Wir leben in einer Welt, in der es immer weniger Pflichten, aber immer mehr Verantwortung gibt. In einer Gesellschaft, die die Freiheit des Einzelnen in den Vordergrund stellt, sind Pflichten geradezu widersinnig. Die Wehrpflicht wurde abgeschafft, die Impfpflicht ist heiß umstritten. Ein paar Pflichten haben wir trotzdem noch: Steuerpflicht, Schulpflicht, Unterhaltspflicht (die immer mehr begrenzt wird), Sargpflicht (auch umstritten), Verkehrssicherungspflicht, Räum- und Streupflicht. Manche Pflichten entstehen sogar erst durch die Freiheit: Die Haftpflicht etwa.
Wenn man das so zusammenträgt, ist es gar nicht so wenig, und man könnte sich fragen, ob der erste Satz dieses Textes überhaupt stimmt. Aber fest steht: Pflichten sind nicht mehr selbstverständlich, es ist Mode geworden, Pflichten in Frage zu stellen. Sie werden nicht mehr klaglos akzeptiert, der Staat, der sie aufstellt, muss sie begründen und verteidigen, oder eben abschaffen.
Pflichten verschwinden – Verantwortung wächst
Anders mit der Verantwortung – die wächst. Zuerst natürlich die Verantwortung für sich selbst. Jeder ist für sich selbst verantwortlich in der freien Gesellschaft. Verantwortung wird aber auch gern übertragen oder übernommen. Wir arbeiten eigenverantwortlich. Wir tragen Verantwortung – mit Freuden oder als Last. Wir handeln verantwortungsvoll.
Wenn man das so bedenkt, dann wundert man sich, warum die Begriffe Pflicht und Verantwortung oft synonym verwendet werden, etwa in dem Text „Blut ist dicker als Wasser – Wozu verpflichtet Familie?“ von Barbara Bleisch, den ich gerade in meiner Reflexe-Kolumne besprochen habe.
Man könnte vermuten, dass Pflichten im engeren Sinne diejenigen Aufgaben sind, die uns der Gesetzgeber überträgt, und dass alle anderen Aufgaben, deren Erfüllung uns aufgegeben ist, eben aus der Verantwortung folgen. In einer akkuraten Sprechweise würde das bedeuten, dass es eben familiäre Pflichten nicht gibt, sondern nur familiäre Verantwortung. Familie verpflichtet uns dann nicht in dem Sinne zu etwas, wie uns das Gesetz verpflichtet, wir haben in der Familie streng genommen nur Verantwortung füreinander und die Rede von der Pflicht ist nur eine stilistische, vielleicht eine, die die besondere Bedeutung der Verantwortung betont.
Aber so einfach ist das nicht, denn es gibt doch gewaltige Unterschiede zwischen Pflicht und Verantwortung, und die wirken sich auch auf das Funktionieren von Beziehungen, z.B. in der Familie, aus.
Zunächst mal gibt es Gemeinsamkeiten zwischen Pflicht und Verantwortung. Beide bezeichnen eine Notwendigkeit, aktiv zu werden, die nicht aus dem Subjekt selbst kommt, sondern von außen. Ob ich von mir aus eine Neigung zu der betreffenden Aktivität habe, ist unerheblich. Das gilt auch für die Selbstverpflichtung und die Selbstverantwortung. Immer sind Andere im Spiel, die etwas von mir erwarten, eben z.B., dass ich zu meiner Verantwortung für mich selbst stehe. Verantwortung wird übertragen und übernommen – und diese Transaktionen setzen immer eine Wechselwirkung mit anderen Voraus. Das gilt für die Pflichten ganz genauso, wobei die zwar übertragen werden, aber nicht aktiv übernommen werden müssen – wenn eine Pflicht übertragen wird, dann hat man sie auch schon. Pflichten werden aufgegeben, die kann man nicht ablehnen, jedenfalls nicht, wenn sie rechtmäßig sind und nicht, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.
