Die politische Sphäre einer Gesellschaft ist im Wesentlichen dazu da, sicherzustellen, dass alle Menschen, die in dieser Gesellschaft leben, mit den Bedingungen, die ihnen durch das gesellschaftliche Zusammenleben aufgezwungen werden, halbwegs zurechtkommen und halbwegs zufrieden mit ihnen sind. Diese politische Sphäre kann sich im Modus der Stabilität befinden oder im Umbruch sein. Im Modus der Stabilität sind die meisten Menschen mit den Zuständen halbwegs zufrieden, im Modus des Umbruchs führt eine, zunächst oft nicht offenbare, Unzufriedenheit bei einem Teil der Menschen dazu, dass neue Strukturen in der politischen Sphäre gefunden werden müssen. Ziel eines jeden Umbruchs ist das Erreichen einer neuen Stabilität.
Entgegen einiger weit verbreiteter Vorurteile gehen wir hier davon aus, dass keineswegs alle Menschen an der politischen Sphäre beteiligt werden müssen. Wir nehmen an, dass ein Großteil von ihnen sogar an der politischen Sphäre völlig uninteressiert ist, solange sie mit dem, was politisch passiert, halbwegs zurechtkommen und halbwegs zufrieden sind. Es gibt ein Recht darauf, vom politischen Prozess nicht behelligt zu werden und niemand kann dafür kritisiert werden, wenn er sich daran nicht beteiligen möchte. Wir halten es nicht für ein prinzipielles Defizit, wenn Menschen nicht zur Wahl gehen oder zu politischen Themen keine Meinung haben. Die Ansicht, dass der Mensch irgendwie von seiner Natur her ein politisches Wesen sei, ist unbegründet, und auch die Tatsache, dass er nun einmal in Gemeinschaften leben muss, sagt nicht, dass er sich politisch betätigen oder auch nur „interessieren“ muss.
Es gibt deshalb unter den stabilen gesellschaftlichen Systemen auch keine objektive Rangfolge, nach denen wir die einen als „besser“ und die anderen als „schlechter“ beurteilen können. Zumindest gibt es keinen Grund, ein System, das vorgibt, alle Menschen in den politischen Prozess hineinzuziehen, als bestes auszuzeichnen – denn dies würde voraussetzen, dass die betroffenen Menschen das überhaupt und prinzipiell wollten. Um es zugespitzt zu sagen: eine Monarchie, unter der die Menschen zufrieden und in Sicherheit nach ihrem Glück streben können, ist besser als eine Demokratie, in der die Möglichkeiten, dass die Menschen sich glücklich und zufrieden fühlen, nicht gewährleistet werden können. Wir werden im Verlaufe unserer Überlegungen allerdings sehen, dass es gute Gründe gibt, anzunehmen, dass die Monarchie unter den Bedingungen der Gegenwart nicht in der Lage ist, dies zu leisten – die Demokratie, wenn wir das Wort beim Worte nehmen, allerdings auch nicht.
Zufriedenheit der zunächst unpolitischen Bürger mit den politischen Verhältnissen zu gewährleisten ist also die Hauptaufgabe des politischen Systems. Gerade deshalb wird es gesellschaftlich zum Problem, wenn die Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Bedingungen des Zusammenlebens wächst, und das ist unabhängig davon, ob das System Monarchie oder Demokratie genannt wird. Gegenwärtig scheinen wir uns gerade in den Gesellschaften, die demokratisch genannt werden, in einer solchen Situation zu befinden. Es kann dann die Notwendigkeit bestehen, nach neuen Strukturen für die politische Sphäre der Gesellschaft zu suchen.
Ich werde im Folgenden versuchen, zu zeigen, dass wir keine wesentlich neuen Formen der politischen Herrschaft brauchen. Das System, welches wir haben, ist weitgehend für die Bedingungen, unter denen wir leben, in Ordnung. Allerdings sollten wir versuchen, es von ideologischen und normativen Ansprüchen zu befreien. Wir sollten seine tatsächlichen Funktionsprinzipien erkennbar machen und sie nicht mit idealisierten Prinzipien verdecken oder sie umgekehrt an solchen Prinzipien messen um dann ihre Unvollkommenheit zu problematisieren. Wir sollten nüchtern schauen, warum die Mechanismen so sind, wie sie sind, und warum es vielleicht auch ganz gut ist, sie zu akzeptieren.
Viele werden das, was ich hier bisher geschrieben habe, und das, was sie auf den nächsten Seiten finden, wenn sie überhaupt weiterlesen, als reaktionär oder undemokratisch ablehnen. Das gehört genau zu dem ideologischen Spiel, gegen das ich mich, auch in der Reflexion meiner eigenen Wunschvorstellungen, wehre. Wir haben das Wort Demokratie zu einem Idol gemacht, von dem wir einerseits nicht mal so genau wissen, was es bedeutet, an dem wir aber andererseits ständig die Wirklichkeit messen, um zu konstatieren, dass diese eben nicht dem Idol entspricht. Daraus schließen wir alarmiert, dass die Demokratie in Gefahr ist, dass sie tuet oder überhaupt erst herbeigeführt werden muss.
Was also ist los mit der Demokratie? Manche meinen, etwa durch die Wahlerfolge der AfD geriete die Demokratie in Deutschland in Gefahr, denn die AfD lehne ja Grundprinzipien unseres erfolgreichen Demokratiemodells ab. Andere sagen, gerade durch den Zulauf, den die AfD hat, würde das ganze politische System wieder demokratischer, da „das Volk“ wieder eine Stimme erhalte. Paradox ist auch: Jahrzehntelang haben die etablierten Parteien die Bürger aufgerufen, doch bitte zur Wahl zu gehen, sinkende Wahlbeteiligungen wurden als Gefahr für die Demokratie betrachtet. Nun steigen die Wahlbeteiligungen, aber die die da mobilisiert werden, zu Wahl zu gehen, entscheiden sich ausgerechnet für die Partei, der Demokratie-Verachtung vorgeworfen wird.
Die politischen Systeme nach Aristoteles
Der ursprüngliche Begriff der Demokratie stammt ja von den alten griechischen Philosophen her, Aristoteles hat die Regierungsformen als erster systematisch beschrieben. Wenn man Aristoteles beim Wort nimmt, dann hat das, was wir heute in den modernen westlichen Ländern – die wir ja vor allem gern als demokratisch bezeichnen – als politische Systeme etabliert haben, nichts mit Demokratie zu tun.
Demokratie wäre dann nämlich eine Form der politischen Entscheidungsfindung, bei der alle Bürger gleichermaßen an der Herrschaft beteiligt sind, aller gemeinsam die politische Macht tatsächlich ausüben. Alle würden die politischen Fragen nicht nur mitdiskutieren, sondern auch mitentscheiden.
