Zur Logik, zum vernünftigen Sprechen, gehört, dass man bereit ist, Gründe für seine Aussagen anzugeben. Diese Gründe müssen aber wenigstens so sein, dass man vermuten kann, dass der andere sie als Begründung akzeptiert. Wer wahrhaftig ist, muss auch nachsichtig sein: Er weiß, dass es zwischen Begründung und Aussage oft eine Lücke gibt, die aus Gemeinsamkeiten der Diskussionsteilnehmer erst geschlossen werden muss. Zudem wird er vermuten, dass alle Äußerungen des Gesprächspartners – sowohl die Meinungen als auch die Begründungen – sinnvoll verstanden werden können, auch wenn sie mit der eigenen Sprachpraxis nicht zusammenpassen. Ein wahrhafter und nachsichtiger Streit wird nicht mit dem Ziel geführt, die Sprachpraxis des anderen zu korrigieren, sondern den Sinn seiner Äußerungen zu verstehen und die Lücken zwischen seinen Begründungen und den geäußerten Meinungen zu schließen.
Eine notwendige Gemeinsamkeit ist, dass eine gemeinsame Vorstellung davon existiert, wie es zu Ereignissen in der Wirklichkeit kommen kann, welche Gründe als Begründungen für Meinungen dienen können.
In all dem stecken noch viele Begriffe, die geklärt werden müssen, deren Bedeutungen im Moment nur intuitiv erfasst werden können. Auch ich als Autor dieser Serie muss auf Nachsicht hoffen: Geduld derer, die dies lesen, dass vieles, was präziser durchdacht werden muss, Gegenstand weiterer Artikel sein wird. Dazu gehört auch das Verhältnis von Gründen in der Sprache und im Gespräch und den Gründen für das, was in der Wirklichkeit passiert. Dieses problematische Verhältnis ist eben bereits angeklungen.
Alice fürchtet, dass Trump auch die nächste Wahl gewinnt. (Hinweis: Dieser Text erschien zuerst am 17. Dezember 2018 und wird hier unverändert wiedergegeben.)
Welcher Art sind die Gemeinsamkeiten zwischen Bob und Alice, die benötigt werden, damit Bob die Begründungen von Alice als Gründe akzeptieren kann? Wohl gemerkt, es geht noch gar nicht darum, den Grund wirklich als ausreichend für die Aussage, die begründet werden soll, anzunehmen und somit auch der Aussage zuzustimmen. Das Akzeptieren von Gründen ist ein vielstufiger Prozess, und damit Bob der Befürchtung von Alice zustimmt, sind eine Reihe von Gemeinsamkeiten nötig.
Kausalität
Nehmen wir an, Alice hätte als Grund angegeben, dass die Zustimmungswerte für Trump hoch sind, obwohl er eine schlechte Politik macht. Die Gemeinsamkeit, die Alice und Bob auf jeden Fall brauchen, damit Bob diese Begründung für die Vermutung akzeptiert, dass es möglich sei, dass Trump als Präsident wiedergewählt wird, ist, dass hohe Zustimmungswerte zu einem aktiven Präsidenten zu seiner Wiederwahl führen werden. Das scheint nicht viel zu sein. Wichtig ist, dass hier zum ersten Mal das ins Spiel kommt, was gemeinhin als Kausalität bezeichnet wird. Alice und Bob brauchen gemeinsame Vorstellungen davon, wie die Gesellschaft funktioniert: Wer von vielen Leuten gewählt wird, hat Aussichten darauf, Präsident zu werden. Wenn Bob das bezweifelt, ist die Menge der Gemeinsamkeiten sehr gering und es ist fraglich, ob die beiden in begrenzter Zeit überhaupt Einigkeit über mögliche Ereignisse in der Gesellschaft erzielen können. Wir werden auf die vielfältigen Ausprägungen dieser Art von Gemeinsamkeit zurückkommen.
Für den Moment halten wir aber vor allem fest, dass ein Grund dann als Begründung in Frage kommt, wenn dem, der den Grund fordert, einleuchtet, dass es eine Verknüpfung zwischen Grund und Aussage gibt, nach der der Grund das wahrscheinlich macht, was begründet und ausgesagt wird. Warum es diese Verknüpfung gibt, ist dabei ganz belanglos, wichtig ist allein, dass die beiden, Bob und Alice, darüber einig sind, dass es diese Verknüpfung gibt. Es ist noch nicht einmal notwendig, dass sie die Existenz dieser Verknüpfung erklären oder auch nur benennen können.
Das klingt merkwürdig. Wir kennen Systeme solcher kausalen Verknüpfungen, die die Autorität beanspruchen, die richtigen, objektiv geltenden Regeln der Kausalität zu kennen. Sie stützen sich auf die Wissenschaft und die mathematische Logik und auf eine lange Tradition der Untersuchung formaler logischer Schlussregeln. Allerdings müssten wir für diese Systeme, um ihre Autorität zu akzeptieren, zunächst selbst nachweisen oder wenigstens plausibel machen können, dass sie in dem Bereich des Sprechens, in dem wir unsere Diskussion gerade führen, die angemessenen Regeln bereitstellen. Bevor wir uns überhaupt der Frage zuwenden können, wie das gelingen kann, haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Zunächst können wir uns deshalb damit behelfen, dass wir einfach annehmen, dass wahrhaftige und nachsichtige Sprecher über ihre einleuchtenden Weisen des Schließens weitgehend einig sind.
