Der Sinn von Sein

Clara: Now, what’s the plan?
The Doctor: Who says I got a plan?
Clara: ‚Course you got a plan, you took that! [Picks up the umbrella]
The Doctor: Maybe I’m an idiot!
Clara: You’re not! You’re clever, really clever.

Nebelschwaden

Dieser Text ist ein Suchen und Klären. Der Leser, der mir womöglich irgendwann einmal auf dem Denkweg folgt, den ich hier zu beschreiten beginne, möge sich am besten vorstellen, dass ich mich, indem ich diese Sätze schreibe, in einer Situation befinde, die dem Wanderer im Nebel gleicht.

Der Nebel verbirgt nicht alles. Er weht in Schwaden um mich herum, hier und da sind einzelne Strukturen klar erkennbar, manchmal erscheint, verschwommen, eine ganze Gestalt. Das, was sich da zeigt, macht den Eindruck, des genauen Verstehens und Beschreibens wert zu sein. Also taste ich mich durch den Nebel und beschreibe, was ich finde, in der Hoffnung, dass alles Notierte am Ende ein Gesamtbild ergibt, welches die verschwommenen Bilder, die immer nur für einem Moment sichtbar sind und flüchtig bleiben, vor dem geistigen Auge zu einem Ganzen zusammenbringt.

Warum bin ich so sicher, dass da im Nebel etwas verborgen ist, was des Beschreibens und Verstehens wert sein könnte? Vielleicht, um noch einmal die Metaphorik zu bemühen, weil die vielen einzelnen flüchtigen Momente, in denen etwa klar erkennbar scheint, durchaus den Eindruck vermitteln, dass alles besser verständlich wäre, wenn man wüsste, was der Nebel da verhüllt. Am Ende ist es eine Nebelmaschine…

Mir ist wichtig, dass dem Leser, der irgendwann einmal diese Zeilen liest, klar ist, dass ich beim Schreiben kein Gesamtkonzept, keinen Plan und schon gar kein Ergebnis vor Augen habe. Dieses Schreiben ist der Versuch, ein Denken zu protokollieren. Es wird verschiedene Neuanfänge geben, Wiederholungen, und immer wieder Fragen, Fragen an Fragen, Fragen nach dem Sinn von Fragen, nach der Art des Fragens. Das Fragen ist die Methode, Antworten zu finden.

Zuerst müssen die Fragen, die sich stellen, gestellt werden. Ich nehme diesen Satz wörtlich. Fragen stellen sich.

Genug der Metaphorik. Beginnen wir mit ein paar einfachen Sätzen:

Das dort ist ein Blatt.

Dieses Blatt ist grün.

Ein Blatt ist Teil einer Pflanze.

Eine Pflanze ist ein Lebewesen.

Das gemeinsame dieser Sätze ist das Wort „Ist“. Ein kleines Wort, das es nicht mal in jeder Sprache gibt, das Russische etwa verzichtet in der Gegenwartsform ganz darauf. Trotzdem werden auch in dieser Sprache, wie wohl in jeder anderen menschlichen Sprache, ständig Sätze gebildet, die den Sinn des „Ist“ zum Ausdruck bringen.

Wir verwenden ständig dieses „Ist“ oder andere Abwandlungen des Verbs „sein“. Das bedeutet, dass uns der Sinn des Worts auf irgendeine Weise erschlossen sein muss – und indem ich diese Sätze schreibe, verwende ich ebenfalls das Wort „sein“ und bin sicher, verstanden zu werden. Gerade die häufige, ständige, beiläufige, selbstverständliche Benutzung von „Sein“ sollte uns stutzig machen. Was bedeutet „Sein“?

Clara: So what do we do? Time for a plan, do you have a plan?
The Doctor: Well, no. No plan, sorry.
Clara: If you don’t have a plan we’re dead!
The Doctor: Yes. We are. So just tell me.

Erwartungen an Philosophie

Was ist der Sinn von Sein? Man mag diese Frage für ausgesprochen belanglos halten und in Anbetracht der großen bedrängenden Fragen, die uns tagtäglich in den Nachrichten begegnen, sogar mit Befremden von einem Text hören, der sich die Frage nach dem „Sein“ zum Thema gemacht hat. Selbst die Philosophen, denen man gern nachsagt, sich mit den unwichtigsten und abwegigsten Fragen zu beschäftigen, fragen selten ganz ausdrücklich nach dem „Sein“. Der letzte, und zugleich einer der Wenigen, die sich mit der Frage nach dem Sein eingelassen haben, war Martin Heidegger – jedenfalls unter den Philosophen, die es zu einiger Bekanntheit gebracht haben. Heidegger war sogar sein ganzes philosophisches Denken hindurch von dieser Frage nach dem Sein ganz in Anspruch genommen. Zugleich zählt er zu denen, die sich eben nicht den Fragen gestellt haben, auf die die Menschheit zu seinen Lebzeiten Antworten erhofft hat. Dafür wurde er im besten Fall belächelt, oft jedoch verurteilt.