Von der Herrschaft durch alle unterschied Aristoteles die Herrschaft der wenigen und die Herrschaft des Einzelnen. Jeweils machte er eine echte und eine entartete Form aus. Wenn der Einzelherrscher das Wohl aller im Sinn hatte, dann war er Monarch, wenn er nur sein eigenes Wohl verfolgte, war er Tyrann. Auf die gleiche Weise differenzierte er bei der Herrschaft der Wenigen zwischen Aristokratie, bei der die Besten zum Wohle aller herrschen, und Oligarchie, bei der wenige Reiche nur ihr eigenes Wohl verfolgen. Auch bei der Herrschaft aller macht er diesen Unterschied: wenn alle mit dem Ziele gemeinsam herrschen, das Gemeinwohl zu fördern, dann sprach Aristoteles von der Politei – ein Begriff, der wohl nicht zufällig in Vergessenheit geraten ist. Denkt bei der Herrschaft aller hingegen jeder nur an sich und seinesgleichen und nicht an die Gemeinschaft, dann handelt es sich eben um eine Demokratie.
Die Herrschaft des Einzelnen und auch der Wenigen kann bei Aristoteles auch durch Wahl begründet und durch Abwahl beendet werden, in diesem Falle handelt es sich dann etwa um eine Wahl-Monarchie oder eine Wahl-Aristokratie. Auf den ersten Blick sind also die Regierungssysteme der modernen westlichen parlamentarisch organisierten politischen Systeme Mischungen aus Monarchie und Aristokratie, wenn wir einmal annehmen, dass die politischen Kräfte in den Parlamenten und Regierungen nicht im Eigeninteresse, sondern vor allem im Interesse der Gemeinschaft herrschen.
Aber vielleicht sollten wir auf den Begriff der Demokratie ganz verzichten und auch die belasteten Begriffe der Monarchie und der Aristokratie nicht verwenden, da sie allenfalls zur Provokation taugen. Der Verweis auf die Unterscheidungen des Aristoteles sollte nur zeigen, dass über verschiedene Abstufungen der Machtverteilung und deren Vor- und Nachteile schon sehr lange nachgedacht wird, und dass wir heute, wenn wir Demokratie sagen, nicht gerade an die Herrschaftssysteme anknüpfen, die der alte Grieche mit diesem Begriff bezeichnet hatte.
Dazu kommt ja, dass es wenigstens in der modernen Gesellschaft ohnehin schwierig ist, von einem Gemeinwohl zu sprechen und dieses gar normativ über das Wohl eines jeden einzelnen zu stellen. Wie immer man über die Einteilung des Aristoteles denkt, man muss sich klar machen, dass er immer eine Herrschaftsform bevorzugte, die einem kollektiven abstrakten Gebilde, der Gemeinschaft diente, und nicht den einzelnen Menschen. Ein solches Konzept ist uns heutigen ohnehin verdächtig. Das Beste für das Volk oder den Staat oder das Land zu wollen, u d nicht etwa für die konkreten Menschen, die das gemeinschaftliche Gebilde bewohnen, ist uns aus gutem Grund und nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts suspekt geworden.
Was ist Parlamentarismus?
Sprechen wir also schlicht vom Parlamentarismus, wenn das herrschende Gremium eine Delegiertenversammlung ist, deren Zusammensetzung egelmäßig durch allgemeine freie Wahlen festgelegt wird. Wir werden später weiter differenzieren und das Präsidial- sowie das Kanzler-System davon unterscheiden. Außerdem werden wir uns ansehen, wie die Macht der Herrschenden durch weitere Akteure begrenzt, beeinflusst und kontrolliert wird. Begrenzung und Beeinflussung von Macht ist auch eine Form der Machtausübung. Ziel der Überlegungen ist es, anhand eines idealisierten Bildes der Herrschaftsstukturen zu den Schwächen des realen Systems vorzudringen und ein paar Möglichkeiten zu ihrer Behebung zu finden.
Oft wird behauptet, eine direkte, echte Herrschaft durch alle sei nicht möglich, weil die Probleme viel zu komplex seien und nur eine Gruppe von Personen, die sich voll auf diese Probleme konzentrieren kann und von Experten und Beamten unterstützt wird, gelöst werden können. Wir leisten uns sozusagen eine kleine Gruppe von Politikern, geben ihnen Assistenten und Mitarbeiter an die Seite, und lassen die in unserem Auftrag in Vollzeit die Probleme der Gemeinschaft lösen, weil wir selbst nicht genug Zeit haben, um in diese Probleme tief genug einzudringen.
Diese Einschätzung ist fragwürdig, denn selbst, wenn die Probleme relativ einfach, übersichtlich und nahe am Alltag sind, findet sich nur eine Minderheit der Bürger dazu bereit, in die wirkliche Entscheidungsfindung mit einzusteigen. Bürgerbeteiligung reduziert sich zumeist darauf, sich Expertenmeinungen anzuhören, ein paar Fragen zu stellen und am Ende vielleicht einen Leserbrief zu schreiben – und das nicht, weil nicht mehr möglich wäre, sondern weil selbst dazu nur ein Bruchteil der Bürger bereit ist.
Das ist auch kein Übel. Übel wäre, ein politisches System auf der Annahme aufzubauen, dass alle Menschen politische Bürger wären, die den Wunsch hätten, aktiv an der Abwägung und Aushandlung politischer Entscheidungen mitzuwirken. Ein politisches System muss vielmehr so konzipiert werden, dass es jedem, der es wünscht, die Beteiligung am politischen Prozess ermöglich, die Macht derer, die diese Möglichkeit ergreifen, jedoch begrenzt, und den Bürgern im übrigen ermöglicht, weitgehend unbehelligt vom Staat ihrer eigenen Wege zu gehen. Es gibt zudem viele Wege, zum Gemeinwohl beizutragen, der politische Prozess ist nur einer davon, und es überhaupt nicht zu beanstanden, wenn sich nur diejenigen daran beteiligen, die daran Freude haben, während die anderen Brote backen, Autos bauen, Gedichte schreiben oder für Sicherheit sorgen.
Beteiligung der politischen Bürger durch Parteien
Das parlamentarische System hat also zunächst die Aufgabe, denjenigen die Möglichkeit zu geben, sich am politischen Prozess aktiv zu beteiligen, die dies wünschen. Zu diesem Zweck gibt es in jeder parlamentarisch organisierten Gemeinschaft in der Gegenwart die politischen Parteien.
Parteien sind selbstverständlich nicht die einzige Umgebung, in der man sich politisch betätigen kann. Wir werden in einem späteren Text darauf zurückkommen. Für das parlamentarische System stellen die Parteien jedoch das erste und zentrale Element dar, welches politische Teilhabe derer, die politisch arbeiten wollen, ermöglicht. Dass ihr Image gegenwärtig so schlecht ist, ist daher auch ein großes Problem für den gesamten Parlamentarismus.
