Wahrheit als Unverborgenheit aufzufassen ist ein Thema, welches Heidegger durch sein ganzes Denken über Jahrzehnte begleitet hat. In Sein und Zeit wendet er sich dem Charakter der Wahrheit in §44 a zu. Dort wird (GA2, 288) die Bewährung einer Aussage in ihrem Entdeckend-Sein eingeführt. Eine Aussage ist wahr, wenn sie etwas in seinem Sein entdecken lässt.
Die Aussage ist wahr, bedeutet: sie entdeckt das Seiende an ihm selbst. Sie sagt aus, sie zeigt auf, sie ‚lässt sehen‘ … das Seiende in seiner Entdecktheit. Wahrsein (Wahrheit) der Aussage muss verstanden werden als entdeckend-sein.
(GA2, 289)
Von da aus nähert sich Heidegger dem Begriff der ἀλήθεια mit dem Verweis auf Aristoteles und das Fragment 1 des Heraklit.
Also gehört zum λόγος die Unverborgenheit, ἀ-λήθεια. Die Übersetzung durch das Wort ‚Wahrheit‘ und erst recht die theoretischen Begriffsbestimmungen dieses Ausdrucks verdecken den Sinn dessen, was die Griechen als vorphilosophisches Verständnis dem terminologischen Gebrauch von ἀλήθεια ‚selbstverständlich‘ zu Grunde legten
(GA2, 291)
Es folgt eine existenzial-ontologische Beschreibung des Entdeckens (GA2, 291ff).
Heidegger interessiert hier natürlich nicht die wissenschaftliche Entdeckung, sondern das Entdecken schlechthin, und zwar als Modus des (menschlichen) Daseins. Dennoch ist zu vermuten, dass seine phänomenologische Betrachtung für eine Fundierung des Verstehens des wissenschaftlichen Entdeckens hilfreich sein kann. Aber das müsste natürlich genauer beschrieben werden.
In Der Ursprung des Kunstwerks von 1935/36 kommt Heidegger auf die ἀλήθεια zurück:
Ἀλήθεια heißt die Unverborgenheit des Seienden.
(GA5, 37)
Interessant ist dann für das Verstehen des Entdeckens:
Nicht nur das, wonach eine Erkenntnis sich richtet, muß schon irgendwie unverborgen sein, sondern auch der ganze Bereich, in dem dieses ‚Sichrichten nach etwas‘ sich bewegt, und ebenso dasjenige, für das eine Anmessung des Satzes an die Sache offenbar wird, muß sich als ganzes schon im Unverborgenen abspielen.
(GA5, 39)
Aber wenn man das α in ἀλήθεια als α-privativum versteht, muss man noch einmal genauer nach der Bedeutung der λήθεια fragen. Λήθω ist zwar ‚verborgen sein‘ aber Λήθη und λῆθος sind das Vergessen oder die Vergessenheit. Ziemlich sicher hat Heidegger gerade diese Verwandtschaft von Verborgenheit und Vergessenheit im Sinn, und wenn er von der Unverborgenheit spricht, dann eben von dem, was als das, was es ist, nicht vergessen ist. Entdeckt sein als unverborgen sein bedeutet nicht, dass ein zuvor Unbekanntes nun freigelegt und zu Tage befördert wurde. Es kann durchaus sein, dass es im Bekannten zuvor schon sichtbar war, dass es aber nicht als das entdeckt war, was es ist. Durch das Entdecken wird etwas nicht erst sichtbar, sondern es wird als das sichtbar, was es ist. Im Bekannten kann aber das „sichtbare“ aber nicht verstandene vergessen sein, durch das Entbergen wird es aus dieser Vergessenheit geholt. Man erkennt es dann als eigentlich schon Bekanntes, nur nicht hinreichend und angemessen bedachtes. Deshalb entdecken wir, was wir auch erwarten. Vielleicht ist es sogar so: selbst Albert kann das Loch im Strumpf ja nur als Loch entdecken, wenn er schon wusste, was ein Loch ist, was es bedeutet, wie es entsteht und welche Konsequenzen ein Loch im Strumpf haben kann. Vor der Entdeckung ist dieses Wissen jedoch vergessen, bei der Entdeckung wird sozusagen ja das Loch als ein Strumpf-Loch mit allen Implikationen entdeckt.
In den 1950ern hat Heidegger an verschiedenen Stellen die Beschäftigung mit der ἀλήθεια fortgeführt, prominent in dem Parmenides-Aufsatz (GA7, 237-261) und dem daran anschließenden Heraklit-Aufsatz (GA7, 265-288). Bei Parmenides benennt Heidegger auch die Vergessenheit:
Deren währendes Walten verbirgt sich als Λήθη, der die ἀλήθεια so unmittelbar angehört.
(GA7, 246)
Heidegger findet bei Parmenides die ἀλήθεια als Göttin, wobei er konstatiert
Gleichwohl lässt er im Ungesagten, worin das Wesen der ἀλήθεια beruhe.
(GA7, 252)
Im Heraklit-Aufsatz geht Heidegger bis auf eine Homer-Stelle zurück, um das Wesen des Λήθω zu klären. Der betreffende Satz aus der Odyssee (VIII, 83f) wird, so Heiddegger, von Voss übersetzt mit „Allen übrigen Gästen verbarg er die stürzende Träne“. Heidegger meint jedoch,
ἐλανθανε heißt nicht transitiv ‚er verbarg‘, sondern ‚er blieb verborgen‘
(GA7, 269)
Somit wäre der Satz zu übersetzen mit „den übrigen Gästen blieb er als Tränen Vergießender verborgen“. Das heißt sie sehen ihn zwar, aber nicht als das, was ihn in diesem Moment ausmacht. ἀλήθεια ist also gerade das „als das, was es ist, entbergen“.
1962 (Zeit und Sein, GA14, 3-30)) und 1964 (Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, GA14, 67-90) kommt Heidegger erneut auf die ἀλήθεια zu sprechen. Hier nur noch ein paar Anmerkungen zu dem letzteren, weil Heidegger dort noch einmal direkt zu den oben zitierten Stellen in Sein und Zeit zurückkehrt.
Wenn ich den Namen ἀλήθεια hartnäckig durch Unverborgenheit übersetze, dann geschieht dies nicht der Etymologie zuliebe, sondern der Sache wegen, die bedacht werden muß, wenn wir, was Sein und Denken genannt wird, der Sache entsprechend denken.
(GA14, 85)
Nun kommt Heidegger jedoch zu der Einsicht, dass Wahrheit nicht mit ἀλήθεια gleichgesetzt werden darf.
vielmehr gewährt die ἀλήθεια, die Unverborgenheit als Lichtung gedacht, erst die Möglichkeit von Wahrheit. Denn die Wahrheit kann selbst ebenso wie Sein und Denken nur im Element der Lichtung das sein, was sie ist.
(GA17, 85f)
In einer Fußnote zieht Heidegger den oben zitierten Satz aus Sein und Zeit (GA2, 291) als Beleg dafür heran, „wie der Versuch, eine Sache zu denken, zeitweise wegirren kann“ (GA17, 86).
(Die Zitate folgen der Martin Heidegger Gesamtausgabe (GA), in Klammern der Band der GA und die Seitenzahl)