Zwang oder Freiwilligkeit
Und damit sind wir schon bei den Unterschieden. Verantwortungsübernahme hat immer den Aspekt der Freiwilligkeit, man kann sich verweigern, man kann ablehnen. Pflichten sind einfach da, sie stehen im Gesetz, oder sie gehören zu den so genannten ungeschriebenen Gesetzen. Auch die sittlichen Zwänge der Gesellschaft können wir zu den Pflichten zählen. Wenn wir in einer Gesellschaft lebten, in der es nur unter Inkaufnahme allgemeiner Verachtung möglich wäre, sich einer Aufgabe zu entziehen, dann können wir sagen, dass die Erfüllung dieser Aufgabe in dieser Gesellschaft eine Pflicht ist. Pflicht hat mit Zwang zu tun.
Verantwortung hingegen entsteht überhaupt nur aus Freiheit. Die Übernahme einer Verantwortung ist ein Akt der Freiheit – denn ich könnte die Verantwortung auch ablehnen.
Da Pflichten erzwungen werden können, muss die Erfüllung der Pflicht direkt beobachtet und gemessen werden können. Deshalb sind Pflichten immer an konkrete Handlungen gebunden. Ich habe die Pflicht, dieses und jenes konkret zu tun, und wenn ich das mache, dann habe ich meine Pflicht erfüllt.
Ich habe etwa die Pflicht, meine Kinder zur Schule zu schicken. Wenn die Kinder da jeden Tag auftauchen und ihre Zeit zu den angegebenen Stunden im Klassenraum absitzen, habe ich diese Pflicht erfüllt.
Vielleicht fühle ich mich auch dafür verantwortlich, dass meine Kinder etwas lernen. Eine Möglichkeit, dieser Verantwortung für meine Kinder zu erfüllen, ist, sie zur Schule zu schicken, also der Schulpflicht nachzukommen. Es mag aber sein, dass das nicht ausreicht, es kann sogar sein, dass ich meine, dass die Schulpflicht der Abicht meiner Verantwortung abträglich ist. Eine Verantwortung kann mich in Widerspruch zu meinen Pflichten bringen. Pflichten und Verantwortung müssen nicht in Einklang stehen, und dass ich meine Pflichten erfülle, heißt nur manchmal, dass ich meiner Verantwortung gerecht werde.
Hier klingt bereits an, dass es auch ein Verständnis von Verantwortung gibt, bei der ich die Verantwortung nicht freiwillig übernehme: Dass ich für meine Kinder und deren Gedeihen verantwortlich bin, ist auch eine gesellschaftliche Norm, die ich mir nicht aussuchen kann. Ist das nur eine sprachliche Unsauberkeit, handelt es sich genau genommen um eine Pflicht? Wir kommen gleich darauf zurück.
Pflichterfüllung können wir messen und beobachten, und es kommt nicht darauf an, ob wir damit auch ein bestimmtes Ergebnis erreichen. Einer Impfpflicht genüge ich, wenn ich mich oder meine Kinder impfen lasse, ob wir auch wirklich gesund bleiben oder trotz Impfung krank werden, ist dafür unbedeutend.
Messen und beobachten
Das scheint bei der Verantwortung anders zu sein. Sagen wir etwa, dass ich selbst für meine Gesundheit verantwortlich bin, dann kommt es nicht darauf an, ob ich genau dieses oder jenes getan habe, sondern darauf, ob ich eben gesund bleibe. Es scheint also so, als ob ich auch die tatsächliche Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme messen und beobachten kann: Wenn nicht an der konkreten Handlung, die als pflichtgemäß allgemein anerkannt ist, so eben am Ergebnis.
Aber so einfach ist es nicht. Es kann sein, dass jemand nichts für seine Gesundheit tut, sondern im Gegenteil jedes Risiko eingeht, das allgemein als gesundheitsschädlich gilt, und trotzdem gesund bleibt. Umgekehrt ist es möglich, dass jemand nach allgemein anerkannten Maßstäben gesund lebt, Sport treibt, Obst und Gemüse isst, nicht raucht und nicht säuft, und trotzdem krank wird und stirbt.