Warum brauchen wir Parteien? Nicht nur, um dem Wähler die Entscheidung so einfach wie möglich zu machen, das ist nicht einmal ihre wichtigste Funktion. Stellen wir uns einen Moment vor, wir hätten ein parlamentarisches System ohne Parteien. Natürlich könnten sich diejenigen, die im politischen Spiel mitwirken wollen, direkt um Plätze in den Parlamenten bewerben. Es wäre eine regionalisierte Personenwahl denkbar, die zunächst so aussieht, wie die Direktwahl der Wahlkreiskandidaten oder der Bürgermeister und Landräte. Um auf den Wahlzettel zu kommen, benötigt man eine bestimmte Zahl von Unterstützerstimmen, sodass die Liste nicht zu lang wird, mehr wäre nicht nötig.
Klar ist aber, dass auf dieser Liste nicht diejenigen stehen würden, die die besten politischen Fähigkeiten haben. Vielmehr würden die zur Wahl stehen, und sich letztlich auch durchsetzen, die über genügend Ressourcen verfügen, um wahrgenommen zu werden. Dabei käme eine Oligarchie im schlechtesten Sinne des Wortes heraus.
Die Parteien ermöglichen letztendlich jedem, sich aktiv n die Politik einzumischen. Man tritt ein und macht mit. Um zur Wahl aufgestellt zu werden, braucht man nicht viel Geld, sondern Überzeugungskraft und die Fähigkeit, sich Mehrheiten zu organisieren – und das sind Fähigkeiten, die die Bürger zu Recht von ihren politischen Mandatsträgern erwarten.
Das Problem des Filzes
Soweit das Ideal. Jeder weiß, dass die Wirklichkeit komplizierter ist. Als neues Parteimitglied sieht man sich in einer Partei, die schon länger besteht, einer umfangreichen Netzwerk von persönlichen Freundschaften, zweckorientierte Partnerschaften und Abhängigkeits-Beziehungen gegenüber. Parteien sind hierarchische Organisationen, die von Führungspersonen dominiert werden, welche das politische Handwerk sicher beherrschen. Nicht alles ist durchschaubar, nicht immer ist das, was der Newcomer durchschaut, von ihm überwindbar oder nutzbar.
Es ist nicht bestreitbar: das Eindringen in die Verflechtungen innerhalb einer Partei ist für einen Neuling nicht nur schwierig, nicht nur abschreckend, sondern es deformiert ihn auch. Das offensive, geradlinige Neumitglied muss sich einordnen und Kompromisse machen. Es muss andere unterstützen, um selbst unterstützt zu werden, es muss lernen, Entscheidungen mitzutragen, von denen er inhaltlich nicht überzeugt ist.
Dennoch ist die Effizienz der Parteien bei der Einbeziehung politisch interessierter Bürger kaum durch alternative Konzepte erreichbar. Letztlich muss man eben auch akzeptieren, dass gerade die Fähigkeit zum Kompromiss, zum Einlenken, zur Einordnung und zur Demonstration von Geschlossenheit Voraussetzung für das Finden konkreter Lösungen für Probleme mit widersprüchlichen Interessenkonflikten sind.
Es geht auch ohne Programm
Gern werden Parteien in ein politisches Spektrum eingeordnet, man versucht, zwei politische Pole auszumachen und zwischen diesen einen kontinuierlichen Übergang zu definieren, auf dem man die Standorte einer Partei dann einordnen kann. Selbst wenn man dieses Spektrum etwa zu einem zweidimensionalen Feld erweitert, wird man der tatsächlichen Vielfalt der Möglichkeiten, wie der Standort einer Partei bestimmt werden kann, niemals gerecht. Eine Partei muss keinen Standort, kein eindeutigen Programm haben, und eine Vision, ein Idealbild von der Gesellschaft, wie sie sein sollte, zu besitzen, ist nur eine von vielen Möglichkeiten, wie Parteien Identifikationskraft entwickeln können. Parteien können sich auch über ein Thema bestimmen, auf dem politische Tätigkeit möglich ist, wie es die Grünen oder die Piraten getan haben, ohne dass Lösungen für politische Fragen auf dem genannten Gebiet hinreichend vordefiniert sein müssen. Parteien können andererseits auch aus einen Unbehagen an bestehenden Umständen ihre Anziehungskraft entwickeln, ohne dass Einigkeit unter ihren Mitgliedern über die Veränderung dieser Umstände bestehen müsste. Schließlich kann sich eine Partei auch zum Vertreter einer bestimmten sozialen Gruppe erklären, von der sie behauptet, dass sie ganz bestimmte politische Interessen habe.
Wie also eine politische Partei ihre Attraktivität für Mitglieder, Sympathisanten oder künftige Wähler erhält, ist für unsere Betrachtung völlig unwichtig, und wenn wir dafür irgendwelche Normen aufstellen würden, dann würden wir bereits das Feld der analytischen Betrachtung verlassen und hier selbst politisch tätig werden. Das ist aber nicht der Sinn dieses Textes.
Es täte den Vertretern und Anhängern des Parlamentarismus jedenfalls gut, wenn sie neuen Parteien die Option zugestehen würden, sich gerade nicht in einem politischen Spektrum oder Feld einzuordnen. Ob eine Partei eine akzeptable Mitspielerin im parlamentarischen Geschehen wird, ist nicht von einem Kriterienkatalog abhängig, den bereits etablierte Mitspieler aufstellen, sondern einzig davon, ob sie Attraktivität entwickeln kann, für talentierte Mitglieder auf der einen Seite und für Wähler auf der anderen.
Die Geschichte der AfD
An dieser Stelle kann man einwenden, dass es aber durchaus Sache der bestehenden Parteien ist, auf Tendenzen in neuen oder randständigen Wettbewerbern hinzuweisen, die geeignet sind, das parlamentarische System selbst zu zerstören. Dagegen zu kämpfen ist sowohl ihrem Eigeninteresse, da sie einen extremen Wettbewerber entlarven und auf diese Weise klein halten wollen, andererseits natürlich im Interesse des Systems und damit des Gemeinwohls. Das ist aber nur richtig, wenn diese Tendenzen tatsächlich umfassend existieren und nicht nur durch die etablierten Akteure zugeschrieben werden. In diesem Falle kann sich der gute Zweck sehr schnell in sein Gegenteil verkehren, wie der Aufstieg und die Veränderung der AfD in Deutschland sehr schön zeigt. Hier wurde eine konservative und EU-kritische Partei, die durchaus einen legitimen politischen Standpunkt vertrat, von den Konkurrenten zu einer tendenziell rechtspopulistischen oder gar rechtsradikalen Partei umgeschrieben und umgedeutet. Die Konsequenz war, dass sich zunehmend tatsächlich die Wahrnehmung der AfD in eine solche Richtung verschob – allerdings mit der Folge, dass die Partei nun einerseits für politische Aktivisten attraktiv wurde, die tatsächlich rechtsradikale, rechtspopulistischen oder rechtsextreme Standpunkte vertreten, und andererseits von einem großen Anteil der Wähler als attraktiv gesehen wurde, die ihre Wahlentscheidung gern einmal als Protest oder Denkzettel gegen die etablierten Parteien begreifen.
Neugründungen: Lebenselixier des parlamentarischen Systems
Dabei ist es für das parlamentarische System lebenswichtig, dass sich in ihm ständig neue Parteien bilden und schnell an Attraktivität für Wähler und Mitglieder gewinnen können.Das oben beschriebene Problem, dass es für Menschen, die politisch aktiv werden wollen, schwierig ist, in bestehenden Parteien Gehör zu finden und Wirkung zu entfalten, verstärkt die Notwendigkeit, dass Neugründungen von Parteien möglich sind. Diese Option sichert die Vitalität des parlamentarischen Systems. Die letzten Jahre haben gezeigt, dass dies in der Bundesrepublik Deutschland, ebenso wie in Österreich oder in den Niederlanden, möglich ist. Jede dieser Gründungen sollte von den Freunden des Systems willkommen geheißen werden. Welchen Platz eine Partei einmal in einem bestehenden System einnimmt und wie sie das Kräftefeld innerhalb des Systems verändert, hängt vom politischen Wettbewerb ab. Nur die Ausgrenzung radikalisiert einen neuen Mitspieler – durch Ausgrenzung wird er attraktiv für radikale Kräfte und radikalisiert die eigenen Positionen. Durch Integration, durch Einbeziehung in den bestehenden etablierten Wettbewerb verliert er seine Anziehungskraft für die Gegner des Systems.
Verschiebungen der ohnehin verschwommenen Grenzen zwischen den Parteien sind dabei vielleicht für einzelne Mitglieder und Sympathisanten, nie jedoch für das System selbst ein Problem. Wenn sich etwa die CDU auf Gebiete begibt, die zuvor von der SPD besetzt waren, dann ist es völlig unproblematisch, wenn sich auf den frei werdenden Gebieten eine neue Kraft einrichtet. Wichtig ist, dass durch eine Vielfalt politischer Angebote möglichst allen Interessierten ein Betätigungsfeld innerhalb des Systems geboten wird, sodass dieses selbst nicht destabilisiert wird.
Zusammenfassung
Halten wir fest: Mit den politischen Parteien bietet das parlamentarische System denjenigen, die sich politisch betätigen wollen, einen einfachen und niederschwelligen Zutritt. Im besten Falle führen die Mechanismen und Spielregeln innerhalb der Parteien dazu, dass die größten politischen Talente letztlich auch in die entscheidenden Positionen des Systems gelangen. Zu einem politischen Talent gehört Überzeugungskraft sowie die Fähigkeit, Mehrheiten und Kompromisse sowie wechselseitige Verbindlichkeit herzustellen, und genau diese Fähigkeiten braucht der einzelne auch, um in die entscheidenden Positionen innerhalb einer Partei zu gelangen. Für das parlamentarische System ist es zudem wichtig, dass Neugründungen von Parteien möglich sind, und dass diese Attraktivität für Mitglieder und Wähler gewinnen können. Damit ist die zentrale Rolle der Parteien für den Parlamentarismus bestimmt. Wie sie genau wirken und warum es immer Tendenzen zum Verfall gibt, haben wir bisher erst angedeutet. Genauer kommen wir darauf in weiteren Texten zurück, in denen es auch um andere, halbpolitische, Netzwerke und Gruppierungen gehen wird, wie etwa die Medien, die Rechtssprechung, die Wähler und die Lobbyisten. Dies ist keine Rangfolge.
…
Politische Parteien haben im Parlamentarismus drei Funktionen: Sie bieten erstens den Bürgern, die politisch handeln wollen, die Infrastruktur und die Vernetzung, die dazu nötig sind. Zweitens sollen sie sicherstellen, dass die Bürger, die sich selbst nicht am politischen Prozess beteiligen wollen, sich in diesem aber vertreten fühlen, dass sie ihre Interessen berücksichtigt finden. Drittens rekrutieren die Parteien das eigentliche politische Personal, die Politiker, die den eigentlichen politischen Prozess der Entscheidungsfindung und -umsetzung realisieren sollen.
Nicht Parteiprogramm, sondern Angebot
Um die ersten beiden Aufgaben zu erfüllen, braucht eine politische Partei ein öffentliches Angebot. Wir sprechen oft vom Parteiprogramm und meinen damit ein Dokument mit politischen Forderungen, Absichtserklärungen und Gesellschaftsutopien, das in bestimmten Verfahren innerhalb der Parteien ausgehandelt wird. Das öffentliche Angebot wird jedoch zumeist nicht durch das Parteiprogramm an die Bürger gebracht. Vielmehr besteht es in einem komplexen Gewebe von Äußerungen der Parteifunktionäre auf der einen und Wahrnehmungen der Bürger auf der anderen Seite. Das eigentliche Parteiprogramm, sofern es existiert, ist eher ein Dokument der internen Abstimmung in der Partei, es dokumentiert den Konsens- oder Kompromissstand unter den aktiven Parteimitgliedern zum Zeitpunkt seiner Entstehung. Ob eine Partei für einen Bürger attraktiv ist, sei es für seine eigene politische Betätigung, sei es für seine Wahlentscheidung, hängt nicht in erster Linie explizit oder ausdrücklich vom Inhalt des Parteiprogramms ab. Vielmehr sind das Gesamtbild, das die Partei über die vergangenen Jahre vermittelt hat, die tatsächlichen Äußerungen der Parteivertreter sowie Zuschreibungen dritter für das verantwortlich, was die Bürger als Angebot der Partei wahrnehmen. Hier kommt natürlich die mediale Vermittlung der politischen Praxis ins Spiel – dieses werden wir uns in einem späteren Teil des Textes genauer ansehen.
Die Basismitglieder
Einen großen Anteil an der Wahrnehmung des politischen Angebots einer Partei haben allerdings die Mitglieder „an der Basis“ einer Partei. In einem gut funktionierenden parlamentarischen System ist der Übergang zwischen den politikfernen Bürgern auf der einen und den professionellen Parteifunktionären auf der anderen Seite fließend – und an dem Übergang zwischen der unpolitischen Zone der Gesellschaft und dem politischen Prozess in den Parteien und Parlamenten spielen die Basismitglieder eine entscheidende Rolle.
Basismitglieder sind jene Bürger, die sich zum Eintritt in eine Partei entschlossen haben, um ein bestimmtes politisches Profil zu unterstützen, das sie in eben dieser Partei vermuten. Sie bleiben jedoch Freizeit-Politiker, sie zahlen Mitgliedsbeiträge, besuchen Parteiveranstaltungen, beteiligen sich an Diskussionen und Wählen innerhalb der Partei, ohne selbst Ambitionen auf eine Parteikarriere oder auf einen Platz in einem Parlament zu haben. Der Übergang vom Basismitglied zum Parteikader ist jedoch wieder fließend, wer im Vorstand eines Ortsverbandes mitarbeitet und vielleicht auch in einem Ausschuss des Stadtparlaments, ist noch Basismitglied, aber schon im Übergang zum Parteikader.
Man spricht von der Basis einer Partei und assoziiert damit vielleicht zuerst einen hierarchischen, geschichteten internen Aufbau einer Organisation, deren untere Schicht die Basis, das Fundament bildet, die letztlich alles tragen muss und irgendwie dafür sorgt, dass die Partei als Gesamtgebilde stabil existieren kann. Wenn wir den Basis-Begriff so verstehen wollten, sollten wir ihn zur Kennzeichnung des Basismitglieds gleich wieder verwerfen – denn er ist zwar nicht völlig falsch, ist aber ganz ungeeignet, die Rolle dieser Mitglieder in einem funktionierenden parlamentarischen System zu verstehen.
Die Basis einer Partei, das ist nicht die Auflagefläche, auf der die Parteihierarchie ruht. Basis hat hier eher die Bedeutung des Basislagers der Hochgebirgsexpedition, hier findet die Versorgung des Ganzen statt, hier ist die Schnittstelle zwischen der Welt da draußen und denen, die hoch hinaus wollen.
Ein entscheidendes Problem der realen politischen Systeme, die wir gegenwärtig in den modernen westlichen Ländern antreffen, ist nämlich, dass die Rolle des Basismitglieds der Partei unterschätzt wird und dass es zugunsten eines medial und eventgetriebenen Funktionärs-Bildes zurückgedrängt wird. In der Wahrnehmung des unpolitischen Bürgers verkommt das Basismitglied zum Fan der Parteielite, zum gehorsamen Parteisoldaten, der mit seinen Beiträgen den Parteiapparat finanziert, in seiner ehrenamtlichen Arbeit den Wahlkampf organisiert und umsetzt, und durch bloße Beifallsbekundungen die Parteikader aller Ebenen unterstützt.
Aber das ist nicht die Funktion des Basismitglieds, das für das Funktionieren des parlamentarischen Systems eine entscheidende Rolle spielt. Es ist das Bindeglied zwischen unpolitischer und politischer Welt, da es in beiden Sphären zu Hause ist. Es ist den unpolitischen Freunden, Verwandten und Kollegen gegenüber der Vermittler des Angebots seiner Partei, und es ist der Partei gegenüber Vermittler der Erwartungen der unpolitischen Bürger. Das Basismitglied stellt die Verflechtung und Verbindung, die wechselseitige Verwurzelung von Partei und Gesellschaft sicher.
Was tun?
Fragt man, warum die Parteien in der Gegenwart ein schlechtes Image und keinen guten Ruf haben, dann liegt das genau an der Missachtung der Bedeutung der Basismitglieder. Parteien werden in erster Linie durch ihre Spitzenfunktionäre und die politischen Kader wahrgenommen, und diese Wahrnehmung ist zudem medial vermittelt. Die Funktion der Parteiorganisation scheint zumeist darin zu bestehen, ihre Funktionäre zu unterstützen, und anders herum scheint es, als wenn die ganze Parteiorganisation durch die Kaderhierarchie beherrscht wird.
Oft genug ist das Basismitglied selbst vom Spitzenpersonal der eigenen Partei entfremdet, im gesellschaftlichen Umfeld gerät es unter Rechtfertigungsdruck für die Äußerungen und für das Auftreten des Spitzenpersonals in den Medien. Die Folge ist, dass die Basismitglieder politische Diskussionen meiden, dass sie sich in ihrem privaten Umfeld gar nicht mehr zu ihrer Parteimitgliedschaft bekennen und dass schließlich den Parteien die Mitglieder an der Basis ganz davonlaufen.
Will man das parlamentarische System erhalten – und will man vor allem, dass es wieder mehr Akzeptanz in der Gesellschaft gewinnt – muss vor allem die Basis der Parteien als Übergangszone zwischen politischer und unpolitischer Welt gestärkt werden. Basisparteiarbeit muss politische Aktion sein, die Spaß macht, provoziert, Diskussionen befördert und die weit sowohl ins unpolitische (in die Welt der unpolitischen Bürger) als auch ins politische (in die Parteistrukturen) hineinwirkt. Kanzlerwahlvereine werden das Ansehen des Parlamentarismus nicht stärken.
Warum aber kann sich eine politische Partei überhaupt zum „Kanzlerwahlverein“ entwickeln? Mit dieser Frage kommen wir auf die dritte Funktion der Partei zu sprechen, nämlich die Qualifizierung und Rekrutierung des politischen Personals, der potentiellen Abgeordneten und anderen politischen Entscheider (wir werden die Differenzierung der politischen Kader, die sich in einem parlamentarischen System herausbildet, und die im Wesentlichen die Unterscheidung zwischen Legislative und Exekutive bildet, später betrachten).
Wir haben in der Bundesrepublik in jüngster Zeit zwei bemerkenswerte Parteineugründungen gesehen, die der Piraten und die der AfD. Die erste kann man wohl als eine Gründung von unten, die zweite als eine Gründung von oben bezeichnen. Die Entwicklung der internen Strukturen beider Parteien zeigt prägnant die Rolle von Führungspersonal in politischen Parteien auf.
Die Piraten begannen, wie Jahrzehnte zuvor, ohne explizites Führungspersonal, sie setzten auf Entscheidungen durch die Basismitglieder, sie experimentierten mit neuen, technisch gestützten Verfahren der kollektiven Entscheidungsfindung. Bekanntlich scheiterten sie damit. Das liegt zum einen daran, dass sie sich in einem bestehenden politischen System betätigen mussten oder wollten: Sie wollten an Wahlen teilnehmen, und dazu benötigten sie nicht nur Kandidaten, die bereit waren Abgeordnete zu werden, sie müssten auch den Anforderungen der Wahlgesetze entsprechen, müssten also eine bestimmte Struktur aufbauen, in der Vertreter berechtigt waren, verbindliche Erklärungen abzugeben – kurz, sie brauchten Vorstände mit Vorsitzenden und Schatzmeistern.
Aber der Strukturwandel der Piraten hin zur „normalen Partei“ – also in Richtung „Kanzlerwahlverein“ war nicht nur von außen diktiert. Die Mitglieder selbst sehnten sich nach starken Personen, die in der Lage waren, Stimmungen und Standorte in prägnante Worte zu fassen, Personen, hinter denen man sich versammeln, mit denen man sich identifizieren konnte. Menschen, die in der Lage waren, Meinungen klar zu formulieren und Mehrheiten dafür zu organisieren.
Politische Entscheidungen müssen innerhalb begrenzter Zeit getroffen werden, und umso größer und unstrukturierter eine Gruppe ist, desto weniger gelingt es ihr, Entscheidungen innerhalb einer begrenzten Zeit zu finden und als Entscheidung, als Standort der Gruppe zu akzeptieren. Um diesem Dilemma zu entgehen, braucht die Gruppe nicht einmal in erster Linie definierte Verfahren, wie Entscheidungen zu treffen und zu akzeptieren sind – sie braucht Autoritäten, die als Attraktoren fungieren, die – um es einfach zu sagen, die Macht ergreifen und ausüben können.
Eine Gruppe ohne Autoritäten wird auch bei einem ausgefeiltesten Regelwerk nicht zu einem Ende der Diskussion, zu einem „gemeinsamen Standpunkt“ kommen, der letztlich wenigstens auf Zeit als Gruppen-Position in der Gruppe anerkannt wird. Man könnte es gerade in der Anfangszeit der Piraten beobachten: Keine Minderheit akzeptiert den Mehrheitsstandpunkt, wenn sie nicht durch Autorität dazu getrieben wird. Zumeist kommt es gar nicht zur Entscheidung, und wenn doch, dann ist sie schon am nächsten Tag vergessen, weil sich niemand daran gebunden fühlt.
Wie funktioniert diese Autorität? Sie hat, wie alle Beziehungs-Mechanismen einen emotionalen und einen formalen Aspekt. Autorität funktioniert aus Zuneigung, aus Faszination, aus Bewunderung für die Person. Sie funktioniert auf der anderen Seite dadurch, dass der Verstoß gegen die Autorität sanktioniert werden kann. Das Missachten der Autorität in einer Partei wird nicht durch den Ausschluss aus der Partei, aber durch den Ausschluss aus der Partei-Organisation (als Verfahren, in das der politische Mensch sich ja einbringen will) und aus der Partei-Hierarchie sanktioniert. Wer Autorität missachtet, wird ausgegrenzt, er kann nicht mehr so mitspielen, wie er das möchte. Deshalb wird der Widersacher seinen Widerstand zurückstellen, um nicht ganz ausgegrenzt zu werden.
Dass Autorität dies leistet und damit stabile Entscheidungen ermöglicht, hat sowohl mit ihrer emotionalen als auch mit ihrer formalen Kraft zu tun. Einerseits stimmen die Fans der verehrten Autorität zu und distanzieren sich von denen, die die Autorität in Frage stellen. Anderseits kann die Autorität auch Verfahren, die ihre Entscheidung stabilisieren, herbeiführen und beschleunigen.
Die Piraten haben für eine gewisse Zeit solche Autoritäten aufgebaut, sie haben allerdings den emotionalen Aspekt dabei überstrapaziert, weil sie den formalen abgelehnt haben. Dies zeigt: letztendlich kann keine Autorität auf Dauer durch ihr Charisma herrschen, sie muss auch die Verfahren beherrschen und für sich einsetzen können. Herrschaft aus bloßem Charisma heraus ist immer prekär.
Die Gründer der AfD wollten aus dem Chaos der Piraten lernen und konzipierten ihre Partei mit straffer und klarer Organisation und eindeutiger inhaltlicher Ausrichtung. An der Geschichte der AfD kann man sehr gut studieren, dass selbst eine Partei, die klar hierarchisch strukturiert ist und ganz auf das einigermaßen charismatisch und talentiert wirkende Führungspersonal zugeschnitten, von der Basis in eine andere Richtung gedrängt werden kann, als von den Gründern konzipiert.
Sicherlich war die mediale Reaktion, und vor allem die Reaktion der konkurrierenden Parteien, daran nicht unschuldig. Allen voran die CDU sah die AfD als Wettbewerber auf einem Feld der Politik, dass sie selbst allein beanspruchen wollte. Die Taktik der CDU war deshalb, der AfD eine Position zuzuschreiben, die – so hoffte man bei der CDU – für die Wähler nicht akzeptabel war. Die konservativen Standpunkte wurden in zu reaktionären Zielen umgedeutet, die EU-Kritik wurde als Europa-feindlich oder gleich ganz fremdenfeindlich interpretiert.
Die Wirkung war aber nicht, dass die AfD von Beginn an marginalisiert wurde. Hier hatten Medien und etablierte Parteien die Stimmung in den unpolitischen und teilpolitisierten Gegenden der Gesellschaft völlig falsch eingeschätzt. Somit machten sie, und nicht die AfD-Führung selbst, die neue Partei für jene attraktiv, die nicht in ihrem konservativen Denken und in ihrer Ablehnung alles Fremden nicht so radikal waren wie die NPD, aber zur CDU längst keine Nähe mehr spürten. Und die übernahmen die AfD.
Was dann passierte zeigt, dass zumindest in einer jungen Partei, möglicherweise aber auch in einer sehr verunsicherten etablierten Partei, eine Verschiebung der Programmatik von der Basis her möglich ist. Bis heute hat die AfD keine Führungsstruktur, wie sie von einer konservativen Partei zu erwarten wäre. Sie ähnelt in ihrer Hierarchie eher den Grünen oder der LINKEn, bei denen eine Handvoll von Akteuren um den de-facto Führungsposten konkurriert. Weitere Verschiebungen sind da jederzeit möglich (Das gilt gegenwärtig natürlich insbesondere für die LINKE, bei der eine zur Marktwirtschaft-Befürworterin gewandelte Kommunistin Bundestags-Fraktionsvorsitzende ist, während die übrigen Führungspersonen mit sozialen und sozialistischen sowie pazifistischen Allgemeinplätzen auffallen).
Zurück zur Frage der Dynamik zwischen professionellem Führungspersonal und Basis-Mitgliedern innerhalb politischer Parteien. Die Beispiele zeigen, dass Parteien zu ihrem praktischen „Funktionieren“ die Selbstständigkeit und den permanenten Widerstand der Basis gegenüber dem Führungspersonal ebenso brauchen wie die Akzeptanz eben des Führungsanspruchs ihrer Funktionäre. Parteien brauchen machtwillige Kader, aber sie brauchen auch eine eigenständige Basis, die sich auf Parteitagen lautstark Gehör verschafft.
Es ist an der Zeit, die Innenansicht der Parteien zu verlassen und ihre Funktion innerhalb des parlamentarischen politischen Systems in den Blick zu nehmen. Allerdings müssen wir dazu gleich noch einmal ins Innere der Partei zurückkehren.
Wir hatten gleich am Anfang unserer Serie gesagt, dass die Parteien dafür notwendig sind, dass alle Bürger, die sich an der politischen Herrschaft beteiligen wollen, die politische Macht übernehmen möchten, einen relativ einfachen Zugang bekommen. Würden sie auf eigene Hand in die Zentren der macht vordringen wollen, dann würden sie gerade im parlamentarischen System über Ressourcen verfügen müssen, die die meisten Bürger nicht haben. Das Ergebnis wäre die Herrschaft der Reichen. Der Parlamentarismus soll aber eine Herrschaft derer ermöglichen, die für das politische Geschäft am besten geeignet sind, die verhandeln, überzeugen, Kompromisse schließen und Mehrheiten organisieren können – also eher eine politische Aristokratie als eine Oligarchie.
Um dies zu organisieren, bietet der Parteien-Parlamentarismus zwei Möglichkeiten: Er kann so verfasst sein, dass die Parteien entscheiden, wen sie in die Parlamente schicken, und sich als Partei zur Wahl durch die politisch interessierten Bürger stellen. Wer tatsächlich in die Parlamente kommt, entscheiden dann die Parteien und nicht die wählenden Bürger. Die Bürger entscheiden sich in diesem Fall nicht für Personen, sondern für Angebote der Parteien. Wer die Personen sind, die diese Angebote im politischen Prozess umsetzen sollen, wird innerhalb der Partei entschieden.
Die Alternative dazu ist, dass sich tatsächlich Personen zur Wahl stellen, die aber von Parteien unterstützt werden. Die Parteien sind dann sozusagen nur Wahlkampf-Organisiationen für Personen.
Genau genommen ist dies aber gar keine wirkliche Alternative, denn faktisch ist eine Wahl für das Parlament immer eine Mischung aus beiden Varianten. Das gilt sowohl dann, wenn im Verhältniswahlrecht eine Partei gewählt wird, als auch dann, wenn im Mehrheitswahlrecht Personen gewählt werden. Denn in beiden Fällen bestimmt die Partei die Kandidaten, auch wenn am Ende tatsächlich eine einzelne Person zur Wahl steht. Zudem schauen die Wähler faktisch auch im Falle der Mehrheitswahl auf die Personen, dort allerdings nur auf die so genannten Spitzenkandidaten, die im Allgemeinen zur obersten Führungsriege der jeweiligen Parteiorganisation gehören.
Wir müssen uns hier deshalb nicht im Detail mit den technischen Differenzen zwischen der Verhältniswahl, bei der die Bürger ihr Kreuz bei einer Partei machen, und der Mehrheitswahl, bei der sie sich für eine Person entscheiden, beschäftigen. Später werden wir noch einmal darauf zurückkommen, wenn es um die Vor- und Nachteile der beiden Varianten für die Legitimität der Machtausübung durch Personen geht.
Im Moment halten wir fest: Wer tatsächlich in die Parlamente kommt, das entscheiden die Bürger nur sehr indirekt. Genauer: Wer überhaupt die Chance auf Teilhabe an der Macht erhält, wird in den Parteien entschieden, wer es von diesen Kandidaten dann wirklich schafft, entscheiden wenigstens zum Teil die interessierten Bürger bei der Wahl.
Das Prinzip der Zuteilung von Macht an Bürger, die an der politischen Macht teilhaben wollen, ist im Parlamentarismus also das folgende: Zunächst steht es jedem Bürger frei, durch Eintritt in eine Partei oder durch Gründung einer neuen Partei sein Ziel zu verfolgen. Beispiele wie AfD, Piraten, selbst die PARTEI zeigen, dass Neugründungen möglich sind und erfolgreich sein können – wahrscheinlich sogar in Zukunft noch mehr als früher. Innerhalb der Partei muss der machtinteressierte Bürger sich allerdings durchsetzen, er braucht dazu genau die Fähigkeiten, die auch in der politischen Praxis gebraucht werden. Das Angebot, welches die machtwilligen Bürger in der Partei erarbeiten, stellen sie zur Wahl durch die politisch interessierten Bürger – es besteht aus Programmatik auf der einen und aus Personen auf der anderen Seite.
So weit, so gut. Zu betonen ist, dass es für die Legitimität des Verfahrens nicht nötig ist, dass sich möglichst alle Bürger an der Auswahl der Partei-Angebote beteiligen. Es genügt völlig, wenn dies die politisch interessierten Bürger tun. Die Legitimität des Parlamentarismus leidet nur, wenn es politisch interessierte Bürger gibt, die trotz ihres Interesses nicht wählen, weil sie kein passendes Angebot finden oder gar der Ansicht sind, dass der momentane Zustand des parlamentarischen Systems es gar nicht ermöglicht, dass passende Angebote von Parteien erzeugt und vorgestellt werden.
Dabei ist es zweitrangig, ob diese Ansicht faktisch richtig oder „nur gefühlt“ ist, es ist auch irrelevant, ob es vielleicht nur eine Ausrede des eigentlich politisch nicht interessierten Bürgers ist, mit der er sein Desinteresse entschuldigt – es kommt tatsächlich darauf an, ob das parlamentarische System in der Wahrnehmung der Bürger eine ausreichende Vielfalt der Angebote und die Vitalität, neue Angebote zu generieren, besitzt. Es ist im Interesse aller Parteien und des gesamten politischen Personals, dass die Bürger die faktische Lebendigkeit des Systems auch wahrnehmen können. Deshalb sollten die etablierten Akteure z.B. neue Wettbewerber immer erfreut empfangen statt sie „im Keime zu ersticken“. Auch die innere Vitalität von Parteien, die Meinungsvielfalt innerhalb der eigenen Partei sollten eher gestärkt und gezeigt als unterdrückt und versteckt werden.
Intern haben die Parteien also Mechanismen, um aus den Bürgern, die sich an politischer Machtausübung beteiligen wollen, die Kandidaten für politische Ämter auszuwählen. Diese Prozesse bestehen zum Teil tatsächlich aus Wahlen, die Chancengleichheit für jeden sicherstellen. Allerdings werden diese allgemeinen und gleichen Wählen überlagert von Prozessen der hierarchischen Kontrolle, die letztlich die Fähigkeit des aktuellen Führungskaders zur Machtorganisation unter Beweis stellen. Was soll das heißen?
Parteien sind nach dem Regionalitätsprinzip hierarchisch organisiert. Ortsverbände sind zu Kreisverbänden zusammengefasst, diese bilden Bezirksverbände, diese wiederum Landesverbände, an der Spitze steht der Bundesverband. Diese Hierarchie ist jedoch keine zentralistische Kontrollhierarchie, vielmehr sind die jeweiligen Einzelverbände in ihrer Entscheidung auf der nächst höheren Ebene frei, unabhängig von Weisungen von „oben“. Und auch jeder einzelne Beteiligte ist frei in seinen Entscheidungen, das wird durch das Prinzip der geheimen Wahlen gesichert.
Dieser prinzipiellen, formalen Freiheit steht eine informelle Verbindlichkeit gegenüber, die die Freiheit faktisch beschränkt. Diese Verbindlichkeit entsteht dadurch, dass sich die handelnden Akteure bestimmten Prinzipien, impliziten Normen, verpflichtet fühlen. Nehmen wir als Beispiel das Verfahren, wie Kandidaten für eine Landtagswahl auf der Liste der Partei platziert werden. Hier haben wir zunächst eine allgemeine Wahl des Kandidaten des Kreisverbandes. An dieser Wahl kann jedes Parteimitglied teilnehmen, und jedes Mitglied kann auch selbst kandidieren, zumeist läuft das so ab, dass Kandidaten vorgeschlagen werden, die sich dann vorstellen, danach kommt es zu einer geheimen Abstimmung. Das einzelne Mitglied kann nun, anhand des Eindrucks, den ein Kandidat auf ihn gemacht hat, entscheiden, niemand beeinflusst ihn explizit. Oft sind die Kandidaturen auch schon zuvor bekannt, man beschäftigt sich mit den Kandidaten, ihren politischen Ideen und ihrem Talent.
Allerdings gibt es auch schon auf dieser Ebene Verbindlichkeiten. Wenn etwa der Kreisvorsitzende kandidiert und zusätzlich ein bisher wenig bekannter Kandidat von der Basis, dann kann es sein, dass ein Mitglied bei seiner Wahl etwa folgendes überlegt. „Die Vortstellungsrede dieses Kandidaten hat mir eigentlich sehr gut gefallen, auch sein rhetorisches Talent. Aber bisher ist der mir noch nie aufgefallen, wird er die Durchhaltekraft haben, die man für den Wahlkampf braucht? Und wie sieht das in der Öffentlichkeit aus, wenn unser Vorsitzender nicht zum Kandidaten gewählt wird? Wie wirkt das auf unsere Wähler? Und werden wir diesen Newcomer auf der nächsten Ebene auf einen guten Listenplatz bekommen? Der soll sich erstmal in der täglichen Arbeit bewähren und ein paar Funktionen und Aufgaben übernehmen, dann schauen wir weiter. Der ist noch jung genug, eigentlich sogar noch zu jung, der kann es in fünf Jahren noch mal versuchen.“ Unser Mitglied, das so überlegt, macht sein Kreuz beim Vorsitzenden, und stärkt damit natürlich zusätzlich dessen Machtposition, sodass unser Mitglied bei der nächsten Wahl vermutlich genauso entscheidet.
Das alles ist selbstverständlich Teil einer freien Wahlentscheidung, und niemand kann von diesem Mitglied verlangen, dich bitte ausschließlich aus dem aktuellen Eindruck heraus zu entscheiden und nicht taktisch oder gar strategisch zu kalkulieren. Am Ende führen diese Wahlentscheidungen natürlich dazu, dass Machtpositionen Einzelner weitgehend unabhängig von ihren politischen Konzepten oder ihren Talenten gefestigt und auf Dauer gestellt werden. Wenn ein Funktionär innerhalb seiner Parteigliederung für ein Amt kandidiert, dann wird er gewählt – oder er wird gestürzt. Funktionärsstürze wollen aber selbst die Basismitglieder möglichst vermeiden, denn sie meinen, dass dies der Partei und ihren Zielen schadet. Daraus entstehen die genannten impliziten Verbindlichkeiten.
Es lohnt sich, den Fortgang des Prozesses auf der nächsten Ebene zu verfolgen, weil hier die impliziten Verbindlichkeiten von noch größerer Bedeutung sind. Wie gesagt
Wir hatten schon zu Beginn gesagt, dass wir den Begriff der Demokratie vermeiden wollen. An dieser Stelle müssen wir konstatieren, dass der Parlamentarismus keineswegs eine Vertreter-Demokratie ist. Bei einer Vertreter-Demokratie müsste das politische System so eingerichtet sein, dass in der Delegiertenversammlung, also im Parlament, tatsächlich ein Durchschnitt des Volkes vertreten sei. Das wäre etwa durch ein Losverfahren möglich, so, wie Meinungsforschungsinstitute ihre Interviewpartner ermitteln, um eine repräsentative Stichprobe des Volks zu bekommen, könnten auch die Parlamente zusammengesetzt werden. Warum wird das eigentlich nicht getan? Warum fordert niemand ein solches System? Vermutlich ist es so, dass die meisten Leute sich selbst und ihresgleichen nicht zutrauen, selbst politische Entscheidungen, auszuhandeln, zu treffen, durchzusetzen und zu vertreten. Zum anderen, darauf verwiesen wir schon, hat auch nicht jeder Bürger überhaupt Interesse an der unmittelbaren politischen Machtausübung. Also muss die Auswahl schon einmal auf diejenigen eingeschränkt werden, die dies wollen und die es sich zutrauen – und damit diejenigen eine Chance haben, das dann wirklich zu schaffen, gibt es die politischen Parteien. Damit schränkt sich die Verteter-Gruppe schon mal auf eine ganz spezifische Gruppe ein: Bürger, die am politischen Handeln Interesse und sogar Freude haben und die dieses Handeln vielen anderen Möglichkeiten vorziehen: das Leben eines Angestellten, einer Unternehmerin, eine Soldaten, eines Landwirts, einer Wissenschaftlerin usw. Schon dadurch wird klar, dass die politischen Funktionäre das breite Spektrum der Bürger nicht im eigentlichen Sinne vertreten können. Die Bürger schicken nicht einen der Ihren in die Politik, damit dieser sie dort vertrete, sie verlassen sich auf Leute, die wesentlich anders sind.
Das wird durch die Mechanismen innerhalb der Parteien natürlich noch verstärkt. Wenn wir uns die Überlegungen unseres Mitglieds bei der Wahlversammlung ins Gedächtnis rufen wird klar, dass es etwa junge und unerfahrene Mitglieder schwerer haben als Kandidaten für Parlamentswahlen aufgestellt zu werden als Funktionäre, die schon sehr lange in der Partei aktiv sind und dort Reputation und Netzwerke aufgebaut haben. Quereinsteiger haben es, wenn sie nicht über besondere Fähigkeiten verfügen, schwerer gegenüber Funktionären, die von ihrer Jugend an, vielleicht sogar hauptberuflich, in der Partei aktiv waren. Auch das führt dazu, dass originäre Vertreter der Bürger in den Parlamenten selten zu finden sind.
Wir sind weit davon entfernt, diese Umstände zu kritisieren. Im Gegenteil. Diejenigen, die sich in diesen Prozessen durchsetzen, sind vermutlich wirklich die, die für das politische Spiel am meisten talentiert sind, die Kompromisse aushandeln können, die in der Lage sind, Mehrheiten zu organisieren und Interessen gegeneinander abzuwägen und auszugleichen. Letztendlich werden genau diese Fähigkeiten im politischen Prozess gebraucht, sie sind weit wichtiger als inhaltlicher Sachverstand, den man sich immer von Experten oder (im wörtlichen Sinne) sachverständigen Bürgern hinzuziehen kann. Wir sollten aber aufhören, das parlamentarische System normativ in eine Vertreter-Demokratie umzudeuten um dann festzustellen, dass es diesen Anspruch nicht genügt und es deshalb zu kritisieren oder gar abzulehnen.