Die Paradoxien des Zenon von Elea gehören zu den einflussreichsten Erzählungen der Philosophiegeschichte. Dabei ist ihr Einfluss selbst paradox: von ihrer ersten Erwähnung bei Aristoteles an gelten sie als „widerlegt“ und doch kommen die Philosophen, und nicht nur sie, immer wieder darauf zurück.
In den bekanntesten Paradoxien von Zenon kommen Personen oder Gegenstände vor, die in Bewegung sind. Stellen wir uns eine Person vor, die von einem Ort zum anderen laufen will, dann muss diese Person zunächst bis zur Mitte der Strecke laufen, davor muss sie erst bis zu dem Punkt laufen, der in der Mitte zwischen dem Ausgangspunkt und dem Mittelpunkt liegt, usw. Es ist klar, dass diese Person am Ende gar nicht vom Fleck kommen kann, denn sie muss, bevor sie einen sehr nahen Ort erreicht, zunächst wieder erst den Ort erreichen, der auf halber Strecke liegt – und das bis zur Unendlichkeit.
Schon Aristoteles meinte, Zenon widerlegt zu haben, indem er mit den Strecken auch die benötigte Zeit in immer kleinere Teile teilte. Heute nutzt die Physik die Infinitesimalrechnung, und mit einer Differentialgleichung kann man genau beschreiben, wie der Weg von der Läuferin innerhalb einer bestimmten Zeit zurückgelegt wird.
Aber spricht Zenon wirklich über eine Person, die läuft? Ist sein Problem gar dadurch gelöst, dass man auf diese zeigen kann und praktisch erweisen kann, dass sie doch ihr Ziel offenbar erreicht hat? Ist Zenon spätestens dadurch „widerlegt“ dass die heutige mathematik eine Formel für die Bewegung gefunden hat?
Ein anderes Paradoxon macht vielleicht deutlicher, worum es Zenon in all seinen Gleichnissen letztlich geht: Ein fliegender Pfeil befindet sich jetzt an einem bestimmten Ort. An einem bestimmten Ort zu sein, bedeutet aber, sich gerade nicht zu bewegen. Wenn er sich bewegt, ist er eben nicht dort. Ein fliegender Pfeil, der an einem bestimmten Ort „ist“ kann sich mithin nicht bewegen.
Man könnte wieder meinen, dass spätestens die Formulierung der klassischen Physik durch Newton dieses Paradoxon aufgelöst hat, denn Newton setzt Ruhe und geradlinig gleichförmige Bewegung gleich. Aber das nützt nichts, weil die Bewegung, die Zenon als nicht denkbar aufweist, ja von einem ruhenden Beobachter aus betrachtet wird.
Zenon spricht von der unmöglichkeit der Bewegung. Es wäre aber absurd, zu glauben, dass ihn die räumliche Bewegung von Personen, Schildkröten und Pfeilen interessiert, nur weil diese in seinen Geschichten auftauchen. All diese Geschichten sind ja nur Gleichnisse, und Bewegung ist ein viel weiterer Begriff, der alle Veränderung, alles Werden und Vergehen umfasst.
Das eigentliche Paradoxon ist: Wenn wir ein Ding als So-seiend auffassen, dann können wir keine Veränderung denken.
Nehmen wir die schwarze Hose, die ich gerade trage. Sie war mal schwarz, genau genommen. Heute ist sie grau. Aber wann ist sie „grau geworden“? Gestern war sie auch schon grau, auch schon vor einer Woche. Als ich sie gekauft hatte, war sie noch schwarz, in den Tagen und Monaten danach auch noch. Wann war sie nicht mehr schwarz? War sie vielleicht nie wirklich schwarz? Ist sie vielleicht auch heute noch nicht grau?
Man sieht: Es ist schwierig, Veränderung zu denken, wenn wir zugleich sagen, dass etwas so und so ist. Und diese Schwierigkeit begleitet uns überall. Ich sage: Dies ist mein Standpunkt. So denke ich darüber. Jemand sagt: Früher hast du aber anders gedacht! Selbstkritisch fällt mir auf: Ich hatte eigentlich immer einen „klaren und festen Standpunkt“ – aber irgendwie ist der nicht mehr derselbe wie früher. Hatte ich vielleicht nie einen Standpunkt? Bin ich immer in Bewegung?
Zenon weist uns darauf hin, dass mit unserem Weltbild, nachdem die Dinge so und so sind, irgendwas nicht stimmen kann, denn wenn die Dinge so wären, gäbe es keine Veränderung, und wenn es Veränderung gibt, dann können die Dinge nicht so sein, sondern sind immer schon anders, als wir meinen, wie sie sind.
Es mag sein, dass Zenon selbst aus diesen Überlegungen geschlussfolgert hat, dass jede Veränderung nur Illusion ist und die wirklichen Dinge sich gar nicht verändern. So stellt Aristoteles ihn dar. Viele Menschen heute sind zwar sicher, dass Pfeile fliegen, dass Läufer ihre Ziele erreichen und dass Archill die Schildkröte einholt, aber dass Menschen sich verändern, dass die Guten schon nicht mehr die Guten sind und die Bösen schon nicht mehr die Bösen, das glauben sie nicht. Oft haben sie ein klares Bild von der Welt und sagen „So ist das!“ – und wundern sich, dass es plötzlich dann doch ganz anders ist, als es war.
Jedenfalls ist eins klar: Entweder, die Dinge sind so, wie sie „sind“, oder alles ist dauernd anders, als es ist. Beides zusammen geht nicht. Das hat uns Zenon gezeigt. Deshalb nannte Hegel ihn den „Anfänger der Dialektik“.
Ein Gedanke zu „Zenon – „der Anfänger der Dialektik““
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