Heute glaubt die Philosophie, dass sie Orientierung geben muss bei den unmittelbar bekannten, bedrängenden Herausforderungen, vor denen die Menschheit steht. Die Fragen nach dem Klimawandel, nach den großen kulturellen Konflikten, die Frage nach der Verteilung des Reichtums unter den Menschen, nach sozialem Frieden, nach Krieg und Frieden überhaupt. Philosophen schicken sich an, zu Propheten oder zu Warnern und Beschwörern der Zukunft und der Gefahren zu werden, sie äußern sich zu Chancen und Risiken der Digitalisierung und der Automatisierung, sie analysieren die Gefahren der Fremdenfeindlichkeit und des Terrorismus.

Erwarten die Menschen nicht auch zu Recht Orientierung von den Menschen, die das Reflektieren über die ganz großen Fragen, Sorgen und Ängste zu ihrer Profession gemacht haben und dabei auf die Tradition einer Disziplin bauen können, die schon wenigstens zweieinhalb Jahrtausende alt ist? Ist es nicht gar Aufgabe dieser Denker, sich mit den nahe liegenden Problemen der Gesellschaft zu befassen, mit dem, was uns täglich aus den Medien als Nachricht oder Kommentar entgegenschreit? Sollten sie ihre geistigen Fähigkeiten nicht darauf konzentrieren, mit verständlichen Worten Aufklärung zu geben, Grund für Optimismus zu suchen, Wege in eine Welt zu bahnen, in der unsere Probleme uns nicht mehr ganz so bedrängen?

Und doch behaupte ich hier, dass die Aufgabe der Philosophie ist, sich auf die tiefste, grundlegendste Frage zu besinnen, die sich dem Menschen überhaupt stellen kann, und dass es sogar ihre Pflicht ist, sich von der vorschnellen Beurteilung der aktuellen Welt und der wohlfeilen Bereitstellung von Ratschlägen hinsichtlich eines guten Lebens in unübersichtlichen Zeiten zurückzuhalten. Gerade die Reflexion über die letzten Fragen, die Befragung der unbefragtesten Selbstverständlichkeiten ist der Betrag, den die Philosophie zum Bestehen der Menschen in bedrängenden Zeiten leisten kann.

Warum aber sollte die wichtigste Frage, die sich der Philosophie stellt, ausgerechnet die nach dem „Sein“ sein?

Die Antwort liegt unmittelbar auf der Hand: gerade weil das „sein“ als Verb so geläufig in jeder Rede, in jedem Gespräch, in jedem Streit einhalten ist, müssen wir uns doch fragen, was es mit diesem „sein“ denn auf sich hat. Oben wurden zu Beginn drei Sätze genannt. Fraglich ist schon bei diesen Sätzen, ob das Wörtchen „ist“ in all den drei Fällen das gleiche bedeutet. Und welche Voraussetzungen müssen gegeben sein, damit die Bedeutung des „ist“ in diesen Sätzen durch die Worte, die vor ihm stehen und die, die ihm nachfolgen, nicht verfälscht oder verändert wird? Wie verändert das „Dies“ die Bedeutung des „ist“? In welcher Beziehung stehen Blume und Pflanze in dem Satz „Eine Blume ist eine Pflanze“, damit das „ist“ dort verständlich wird.

Dass solche Fragen nicht völlig nebensächlich sind, wird schnell klar, wenn wir nicht von Farben und Blumen sprechen, sondern etwa Beispiele aus dem moralischen oder politischen Sprachgebrauch heranziehen. „Dieser Politiker ist korrupt“, „Diese Kriegspartei zu unterstützen, ist unmoralisch“, „Die Partei X ist der politische Gegner der Partei Y“, „Die ABC-Partei ist keine demokratische Partei“, „Glyphosat ist krebserregend“– häufig meint man in solchen Fällen, dass die Unterschiede in der Bestätigung oder Ablehnung solcher Urteile in Meinungsverschiedenheiten über die Bedeutung von „Korrupt“, „demokratisch“, „moralisch“, „Gegner“, „krebserregend“ usw. oder gar in unterschiedlichem Wissen über diesen Politiker oder jene Partei liegen. Es könnte aber auch sein, dass die Differenzen aus einem unterschiedlichen Verständnis des Wörtchen „ist“ herrühren, Differenzen, die niemals zur Sprache kommen, weil das „Sein“ so selbstverständlich in allem mitgedacht wird, dass wir gar nicht auf die Idee kommen, dass dieses Sein, und die Weise, wie wir zu Aussagen darüber kommen, dass etwas „ist“, oder dass es eben „dies oder das ist“ das eigentliche Problem darstellt.

