Wir formen uns die Wirklichkeit nach unserem digitalen Bilde um, wir schaffen uns in der Wirklichkeit die Gleise, auf denen unsere Denken, aber auch wir selbst zügig zu Zielen kommen. Sie bringen uns zu Knoten in den Netzwerken, die wir gebaut haben. Von diesen Knoten aus brechen wir zu weiteren Netzwerkknoten auf, die Wegweiser an den Verzweigungen geben uns die Entfernung zum Ziel an. Das gilt für das digitale Denken ebenso wie für die digitale Kommunikation und das digitale Handeln.
Aber es könnte ja sein, dass ein Ziel im Dazwischen liegt, sei es die Wahrheit oder das Ziel des Willens. Wir merken es daran, dass die Sehnsucht, die Intuition oder das Gewissen uns sagt, dass die rationale richtige Antwort nicht die Wahrheit sein kann, dass wir mit den Wegen und den erreichten Orten in den Netzwerken unzufrieden bleiben. Das hat auch der junge Wittgenstein gesehen, der im Tractatus auch schrieb: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsrer Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“
Wir werfen Netzwerke über die Wirklichkeit, um die Realität einzufangen. Netzwerke aus Begriffen, Netzwerke aus Personen. Netzwerke bestehen aus kategorisierten Objekten, miteinander verknüpft werden können und deren Verknüpfungen wieder lösbar sind. Das geschieht nach klaren Regeln, nach Standards und Protokollen. So können wir Netzwerke umbauen und erweitern. Aber das Dazwischen bleibt unberührt, auch wenn es gefangen ist. Und wenn auch das Netzwerk als Ganzes Stabil bleibt, ist die einzelne Verbindung immer prekär.
Netzwerk und Gewebe
Das menschliche Denken gehorcht nie den Zwängen der vernetzten Vernunft, es schlüpft durch die Maschen. Intuition, Sehnsucht und Gewissen lassen sich nicht in Standards und logische Rationalität pressen, wenn wir logisch hier eben als Logik-gemäß und nicht als Logos verstehen. Das menschliche Denken ist kein Vernetzen, sondern ein Spinnen und Weben. Es baut Trampelpfade am Verkehrsnetz, es lagert sich als Filz an den Knoten und Verbindungen des Netzwerks an
Das Internet kennt beide Prinzipien: Netzwerk und Gewebe. Nicht von ungefähr bezeichnen wir es mal als Net und mal als Web. Hannah Arendt schreibt in Vita Activa, dass „Handeln darin besteht, den eigenen Faden in ein Gewebe zu schlagen, das man nicht selbst gemacht hat“. Das ist etwas anderes, als sich zu vernetzen. Und so, wie wir handeln, denken wir auch, wenn wir es denn schaffen, zu denken. Wo die vernetzte Vernunft regelkonforme Schlussfolgerungen zieht, beginnt das Denken zu sinnieren, zu reflektieren, in den Sedimenten der Erfahrungen zu suchen
Nicht das Internet ist digital, sondern die vernetzte Vernunft, die allerdings mit der Ordnungsmacht des Net-Prinzips versucht, das Net vom Wildwuchs eines Gewebes frei zu halten. Wo Spekulation durch logisches Schließen bekämpft wird, wo schillernde Begriffe auf den Punkt gezwungen werden, ist die Ordnungsmacht des digitalen Denkens, der vernetzten Vernunft am Werk. Sie kann Fortschritte und erstaunliche Werke zu ihrer Rechtfertigung vorweisen. Aber sie digitalisiert uns, sie zwängt uns ins Netz.