Ob jemand verantwortungsvoll ist, ob er seine Verantwortung für etwas oder jemanden wahrnimmt, können wir also weder an der Beobachtung einer konkreten Handlung festmachen, noch am Ergebnis. Lässt es sich also gar nicht beurteilen?
Wir haben die Antwort eben gerade schon gegeben, als wir das Beispiel der Verantwortung für die eigene Gesundheit betrachtet haben. Es kommt in der Tat nicht auf die konkrete Handlung an, wenn wir beurteilen, ob jemand Verantwortung übernimmt, aber es kommt schon darauf an, ob er handelt und wie er handelt. Verantwortliches Handeln ist begründetes Handeln zu dem Zweck, der Verantwortung gerecht zu werden. Wenn ich also sage: Ich bin für meine Gesundheit selbst verantwortlich, also lasse ich mich impfen, weil ich überzeugt bin, dass die Impfung meine Abwehrkräfte stärkt, oder ich esse Obst, auch wenn ich es nicht so mag, verzichte auf Schokolade, weil ich gute Gründe habe, anzunehmen, dass das gut ist für meine Gesundheit, dann handle ich verantwortungsvoll.
Ebenso verhält es sich mit meiner Verantwortung für andere. Es gibt tausend Möglichkeiten, Verantwortung für die eigenen Kinder zu übernehmen, ich kann sie mit guten Gründen in eine Musikschule schicken oder sie auf der Wiese Fußball spielen lassen, ich kann ihnen Mathematik-Nachhilfe geben oder ihnen Geschichten vorlesen. Ich kann nicht alles tun, was vielleicht gut für die Kinder wäre, und schon gar nicht alles, was andere für gut und richtig halten. Aber ich kann mit gutem Gewissen das beste tun, was ich zu leisten in der Lage bin und was ich begründet für gut halte.
Mit diesem Gedanken können wir uns wieder der Frage zuwenden, ob es auch Verantwortung gibt, die ich nicht freiwillig übernehme, sondern deren Übernahme andere, die soziale Gemeinschaft, von mir erwartet. Die Sorge für die eigenen Kinder, für die Eltern und überhaupt für die, die meine Unterstützung brauchen, gehört dazu.
Erwartung der Anderen
In diesen Fällen kann es sein, dass ich zwar nicht die Pflicht zu einer bestimmten Handlung habe, aber eben doch die soziale Norm besteht, dass ich mich kümmere, auf welche Weise auch immer. Wir könnten, um diese Situation von der Pflicht zu einer bestimmten Handlung einerseits und von der Verantwortung, die ich mir selbst auflade andererseits zu unterscheiden, von Verpflichtungen reden. Der Übergang von der Verpflichtung zur Verantwortung ist dabei fließend, denn oft steht hinter der Übernahme einer Verantwortung, die ich freiwillig annehme, eben doch eine gesellschaftliche Erwartung, also eine Verpflichtung.
Eins sollte aber klar geworden sein: Es ist viel einfacher, pflichtgemäß zu handeln, als Verantwortung zu übernehmen. Bei einer Pflicht wird mir genau vorgeschrieben, was ich zu tun habe, und wenn ich das gemacht habe, was mir aufgetragen wurde, dann habe ich meine Pflicht erfüllt, egal, ob das Ziel, das beabsichtigt wurde, erreicht ist, oder nicht. Wenn ich Verantwortung trage, dann muss ich selbst entscheiden, wie ich dieser Verantwortung gerecht werde, was zu tun und zu lassen ist. Ich muss ständig prüfen, ob mein Handeln verantwortungsvoll ist. Ich kann scheitern, wenn trotz meines Handelns das Ziel nicht erreicht wird. Es ist wirklich nicht einfach, ein gutes, gelungenes Leben in Freiheit zu führen.