Man könnte meinen, dass die Philosophie aber diese Fragen alle schon beantwortet hat, oder dass es wenigstens verschiedene Philosophen zu recht brauchbaren Gedankengebäuden über diese Fragen gebracht haben. Auch wenn es keine letztendliche Übereinstimmung zwischen diesen Denkern gibt, so kann man doch darauf verweisen, dass es eine ganze Menge von Werken gibt, die sich zwar nicht dem Sinn von „Sein“ aber doch eben dem Sinn von Sätzen, die das „ist“ enthalten, gewidmet haben. Es gibt Bedeutungstheorien, Sprechakttheorien, Wahrheitstheorien und Sprachtheorien, und auch Handlungstheorien und die verschiedenen Logiken haben Systematiken von Sätzen hervorgebracht, die letztlich doch auch über die Frage nach der Bedeutung von „Sein“ aufklären. Der Anspruch eines weiteren Textes zu dieser Frage, so könnte man meinen, könnte doch allenfalls sein, diesen Ansätzen einen weiteren hinzuzufügen, der sich vielleicht in der einen oder anderen These etwas weiter wagt oder etwas überzeugender argumentiert.

Wenn der Leser an dieser Stelle des Textes auf einen solchen Gedanken verfällt, zeigt dies nur, dass das Ziel meines Textes noch nicht deutlich genug geworden ist – und es kann auch noch gar nicht deutlich geworden sein, denn wir sind gerade erst dabei, uns in das Gebiet, in dem unsere Frage ganz klar vor Augen stehen wird, hineinzutasten. Die aufgeführten Verweise auf das, was in den vergangenen Jahrzehnten im philosophischen Diskurs entstanden ist, können uns helfen, zu erkennen, um was es im Folgenden eben nicht geht: Es geht nicht um die Bedeutung des Wortes „Sein“ oder seiner Abwandlungen in diesen oder jenen Formen von Sätzen. Es geht uns nicht um eine Klassifikation von Sätzen, in denen das Wort „Sein“ diese oder jene Bedeutung hat.

Es geht um den Sinn von Sein. „Sinn von Sein“ diese Floskel sollte an diesem Ort der Überlegung in der größtmöglichen Vieldeutigkeit vor Augen stehen. Welche Sinn hat Sein? Was hat es mit dem Seinssinn auf sich? In welchem Sinn gibt es Sein? Welchen Sinn hat es, zu sagen, dieses dort sei etwas?

Auf den Schultern Heideggers…

Martin Heidegger hat in den 1960er Jahren die Frage nach dem Sein noch tiefer gedacht als er es seit „Sein und Zeit“ zuvor getan hatte. Wir können diese Tiefe hier schon zu ahnen versuchen wenn wir uns fragen, ob eine Sprache oder ein Denken vorstellbar wäre, das kein „Sein“ enthielte. Wäre eine Weltbeziehung denkbar, die sich nicht in Seins-Sätzen aussprechen würde? Diese spekulative Frage ist vermutlich nicht sinnvoll beantwortbar, sie zeigt aber, dass die Frage nach dem Sein noch eine tiefere Begründung verlangt als sie durch die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung des Wortes „Sein“ überhaupt denkbar ist. Welchen Sinn hat „Sein“? Warum fragen wir, warum müssen wir womöglich immer wieder nach einem Sein fragen und immer wieder antworten, dass dieses eben jenes „ist“?

Heidegger hat dieses Fragen von den Griechen aufgenommen, er hat die notwendige Tiefe des Fragens bestimmt. Hier soll versucht werden, dieses Fragen aufzunehmen und Antwortrichtungen zu erkunden – so es denn möglich wird, eine Grund zu finden, von dem aus eine Suche nach Antwortrichtungen möglich wird. Das ist heute noch ganz ungewiss.

