Warum ist überhaupt etwas…

Oft werden die drei Fragen Kants (Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – wahlweise ergänzt um Was ist der Mensch?) für die Grundfragen der Philosophie gehalten, weil kant selbst sie als für sein eigenes Denken so wichtig angesehen hat. Wirklich grundlegend scheint mir aber die Frage zu sein, die Leibniz zuerst gestellt hat:

Warum ist überhaupt etwas, und nicht vielmehr nichts?

In meinem Buch „Der plausible Gott“ wird es zwei längere Endnoten  zu dieser Frage geben, und die erste, die mir besonders wichtig ist, stelle ich hier zur Diskussion:

Die alte Frage der Philosophie „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts“ wird oft in einer viel zu einfachen Weise verstanden, auch wenn es um die Existenz Gottes geht, der als Antwort auf diese Frage gesehen wird. Genau besehen ist das Verwunderliche nicht, dass irgendwas „da ist“, dass Materie im Universum vorfindlich ist (wir werden auf diese Deutung der Frage in der Fußnote 34 zurückkommen). Verwunderlich ist, dass das, was „da ist“, eben etwas ist, und nicht nichts. Das gilt nicht nur für Dinge, die wir Menschen selbst geschaffen haben, wie etwa Tablets und Smartphones mit ihren Apps. Dass das da draußen „ein Baum“ ist, dass dort, genauer betrachtet, Stamm, Wurzeln, Äste und Blätter sind, die auf bestimmte Weise zusammenspielen, dass wir, bei genauerem Hinsehen, dann bemerken, dass da Zellen sind, aus denen der Baum mit seinen Bestandteilen wieder besteht, und so fort, das ist das bemerkenswerte, das uns ins philosophische Staunen versetzt – und zwar gar nicht in dem Sinne, dass all dies irgendwie Bestandteile oder Ergebnisse eine selbstorganisierenden Materie sind, sondern dass all dies eben Bedeutungen hat, und zwar auf jeder Ebene der Betrachtung, sei es der Baum im Ökosystem des Waldes und der Wald im klimatischen System der Erde oder seien es die Blätter, die Bedeutung für den Baum haben im Zusammenspiel mit den Kanälen, die den Baum von den Blättern bis hin zu den Wurzeln durchziehen. Die Frage, die die obige Grundfrage der Philosophie, warum überhaupt etwas sei und nicht vielmehr nichts, aufwirft, ist zunächst gar nicht die nach der Materialität dessen, was da ist, überhaupt, sondern, dass alles, was ist, eben zugleich etwas ist, und dass es nichts gibt, was nichts ist. Alles, was ist, ist etwas und hat als dieses Etwas Bedeutung in seiner Umgebung im Zusammenspiel mit anderem, das auch etwas ist. Die Grundfrage müsste deshalb genauer formuliert werden: Warum ist offenbar alles, was ist, auch etwas, warum ist kein Ding nichts (in dem Sinne, dass es keinerlei Bedeutung hat).

Man könnte nun vermuten, dass diese scheinbar unhintergehbare Tatsache, dass alles, was da ist, eben auch etwas ist, nur durch unsere menschliche Sicht auf die Welt so erscheint, dass all das nur für uns so scheint, als ob es etwas ist, dass wir mit unserer begrenzten und spezifisch menschlichen Vernunft es sind, die den Dingen, die eigentlich bedeutungslos sind, Bedeutung geben (oder zuschreiben). Es ist sozusagen unserem endlichen Weltverstehen geschuldet, dass wir meinen, dass die Dinge auf den verschiedenen Ebenen Bedeutungen haben. Wir sind es, würde man dann sagen, die die Dinge als etwas auffassen, das sie in Wirklichkeit gar nicht sind. Stellen wir uns aber einmal vor, dass wir mit einer anderen Spezies zusammentreffen, die womöglich sogar technologisch weit fortgeschrittener wären als wir, die aber einen Baum nicht als etwas (eben als Baum) auffassen könnten, Gebirge nicht als Gebirge, Planeten nicht als Planeten und so fort. In allem würden sie nur die mikrophysikalischen elementaren Prozesse sehen, die ihnen unmittelbar einleuchten. Gesetzt sogar, dieser Fähigkeit wäre ihr enormer technologischer Fortschritt zu verdanken. Trotzdem würden wir Menschen doch meinen, dass ihnen etwas entgeht, wenn sie einen Stern eben nicht als Stern ansehen könnten, der von Planeten umkreist wird, wenn sie den Baum nicht sehen könnten, der zusammen mit anderen Bäumen einen Wald bildet, wenn sie nicht mal die Photosynthese in den Blättern als tatsächlich ablaufenden Prozess sehen würden, sondern nur die ganz basalen elementaren physikalischen Prozesse (wenn es diese überhaupt gibt).

