Das Netzwerk der Einzelnen

Seit zweieinhalb Jahrtausenden benutzt die politische Philosophie die gleichen Begriffe: Bürger und Staat, Demokratie, Oligarchie, Monarchie. Liest man bei Aristoteles nach, merkt man schnell, dass diese Begriffe über die lange Zeit ihre Bedeutung nahezu ins Gegenteil verkehrt haben: Das, was heute Demokratie heißt, wäre bei Aristoteles ein auf Wahl basierendes Königtum auf Zeit.

Die Begriffe der politischen Theorie sind heute alle normativ aufgeladen, genauer gesagt, verdorben. Wer würde es in der Tradition des europäischen Abendlandes wagen, gegen die Demokratie zu argumentieren, oder auf der anderen Seite Aspekte des Königtums oder der Aristokratie als sinnvoll herauszustellen?

Gleichzeitig sehen wir die so genannten demokratischen Gesellschaften in einer inneren Legitimationskrise. Die politische Klasse, also jene, die im Namen des Volkes herrschen, besitzt weniger als je zuvor das Vertrauen derer, die ihnen angeblich die Macht verliehen haben. Gleichzeitig gelangen so genannte „starke Männer“ die offen gegen die Institutionen der Demokratie vorgehen, zu allgemeiner Anerkennung.

In dieser unübersichtlichen Lage scheint es dringend geboten, die Begrifflichkeiten zur Beschreibung politischer Systeme neu zu klären und ihre prinzipiellen Zusammenhänge neu darzustellen. In diesem Projekt geht es nicht um eine normative Bewertung, hier sollen nicht gute gegen schlechte Herrschaftssysteme abgewogen werden. Ziel ist, Konsequenzen aus der einen oder anderen Herrschaftsform abzuleiten, sodass jeder, der die folgenden Seiten liest, selbst abwägen kann, welche Form er bevorzugen und unterstützen möchte, welchen Aspekten er sein Vertrauen geben will, und welche er ablehnt.[1]

Wir laufen mal mit einer rosaroten Brille und mal mit Sehschlitzen oder Visieren, die die Sicht verengen, durch die Welt. Unsere Begriffe wie Diktatur, Freiheit, Demokratie sind solche Filter. Wir glauben, die „realen Phänomene“ mit diesen Begriffen zu erkennen, aber wir drücken der Wirklichkeit nur unsere hoffnungsfrohe oder deprimierte Weltsicht auf. Es ist zunächst notwendig, sich davon zu befreien, indem die Begriffe auf einen sinnvollen Wesenskern gebracht werden.[2]

Wir werden im weiteren ein Verständnis des Gesellschaftlichen ausgehend vom einzelnen Menschen entwickeln. Das scheint, wenn man moderne philosophische Ansätze kennt, zumindest ein ungewöhnlicher, wenn nicht ein veralteter Ansatz zu sein. Wir gehen aber davon aus, dass der einzelne als handelnder, bewertender, verstehender, betroffener, Ziele verfolgender, enttäuschter, hoffender und am Ende sterbender Mensch auch für die moderne Philosophie letztlich nicht hintergehbar ist. Es ist ein Einzelner, der hier sitzt und schreibt, und es sind je Einzelne, die diesen Text lesen und über ihn urteilen, die ihn verwerfen oder zum Ausgangspunkt eigenen Nachdenkens, das wieder das Nachdenken von Einzelnen ist, nehmen.

Dass wir bei diesen Einzelnen ansetzen, bedeutet nicht, dass ihr Handeln, Bewerten, Verstehen usw. ohne andere denkbar oder auch verstehbar wäre. Keineswegs werden wir hier ein Bild des Einzelnen entwickeln, der ohne Einbindung in die Gemeinschaft denkbar wäre. Der Einzelne ist der Ausgangspunkt unseres Versuchs, Phänomene der Gemeinschaft zu verstehen, weil wir davon ausgehen, dass jedes Verstehen des Gemeinschaftlichen wieder im Geist eines jeden Einzelnen passiert, dass es von ihm ausgeht und zu ihm zurückläuft. Aber dass es ausgehen kann und dass es zurückkehren kann, setzt natürlich schon die anderen voraus, auf die das Verstehen gerichtet ist, und von welchen aus es sich im Einzelnen wieder konstituieren kann.

Um den Einzelnen herum werden wir im Verlauf unserer Überlegungen Stück für Stück immer größere Kreise ziehen, wir werden, von ihm ausgehend, uns vorwärts tasten zu den Beziehungen, die er zu einzelnen anderen, zu Gruppen von anderen und schließlich zu den Gemeinschaften, derer Teil er wird und als deren Bausteine er sich versteht, um am Ende bei der Gesellschaft anzukommen. Zu verstehen, wie sich diese Gesellschaft aus Einzelnen zu konstituieren vermag, soll das Ziel unseres Gedankengangs sein. In dessen Verlauf werden die Konzepte des Politischen und die verschiedenen Möglichkeiten seiner Organisation ganz selbstverständlich auftauchen.

Der einzelne Mensch

Beginnen wir mit dem einzelnen Menschen, der wir je selbst sind. Auch wenn es auch schon in unserem Vorverständnis klar ist, dass wir alle aufeinander angewiesen sind und nichts an unserem Verhalten oder an unseren Denkweisen, Einstellungen, Bewertungen am Ende verständlich ist ohne dass wir diesen einzelnen Menschen als Teil einer Gemeinschaft sehen, so ist es doch sinnvoll, beim Einzelnen zu starten, beim Einzelnen in der Gemeinschaft, aber ohne, dass wir diese Gemeinschaft schon selbst in unser Verständnis mit einbeziehen.