Gleiche und ähnliche Gründe
In diesem Teil geht es um einen Aspekt des vernünftigen Sprechens, der recht einfach zu sein scheint: Die Stabilität oder Kontinuität der Begründungen.
Die These lautet: Für gleiche Aussagen müssen immer wieder gleiche Begründungen gegeben werden, für ähnliche Aussagen müssen ähnliche Begründungen gegeben werden. Umgekehrt muss beim Vorliegen gleicher oder ähnlicher Gründe vermutet werden können, dass jemand gleiche oder ähnliche Meinungen und Erwartungen aus diesen Gründen ableitet.
Warum ist die Kontinuitätsaussage so wichtig? Egal, wie genau die Menschen sich die Kausalität der Gründe vorstellen, Gründe können nur Begründungen sein, wenn sie als Ursachen immer wieder die gleichen Ergebnisse hervorrufen, und wenn sich bei kleinen Änderungen der Ursachen, die man kaum bemerkt, auch die Ergebnisse nicht sehr stark ändern. Über das Verhältnis von Grund und Ursache, sowie von begründeter Aussage und Ergebnis (oder Ereignis) werden wir später noch nachdenken. Klar ist: Wir kennen die Ursachen nie ganz detailliert, wir wissen sogar, dass das, was etwas anderes verursacht, nie ganz exakt zweimal auf genau die gleiche Weise passiert. Wenn wir trotzdem verlässlich mit dem, was passiert, umgehen wollen, dann muss Ähnliches, das sich kaum merklich von anderem unterscheidet, normalerweise auch zu Ergebnissen führen, die sich nur wenig von dem Ergebnis des anderen unterscheidet. Wir können das als die Stabilität oder Kontinuität der Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge beschreiben.
Wenn dann andererseits Ursachen als Begründungen für Aussagen über das, was passieren wird oder passieren kann, herangezogen werden, wenn wir also unsere Vermutungen, Sorgen und Hoffnungen mit der Annahme oder Behauptung von Ursachen begründen, dann muss sich die Kontinuität des Ursache-Wirkungs- Zusammenhangs auch in der Kontinuität der vernünftigen Begründung widerspiegeln.
Wenn Alice an einem Tag ihre Sorge, dass Trump wiedergewählt wird, mit der Beobachtung begründet, dass die Zustimmung zu seiner Politik hoch ist, obwohl er schlechte Politik macht, dann ist es nicht vernünftig, wenn sie sie am nächsten Tag sagt, dass sie vermutet, Trump würde nicht wiedergewählt werden, weil seine Politik immer schlechter wird. Es hat sich an der Begründung für ihre gestrige Sorge nicht viel geändert, also muss auch die Vermutung über das, was geschehen wird, ungefähr gleich bleiben. Allerdings gilt das nicht immer. Es gilt nur, wenn keine neuen Gründe auftauchen, die die Verschiebung begründen.
Bob als nachsichtiger Zuhörer wird Alice also nach den neuen Gründen fragen, die zu der Verschiebung der Erwartung von Alice geführt haben. Das Prinzip der Kontinuität besagt genau genommen nicht, dass eine leichte Verschiebung der Gründe immer nur eine leichte Verschiebung der Erwartungen erlauben darf, sondern dass es vernünftig ist, bei stärkeren Verschiebungen weitere Gründe zu fordern oder zu suchen, die die Diskontinuität begründen.
Verlässlichkeit
Das Prinzip der Kontinuität des Begründens ermöglicht es, unsere Gesprächspartner nicht nur als wahrhaftig und nachsichtig, sondern auch als verlässlich in ihrer Logik anzusehen. Diese drei Eigenschaften vernünftiger Teilnehmer an einer Diskussion genügen als Voraussetzung dafür, dass ein Gespräch über Erwartungen und deren Gründe erfolgreich sein kann. Weitere Bedingungen sind nicht erforderlich, schon gar nicht die Akzeptanz formaler abstrakter Regeln des Argumentierens. Mit diesen drei Voraussetzungen werden wir in den weiteren Teilen dieser Serie die Details einer Logik des vernünftigen Sprechens untersuchen.
Bevor wir das tun, müssen wir uns aber noch über eine Frage Gedanken machen: Was ist, wenn eine oder zwei dieser Voraussetzungen fehlen? Die Voraussetzung der Wahrhaftigkeit ist unabdingbar, wenn ich annehme, dass mein Gesprächspartner lügt oder täuscht, ist ein vernünftiges Gespräch nicht möglich. Ich kann natürlich versuchen, ihm die Lüge nachzuweisen, aber mit welchem Ziel? Er wird es ohnehin immer bestreiten. Anders ist es mit den Voraussetzungen der Nachsicht und der Verlässlichkeit. Hier hilft, wenn man der Meinung ist, dass diese Voraussetzungen nicht gegeben sind, natürlich der Appell an den Gesprächspartner, dass es vernünftig ist, nachsichtig und verlässlich zu argumentieren. Das kann man jedoch nicht erzwingen. Man kann auch dann weiter diskutieren, wenn diese Bedingungen fehlen, ob das allerdings zu einem gelingenden Gespräch führt, muss man bezweifeln.