Mit der Nennung von Martin Heidegger wird klar, dass ich mit diesem Text auf die Schultern eines Riesen steige. Unumwunden ist zuzugeben, dass die Gedanken, die im Weiteren entwickelt werden, sich zum größten Teil aus der Lektüre der Arbeiten Heideggers entwickelt haben, begonnen von Sein und Zeit über die Aufsätze der 1950er Jahre bis hin zu den Vorträgen der 1960er. An den Denkwegen Heideggers wird sich auch dieser Denkweg im Wesentlichen orientieren. Es ist das große Verdienst Heideggers, die Frage nach dem Sinn von Sein aus der Tiefe des abendländischen Denkens ans Licht geholt und in mehreren Neuansätzen ausformuliert zu haben. Die Frage nach dem Sinn von Sein als Frage überhaupt erst einmal zu verstehen und den Raum ihrer möglichen Beantwortung zu erhellen, ist eine Geistesleistung, die einen großen Denker und viele Jahre Besinnung und Reflexion erfordert. Diese Arbeit auf sich genommen, diesen Denkweg unbeirrt über Jahrzehnte nicht verlassen zu haben, das ist der dauerhaft bleibende Beitrag Heideggers zur Philosophie. Ich werde hier dokumentieren, wie ich selbst diesen Weg gehe, wie ich den Raum, den es zu erkunden und zu sichern gilt, Stück für Stück kennenlernen werde.

Indem ich dies schreibe, habe ich einige Ahnungen von dem, was mich erwartet und dem, was es zu finden, zu entdecken geben wird. Ich werde mich jedoch zurückhalten, diese Ahnungen schon jetzt mit allzu klaren Worten bereits auszusprechen. Die Klarheit kann trügerisch sein, der Weg muss gesichert werden, jeder Schritt muss bewusst gemacht werden.

Zurück zu Heidegger. Wenn ich hier sage, dass er über Jahrzehnte an der Frage nach dem Sinn von Sein gearbeitet hat, dann provoziert das natürlich die Frage, ob er diese Frage denn nicht beantwortet hat und ob es wirklich sinnvoll ist, sich an sein Denken anzuschließen, wo es doch womöglich nicht zum Ziele führt. Hat er keine Antwort gefunden? Und wenn er denn eine gefunden hat, genügt es nicht, seine Antwort zu verstehen, zu erläutern, womöglich zu kritisieren? Was ist denn der Plan dieser Arbeit, die vorgibt, auf den Schultern Heideggers zu stehen, aber zugleich so beginnt, als wolle sie die Frage nach dem Sein ganz eigenständig, ohne rückgreifende Sicherung anderer Standpunkte, entfalten und beantworten? Warum schreibe ich zum einen, dass ich nur „Ahnungen“ hätte von dem, was ich zu finden hoffe, und behaupte zum anderen, auf Heidegger aufzubauen?

Die Antwort auf diese Frage wird, wie alle Antworten, erst im Verlauf des weiteren Schreibens deutlich werden. Soviel sei aber vorausgeschickt, dass Heidegger zwar einen Weg gefunden hat, die Frage nach dem Sinn von Sein in der notwendigen Tiefe zu explizieren und dabei die Notwendigkeit und den Sinn der Frage selbst aufgewiesen hat, dass er dabei aber doch einen Weg gegangen ist, der, wie sich für mich herausgestellt hat, nicht der meine ist. Zudem denke ich heute, dass dieser Weg nicht der ist, der die Frage und ihre Notwendigkeit auf die beste Weise nachvollziehbar macht. Letztendlich ist jedes Fragen in der Philosophie zwar ein einsames Unterfangen, aber man will dabei nicht auf Dauer einsam bleiben, man will ja doch Freunde im Fragen finden und dazu motivieren, den Weg des Fragens mitzugehen. Und da, so meine ich, gibt es Alternativen zu Heideggers Weg und vor allem zur Beschreibung dieses Wegs, die nachvollziehbarer sein können.

Zudem ist Heidegger auf seinem Weg eben nicht an ein Ziel gekommen, das mich zufriedenstellt. Es selbst hat diesen Denkweg als einen Weg an einen Abgrund bezeichnet, von dem aus man springen muss, und vieles beim Beschreiten des Weges ist auch die Sicherung des Absprungplatzes. Ich kann für mich sagen, dass das Mitgehen auf Heideggers mich an den richtigen Abgrund geführt hat und dass er mit den Mut zum Sprung gegeben hat. Aber er hat mich nicht an den für mich geeigneten Absprungplatz geführt, und dieser Platz ist für mich auch noch nicht ausreichend bereitet, um den Sprung vollziehen zu können. Also wende ich mich zurück von diesem Platz, gehe einen anderen Weg, suche nach einem besseren Platz zum Springen.

Clara: What about that stuff you said? We don’t walk away.
The Doctor: No. We don’t walk away. But when we’re holding on to something precious, we run. We run and run fast as we can. And we don’t stop running until we are out from under the shadow.