Der nächste Band der „Schwarzen Hefte“ von Martin Heidegger erscheint demnächst, und die Diskussion um diese, zwischen 1942 und 1948 niedergeschriebenen Überlegungen ist bereits im vollen Gange. Ich kenne natürlich die Texte noch nicht, und es liegt mir fern, Heidegger zu verteidigen. Mir scheint jedoch, dass die empörte öffentliche Debatte es sich erneut zu einfach macht, und damit eine wirkliche Kritik der Denkens Heideggers verfehlt oder sogar unmöglich macht. Deshalb will ich hier ein paar grundsätzliche Gedanken notieren.
Heidegger spricht oft vom Jüdischen, auch vom Judentum, hin und wieder von den Juden. Nehmen wir zwei Sätze aus den Schwarzen Heften, über die die Empörung besonders groß ist.
„Wenn erst das wesenhaft ´Jüdische´ im metaphysischen Sinne gegen das Jüdische kämpft, ist der Höhepunkt der Selbstvernichtung in der Geschichte erreicht.“ zitiert etwa Thomas Vasek, Chefredakteur von Höhe Luft, und macht daraus bei Facebook: „Martin Heidegger: Die Shoah war Selbstvernichtung der Juden“ bereits im vergangenen Jahr zitierte die FAZ in einer Sammlung besonders verwerflicher Sätze aus den Schwarzen Heften den folgenden:
„Die Frage nach der Rolle des Weltjudentums ist keine rassische, sondern die metaphysische Frage nach der Art von Menschentümlichkeit, die schlechthin ungebunden die Entwurzelung alles Seienden aus dem Sein als ,weltgeschichtliche‘ Aufgabe übernehmen kann.“
Was bedeuten solche Begriffe wie „das Jüdische“ oder „das Judentum“? Wir Heute können diese Worte nicht mehr aussprechen, ohne an die Shoah zu denken. Um die Verwendung dieser Begriffe in der Sprache eines Philosophen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen, ist es deshalb hilfreich, sie durch andere, ähnlich gebaute zu ersetzen, deren Verwendung wir nicht scheuen.
Denken wir an die folgenden Begriffe
Das Christentum, das Christliche, die Christen
Das Unternehmertum, das Unternehmerische, die Unternehmer
Das Spießertum, das Spießige, die Spießer
Das Heldentum, das Heldenhafte, die Helden
Man merkt, dass diese je zusammenhängenden Begriffe nicht das Gleiche bezeichnen. Christentum und Unternehmertum sind bestimmte soziale Praktiken, die klar erkennbar sind, über die es einen Konsens gibt, was an Verhaltensweisen, Verbindlichkeiten und Einbindung in soziale Strukturen jeweils dazu gehört. Das gilt auch fürs Heldentum und fürs Spießertum, auch wenn die nicht so gut organisiert sind wie das Christentum. Heidegger spricht in dem zweiten Zitat vom Judentum als einer Art von Menschetümlichkeit. Der Begriff Menschentum ist ein bisschen aus der Mode gekommen, aber er zeigt auch, was diese –tum-Begriffe vereint: sie bezeichnen ein gewisses soziales Verhalten von Menschen in Gemeinschaften.
Typischerweise wird das Christentum von Christen praktiziert, das Spießertum von Spießern, das Unternehmertum von Unternehmern. Die verhalten sich dann christlich, spießig oder unternehmerisch. Aber es kann auch sein, dass ein Christ sich ganz unchristlich verhält, dass er sich weit vom Christentum entfernt hat, dass ein Unternehmer den Ansprüchen des Unternehmertums nicht gerecht wird. Umgekehrt kann es auch sein, dass sich jemand spießig benimmt, der eigentlich gar kein Spießer ist, oder dass jemand sich den Christentum nahe fühlt, der doch kein Christ ist, dass jemand unternehmerisch denkt und handelt, ohne Unternehmer zu sein. Zumindest, ob jemand Christ oder Unternehmer ist, kann man an äußerlichen Kriterien erkennen, die nicht direkt mit dem Verhalten, sondern mit einem Bekenntnis oder einer Rolle in einer sozialen Struktur zu tun haben. Bei den Spießern und den Helden ist das, zugegeben, nicht ganz so einfach.