Es ist natürlich sogar fraglich, ob eine solche Spezies überhaupt technologische Leistungen vollbringen könnte, denn dazu gehört zweifellos, wenigstens einiges in der Welt als etwas mit Bedeutung ansehen zu können, etwa bestimmte Stoffe als Raketentreibstoff. Aber angenommen, sie könnten genau das, nämlich bestimmtes Nützliches als etwas Nützliches betrachten, dann wären wir doch sicher, dass ihnen vieles wahre entgehen würde, wenn sie all das andere nicht als das ansehen könnten, was es ist, etwas im Wechselspiel des Universum bedeutsames, das unabhängig davon etwas ist, ob es etwas nützliches ist.

Es ist also offensichtlich, dass die Welt in ihren Teilen nicht nur von uns Menschen zufällig so aufgefasst werden kann, dass diese Teile etwas mit Bedeutung sind, sondern dass die Welt selbst eben aus diesen Dingen besteht, die immer sich etwas sind – unabhängig davon, ob wir schon erkannt haben, was dies ist, oder nicht.

4 Gedanken zu „Warum ist überhaupt etwas…“

  1. Etwas, was da ist, kann nicht nichts sein, da doch allein das Dasein eine Eigenschaft ist. Da dem Nichts keinerlei Eigenschaften zukommt, kann etwas nie nichts sein.

    1. Das Dasein allein schon ist eine Eigenschaft? Das passt aber nicht zur sonstigen Verwendung des Begriffs, weil Eigenschaften eigentlich immer verschiedene Werte haben können… die Farbe eines Blatts kann Grün oder rot oder gelb sein, die Größe eines Menschen kann 1 m oder 1,8 m sein und so weiter. „Dasein“ hat keine möglichen Werte.

      Die Frage, die hier gestellt ist, würde, bezogen auf Eigenschaften lauten: Warum hat alles Eigenschaften? Warum ist nichts Eigenschaftslos?

      1. Selbst wenn es ein eigenschaftsloses Etwa gibt, wei will man dieses Etwas von dem Anderen unterscheiden?

  2. Lieber Jörg Phil!
    Ich habe mich mein Leben lang mit Theologie, Philosophie und Glaubenspraktiken rumgeschlagen. Dem Ganzen liegen Prägungen der ersten dreißig Jahre meines Lebens zugrunde. Als wesentliche gemeinsame Nenner für jede Form von Theisten und Atheisten zählen der Grad an Unterwürfigkeit, Überheblichkeit, Unsicherheit, Unwissenheit, Machtbesessenheit, Demut und Dummheit. Einfältige nehme ich bewusst davon aus. Denn sie mögen zwar an Naturgewalten und Unerklärliches glauben, beugen sich ansonsten notgedrungen jeglicher Gewalt – selbstredend auch psychischem Druck.
    Soweit mein abblocken dem soundsovielten Versuch, die allermenschlichste Seite von Beeinflussungsgelüsten zu erklären.
    Wenn Du Lust verspürst: Kauf Dir meine 2 erschienenen Bücher. Die nächsten zwei sind in Arbeit – werden aber wohl nie erscheinen, da es von Verlagsseite kein Interesse zu geben scheint. (Bin ja auch nur ein Überzeugungstäter ohne schriftstellerische Meriten…)

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