Nachdem es in der letzten Folge dieser Serie darum ging, plausibel zu machen, dass Meinungen im Streit zumeist nicht als Behauptungen zu verstehen sind, denen sich die anderen Streitenden zwingen anschließen müssten, bleibt die Frage, was es denn sonst mit diesen Meinungsäußerungen auf sich hat. Wenn wir unsere Meinungen zumeist gar nicht äußern, um andere davon zu überzeugen, warum äußern wir sie dann? Warum streiten wir überhaupt?
Alles Spekulation
Nun ist die Philosophie keine empirische Wissenschaft. Wir machen also keine Umfrage, befragen streitende Menschen nicht, warum sie streiten. Im Gegenteil, Philosophie pflegt ein gewisses Misstrauen gegen solche Empirie. Warum sollten die Befragten in der Umfrage „die Wahrheit“ sagen? Vielleicht steuert die Fragestellung schon das Verständnis der Befragten vom Gegenstand der Frage? Woher sollen wir überhaupt sicher sein, dass die Streitenden selbst wissen oder sagen können, warum sie streiten?
Es könnte z.B. sein, dass die Streitenden selbst eine Vorstellung davon haben, warum man vernünftigerweise streitet. Wenn sie dann befragt werden, nennen sie gar nicht ihre eigenen Gründe (über die sie womöglich noch nie nachgedacht haben). Auf der anderen Seite haben die, die wissenschaftliche Befragen durchführen, ganz sicher schon über mögliche Antworten nachgedacht, und formulieren ihre Fragen sicherlich in Abhängigkeit von ihren Vermutungen.
Als Philosophierender halte ich deshalb einen gewissen Abstand von den empirischen Methoden der Wissenschaft. Meine Methode ist spekulativ. Als Quelle für meine Überlegungen dienen mir meine allgemeinen Vorstellungen über die Welt, über das, was die Menschen ausmacht. Zugleich ist eine ziemlich sichere Quelle meines Nachdenkens die Beobachtung eben dieses eigenen Nachdenkens – und dessen, was ich verbunden mit diesem Nachdenken selbst tue. Aus diesem spekulierenden Reflektieren heraus gewinne ich Ideen darüber, wie sich etwas verhalten könnte. Diese Ideen kann ich dann anderen vorstellen, in der Hoffnung, dass sie sie nachsichtig prüfen, mit ihren eigenen Vorstellungen von der Welt abgleichen, und als Anregung für eigene Reflexionen nutzen können.
Gemeinsamkeit macht stark
Was also sind die Annahmen, die wir über die Menschen machen, mit denen wir die Lust am Meinungsstreit erklären können? Zwei Aspekte wären zu nennen: Wir Menschen sind soziale Wesen und darauf angewiesen, uns mit anderen in einer Gemeinschaft zu wissen. Es ist wichtig, dass ich zumeist sicher bin, dass andere so sind wie ich, dass sie die Welt ähnlich sehen wie ich, dass sie auf das gleiche vertrauen und dem gleichen misstrauen. Das Erleben von Übereinstimmungen macht mich sicher, dass ich nicht allein bin mit meinem Blick auf die Welt. Mit einer Meinungsäußerung hoffe ich also auf Zustimmung von anderen, und allein die Tatsache, dass andere, die ich als mir ähnlich empfinde, mir zustimmen, genügt mir, um mit größerer Sicherheit durch mein Leben zu gehen. Das Gleiche gilt natürlich auch, wenn mir von Menschen, die ich als fremd oder anders empfinde, Ablehnung entgegenschlägt. Auch das bestätigt mich: In meinem Anderssein gegenüber denen, die anderer Meinung sind ebenso, wie in meiner Gemeinsamkeit mit denen, die mit gleich sind.
Gerade wenn ich mich in einem Umfeld bewege, das mir fremd ist und das ich ablehne, will ich also auch gar nicht „überzeugen“, dann streite ich nicht mit dem Ziel, dass die anderen einsehen, dass ich recht habe. Jeder Widerspruch bestätigt mich ja darin, dass diese eben anders sind, und diese Bestätigung sichert mein Weltbild in meinem So-Sein-Wie-Ich-Bin.
Unsicherheit beherrschen
Bevor man sich nun gedanklich über diejenigen erhebt, die den Streit für die Abgrenzung zwischen sich und den „Eigenen“ auf der einen Seite und „den Anderen“ oder „den Fremden“ auf der anderen Seite brauchen, um in der Weit zurecht zu kommen, kann man sich kritisch fragen, ob man selbst ohne solche Abgrenzungen auskommt. Selbst die Skeptiker, die „nichts glauben“ und „alles hinterfragen“ grenzen sich ja auf diese Weise im Meinungsstreit von anderen ab und bilden eine Gemeinschaft der „aufgeklärten kritischen Geister“.
Wenn man sich die eigene Unsicherheit in der Komplexität der Welt wirklich eingesteht und versucht, sein Weltbild nicht nur per Übereinstimmung und Ablehnung mit anderen zu begründen, findet sich schnell ein weiterer Grund für die Beteiligung am Meinungsstreit: Die Meinungsäußerung kann dazu bestimmt sein, Argumente dafür oder dagegen zu erhalten, die mich in meiner Meinung bestärken oder weiter verunsichern.
Die meisten Vorstellungen über die Welt gewinne ich auf der Grundlage medialer Vermittlung (Fernsehen, Zeitungen, Rundfunk sowie deren Ableger in den sozialen Medien). Daraus erzeuge ich mir ein Bild von der Welt, das vor allem auch als Befürchtungen oder Hoffnungen besteht: Ich hoffe, dass sich die Stimmung in Großbritannien noch proeuropäisch entwickelt, ich fürchte, dass es nicht mehr rechtzeitig zu einem Umsteuern in der Klimafrage kommt.
Mit meiner Meinungsäußerung im Streit suche ich Bestätigung oder Widerspruch. Das aber nicht nur, um mich zu vergewissern, dass ich mit meiner Meinung nicht allein bin, sondern auch, um meiner Meinung überhaupt sicher zu werden, oder, um mich verunsichern zu lassen. Ich suche nach Argumenten, die meine Hoffnungen stützen, oder auch nach solchen, die meine Befürchtungen fragwürdig machen. Das alles, um in einer unsicheren Welt mit einem unsicheren Bild von der Welt halbwegs sicher zurecht zu kommen.
Es ist klar, dass Meinungsäußerungen dieser Art nicht mit einem Wahrheitsanspruch verknüpft sind. Im Gegenteil, ich gehe immer davon aus, dass es andere gibt, die anderer Meinung sind als ich, und die ich mit meiner Meinung – und mit den Begründungen dieser Meinung – gerade nicht werde überzeugen können. Trotzdem ist es sinnvoll, den Streit zu führen: Er macht mich sicherer in meinen Hoffnungen und Befürchtungen und schafft mir damit ein besseres Fundament zum Handeln. Und er schafft Gemeinsamkeit mit Menschen, die ähnlich denken wie ich, sodass wir uns gemeinsam mit denen auseinandersetzen können, die anderer Meinung sind.