Dass jemand sich unternehmerisch Verhalten kann, ohne Unternehmer zu sein, dass auch ein Hipster mal spießig sein kann, dass einer sich „wie ein Christ“ benehmen kann, ohne Christ zu sein, zeigt, dass es in den Menschen, in ihrem Selbst, irgendetwas gibt, das den Menschen zu etwas macht, unabhängig davon, ob sie nach äußeren Kriterien dazu gehören, oder nicht. Das ein Christ zum Christentum gehört, macht in diesem Sinne nicht die Taufe, sondern das Christliche in ihm. Das Unternehmerische steckt nicht nur in denen, die ein Unternehmen besitzen, sondern auch in vielen anderen. Diese Substantive, die aus Adjektiven gebildet werden, sind Bezeichnungen für dieses etwas nebulöse Wesenhafte.
Es ist selbstverständlich, dass nicht alle Unternehmer sterben müssten, wenn das Unternehmerische aus der Gesellschaft verschwindet, wenn das Unternehmertum vernichtet werden würde. Die, die zuvor Unternehmer waren, würden dann allerdings keine Unternehmer mehr sein. Das Unternehmerische in ihnen wäre verschwunden.
Damit komme ich zurück zum Judentum, zum Jüdischen und zu den Juden, allerdings noch nicht zu Heidegger, sondern erst einmal zu Marx. Bekanntlich war es auch für ihn, wie für viele europäische Denker bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, ganz selbstverständlich, das Jüdische für einen verachtenswerten Wesenszug von Menschen zu halten und das Judentum abzulehnen – ohne deshalb den Tod der Juden zu wünschen. In der ersten These über Feuerbach schreibt Marx über „die Praxis nur in ihrer schmutzig-jüdischen Erscheinungsform“ ohne das näher zu erläutern. Er geht wohl davon aus, dass jedem klar ist, was gemeint ist.
In „Zur Judenfrage“ schriebt Marx
Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz.
Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.
Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen, realen Judentum wäre die Selbstemanzipation unsrer Zeit.
Der Text endet
Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden, weil sein Bewußtsein keinen Gegenstand mehr hat, weil die subjektive Basis des Judentums, das praktische Bedürfnis vermenschlicht, weil der Konflikt der individuell-sinnlichen Existenz mit der Gattungsexistenz des Menschen aufgehoben ist.
Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.
Man könnte einfach resignierend sagen: also war der Marx eben auch Antisemit, vielleicht waren ja überhaupt alle deutschen Philosophen Antisemiten.
Aber damit macht man es sich eben zu leicht. Die Sätze von Marx zeigen zweierlei: erstens, das Jüdische wird im Europäischen Denken über einen langen Zeitraum mit dem Eigennützigen, dem rechnenden Gewinnmachen identifiziert. Judentum heißt in diesem Denken das Bündel und die gesellschaftliche Organisation der damit verbundenen sozialen Praktiken. Dabei geht es nicht um den einzelnen, zufällig per Geburt und Zugehörigkeit identifizierbaren Juden, sondern eben um etwas Wesenhaftes, das erläutert werden kann, und das mit dem substantivierten Attribut „das Jüdische“ belegt wird. Zweitens, dieses Judentum kann grundsätzlich verschwinden, ohne dass die Juden verschwinden. Die Juden können sich, meint Marx, vom Judentum emanzipieren – sie wären dann keine Juden mehr.
Wenn man sich mit diesem Gedanken wieder den zitierten Sätzen aus Heideggers Schwarzen Heften nähert, fällt es schwer, der Zusammenfassung von Vasek zu folgen. Allerdings ist man auch weit von einer Verteidigung Heideggers entfernt. Vielmehr kommt, gerade nach der ebenfalls verstörenden Marx-Lektüre, die Frage auf, ob das Denken in –tum-Begriffen und mit Kategorien, die Wesentliches bestimmen sollen, und die gern mit Substantivierungen von Adjektiven bezeichnet werden, nicht grundsätzlich problematisch ist. Aber auch da wäre es vorschnell, mit Allgemeinplätzen a la „natürlich ist jeder Mensch individuell“ und „das sind eben alles nur Konstruktionen“ ein Denken formal beseite zu schieben, dass doch tief in unserem Weltverständnis verwoben ist und vielleicht jegliches Urteilen und Verstehen überhaupt ermöglichen. Aber das muss ein andermal durchdacht werden.