Das ist auch in so fern sinnvoll, als es immer der einzelne Mensch ist, der bewertet und dem am Ende etwas einleuchtet, etwas gewiss erscheint, der eine Einsicht hat und daraus eine Handlung beabsichtigt. Der Autor dieses Textes ist ein solcher einzelner Mensch, der versucht, seine Einsichten zu formulieren und in der Formulierung zu präzisieren, der Leser des Textes ist ebenso ein einzelner Mensch, der den vorgefundenen Text versteht oder missversteht, der ihn deutet und mit dieser Deutung sein eigenes Weltverständnis verändert oder weiterentwickelt, der den Text ablehnt oder ihm zustimmt.

Der einzelne Mensch, so wie wir ihn hier zunächst ansetzen wollen, ist sich der Endlichkeit seines Lebens bewusst. Er weiß, dass er eine lange, aber begrenzte Zeit zu leben hat, und er möchte in dieser Spanne glücklich sein. Was dieses Glück genau ausmacht, muss uns hier gar nicht interessieren, im Gegenteil, wir gehen davon aus, dass dies im Allgemeinen ganz unbestimmt ist, dass es für jeden Menschen etwas ganz verschiedenes sein kann. Glück, so können wir einzig festhalten, ist ein individuelles Empfinden, von dem der Glückliche gewiss ist, es gerade zu haben, von dem der Unglückliche gewiss ist, dass er es sucht und von dem jeder, der es einmal erlebt hat, hofft, es erneut zu erleben.

Das Glück des Einzelnen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es für jeden Einzelnen in etwas anderem liegt. Zwar ist es möglich, dass sich das Empfinden eines glücklichen Moments bei verschiedenen Einzelnen ähnelt, und es kann insbesondere darin ein glücklicher Moment bestehen, dass der Einzelne fühlt, dass auch andere diesen Moment als glücklich erleben. Darauf werden wir zurückkommen. Aber das Glücksempfinden und die Art des konkreten Strebens nach Glück wird nicht etwa durch die Gemeinschaft, in der ein Einzelner aufwächst, vorherbestimmt. Vielmehr erlebt jeder Einzelne seine gesellschaftliche Umwelt quasi vom ersten Moment an als so vielfältig und vielseitig, dass sich die Frage, was einer als Glück sucht und empfindet, für jeden auf andere Weise beantwortet. Der Einzelne ist darin nicht durch seine Familie, seine Zugehörigkeit zu einer „Klasse“ oder zu einem „Volk“ vorbestimmt. Sofern er sich durch solche Zugehörigkeiten in seinem Lebensweg und seiner Glückssuche vorherbestimmen lässt, kann es sein, dass er sein Glück gerade verfehlt und dass er unglücklich wird.

Der einzelne Mensch, den wir zum Ausgangspunkt unserer Untersuchung machen, ist auf eine radikale Weise Einzelner. Er ist zwar durch konkrete andere, durch eine bestimmte Umgebung geprägt, aber er ist nicht an diese Umgebung gebunden. Jeder Einzelne Mensch hat die Wahl, auf der Suche nach seinem Glück aufzubrechen aus der Umgebung, die ihn geprägt hat. Das soll nicht heißen, dass es jedem Menschen gelingen kann oder erlaubt ist, die Umgebung zu verlassen. Es heißt schon gar nicht, dass die Menschen grundsätzlich versuchen, diesen Aufbruch zu wagen. Wir setzen den einzelnen Menschen hier jedoch als prinzipiell ungebunden und konzentrieren uns, um das vorwegzunehmen, auf Gesellschaften, in denen diese Ungebundenheit prinzipiell existiert.

Allerdings, um auch das vorwegzunehmen, existiert diese prinzipielle Ungebundenheit nicht nur in so genannten modernen freien Gesellschaften. Methodisch ist es zunächst wichtig, anzusetzen, dass die Freiheit zum Aufbruch überall da existiert, wo ein einzelner aufstehen und loslaufen kann, ohne festgehalten zu werden, wo er eine Tätigkeit nach eigenem Gutdünken wenigstens beginnen kann, ohne sogleich daran gehindert zu werden.

Das Verstehen des Begriffs des radikal Einzelnen ist für das folgende von so zentraler Bedeutung, dass wir ihn genauer erläutern und diskutieren müssen. Es steht ganz außer Frage, dass der konkrete einzelne Mensch, der heute an irgendeinem Ort der Welt aufwächst und in eine Gesellschaft hineinwächst, auf verschiedene Weise in die bestehende Umwelt eingebunden und von ihr bestimmt ist. Wir können wenigstens drei Aspekte dieser Einbindung ausmachen: Da ist zum ersten die Familie, insbesondere die Eltern, die lenkend und bildend auf den Einzelnen als Kind einwirken. Sie lassen ihn die Welt auf eine bestimmte Weise erfahren, sie bestimmen die Perspektive, aus der das Kind die Welt zunächst erfährt und versteht. Sie formulieren Erwartungen, sie eröffnen Möglichkeiten. Vor allem schaffen sie eine Zugehörigkeit, eine Einbindung in eine ganz spezielle Gemeinschaft: die Familie. Der Einzelne kann diese Zugehörigkeit und die sich daraus möglicherweise ergebenden Verpflichtungen, die zur Einschränkung der Handlungsoptionen führen, nie ganz loswerden.[3]

Schauen wir uns diese Einbindung jedoch genauer an, dann fällt auf, dass der Einzelne allerdings sehr wohl die Möglichkeit hat, diese Einbindung im realen Handeln außer Acht zu lassen. Letztlich kann zumindest der reflektierende, bewusst sein Handeln entscheidende Mensch sich für oder gegen die Verpflichtungen und Zwänge der Familiären Bindungen entscheiden. Welche Konsequenzen das für ihn hat, soll zunächst dahingestellt bleiben. