Im Jahr 1946 notiert Martin Heidegger: „Der phänomenologische Ruf ‚zu den Sachen selbst’, nämlich entgegen dem Erfinden von Theorien und Verrechnen von Ansichten, bleibt in der Geschichte des Denkens ein unverlierbares Verdienst. Doch dieser Ruf trägt nicht weit genug; er wird sogar leicht zur Gefahr, daß in der phänomenologischen Auslegung und Beschreibung das Denken ausbleibt.“[1] Heidegger kennzeichnet sein eigenes Denken hier in der Tradition der Phänomenologie seines Lehrers Edmund Husserl, glaubt aber gleichzeitig, weit über diese Position hinausgehen zu müssen und auch weit darüber hinaus zu gehen.
In Heideggers Vorlesungen und Vorträgen seit den 1930er Jahren geht es oft und ausführlich um die Frage des richtigen Denkweges, welcher die Grenzen des bisherigen phänomenologischen Denkens überwinden soll. Heidegger sucht den Weg an den Abgrund, von dem aus dann nur noch ein Sprung weiter hilft. Der Sprung soll vom Seienden ins Sein – und damit ins Denken führen. Auf den ersten Blick scheint die Methode, die Martin Heidegger auf diesem Weg verfolgt, sich tatsächlich weit von den strengen Verfahren seines Lehrers entfernt zu haben. Zumeist wird schon für das Denken in Sein und Zeit konstatiert, dass es einen Weg eingeschlagen hat, welches mit Husserls Verfahren der eidetischen Reduktion nicht zu vereinbaren sei. Das mag richtig sein. Andererseits sind sowohl Husserl als auch Heidegger nicht bei den methodischen Ansätzen der 1920er Jahre stehen geblieben. Im Folgenden gehen wir der Frage nach, ob und in wie fern das Denken Martin Heideggers tatsächlich so weit von dem seines Lehrers entfernt ist, und ob es wirklich über das von Edmund Husserl hinausgeht. Wir wollen die These aufstellen und überprüfen, dass das Denken Martin Heideggers sich zwar immer von der phänomenologischen Methode Edmund Husserls abzusetzen versucht hat, dass es sich in Sein und Zeit auch auf gewisse Weise deutlich von Husserls ursprünglichem Denken abgrenzen lässt, dass es aber schließlich in einem weiten Bogen wieder in die Nachbarschaft der transzendentalen Phänomenologie zurückkehrt.
Die Verwandtschaft und die Verschiedenheit des Denkens der beiden großen Philosophen der phänomenologischen Tradition des 20. Jahrhunderts, Edmund Husserl und Martin Heidegger, ist Gegenstand vieler Untersuchungen gewesen. An zentraler Stelle ist hier die Schrift Hermeneutik und Reflexion von Friedrich-Wilhelm von Herrmann zu nennen.[2] Von Herrmann konzentriert sich allerdings bei Heidegger auf Sein und Zeit und Werke, die davor erschienen sind. Husserls Krisis-Text[3], in dem sich der Autor ausführlich der Grundlegung seiner phänomenologischen Methode widmet, wird bei von Herrmann nur kurz erwähnt (HR, 114). An die Unterscheidungen von Herrmanns anschließend werden wir uns auf die methodischen Überlegungen in Husserls und Heideggers Werken konzentrieren, die nach 1927 erschienen sind.
Dabei fällt zunächst auf, dass beide Denker in ihren zeitdiagnostischen Bezügen das gleiche Problemfeld diagnostizieren: die mathematische Naturwissenschaft, welche einerseits zur bestimmenden Methode der Wahrheitsfindung erklärt wird, sich aber gleichzeitig von den Sinnfragen und Lebensproblemen der Menschen durch ihre Technisierung entfernt. Mitte der 1930er Jahre schreibt Husserl über die mathematisierte Natur: „Bloß jene Denkweisen und Evidenzen sind nun in Aktion, die einer Technik als solcher unentbehrlich sind. … Das ursprüngliche Denken, das diesem technischen Verfahren eigentlich Sinn und den regelrechten Ergebnissen Wahrheit gibt … Ist hier ausgeschaltet.“ (KW, 49) zu einer ähnlichen Diagnose gelangt Heidegger etwa zur gleichen Zeit, etwa in dem Aufsatz Die Zeit des Weltbilds von 1938. Wir werden diese Analysen in den späteren Abschnitten dieser Arbeit genauer zu verfolgen haben.
Nicht nur in der Zeitdiagnose, an die beide bei der Begründung der Notwendigkeit ihrer philosophischen Untersuchungen anknüpfen, stimmen die beiden Philosophen überein, auch der Gegenstand ihrer Analyse ist an zentralen Stellen immer wieder der gleiche, nämlich das Wesen des menschlichen Denkens. Nicht nur Husserl hat das Bewusstsein immer wieder zum wichtigsten Gegenstand seiner Untersuchungen gemacht, auch Heidegger geht es spätestens seit dem Ende der 1930er Jahren immer wieder um das Wesen des Denkens.
Diese Bemerkungen müssen an dieser Stelle unserer Untersuchung notwendig skizzenhaft im Ungefähren bleiben. Wie weit die Verwandtschaft zwischen dem Philosophieren Husserls und dem Heideggers wirklich geht, und was aus einem Vergleich, der die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen sucht, für weiteres Philosophieren gewonnen werden kann, werden die folgenden Kapitel erst zeigen. Hier soll nur erst angedeutet werden, dass es sich lohnt, entgegen dem üblichen Betrachten nicht die Entzweiung, sondern die Annäherungen zwischen Husserl und Heidegger zu verfolgen.
Häufig, wenn die Differenzen zwischen Husserl und Heidegger in den Vordergrund gestellt werden, werden die grundlegenden methodischen Unterschiede betont. Und in der Tat scheint es auf den ersten Blick, als trennte die beiden Denker schon im grundlegenden Verständnis dessen, was sie philosophierend betreiben und was Gegenstand ihrer Betrachtungen ist, ein Abgrund. Auf der einen Seite Husserl, der Phänomenologie als strenge Wissenschaft entwickeln will, auf der anderen Heidegger, der zwischen Philosophie und Wissenschaft einen trennenden Abgrund sieht. Auf der einen Seite Husserl, der sich sozusagen nach innen wendet und durch Reflexion des Bewusstseins intuitiv zu den Sachen selbst kommen will, auf der anderen Heidegger, der seinen Blick nach außen wendet, auf das menschliche Handeln und die Zwänge schaut, die diesem Handeln auferlegt sind.
Ziel dieser Arbeit ist es jedoch, zu zeigen, dass die Verwandtschaft der beiden Denker viel größer ist, als man zunächst vermuten möchte, wenn man auf die Titel sieht, die beide in pädagogischer Absicht unterschiedlich gebrauchten. Folgen wir statt dessen ihrem tatsächlichen Denkweg, dann finden wir, so ist die Vermutung, die dieser Arbeit den Weg weist, überraschende Gemeinsamkeiten sowohl in den Einsichten, die Husserl und Heidegger gewannen, als auch in ihren Irrungen. Daraus, so ist die Hoffnung, können wir für die eigenen Wege, die wir beschreiten wollen, methodisch lernen und warnende Hinweise ableiten.
Die vorliegende Untersuchung besteht aus vier Teilen. Zunächst werden wir die Entwicklung der phänomenologischen Methode Edmund Husserls vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts nachzeichnen. Husserl hat in verschiedenen Werken immer wieder die Grundsätze seiner Analysen in gesonderten Abschnitten explizit erläutert. Eine Lektüre dieser Texte bildet den Kern des ersten Kapitels dieser Arbeit. Im zweiten Kapitel werden wir aus der so gewonnenen Perspektive der phänomenologischen Arbeit die methodischen Überlegungen Martin Heideggers in den Blick nehmen, die mit dem § 7 von Sein und Zeit beginnen und in den 1930er und 1940er Jahren vor allem in den Schwarzen Heften sowie in verschiedenen Vorlesungen ausgeführt sind. Die Ergebnisse werden in einem dritten Teil zusammengeführt, mit anderen vergleichenden Studien abgeglichen und auf ihre innere Verwandtschaft hin untersucht. Im abschließenden vierten Teil werden die Herausforderungen und Grenzen der phänomenologischen Tradition Husserls und Heideggers, aber auch die Möglichkeiten, diese als Fundament eigenen zukünftigen phänomenologischen Denkens zu nutzen, betrachtet.
[1] Martin Heidegger: Anmerkungen II. In ders.: Gesamtausgabe. Band 97. Herausgegeben von Peter Trawny. Verlag Vittorio Klostermann. Frankfurt am Main 2015. Die Schwarzen Hefte, auf die im Folgenden immer wieder bezug genommen wird, sind als Bände 94-97 der Gesamtausgabe 2014 und 2015 erschienen, sie werden zitiert als GA94 – GA97.
[2] Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutik und Reflexion. Der Begriff der Phänomenologie bei Heidegger und Husserl. Verlag Vittorio Klostermann. Frankfurt am Main 2000. Im Folgenden zitiert als HR.
[3] Edmund Husserl: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Felix Meiner Verlag. Hamburg 2012. Im Folgenden zitiert als KW.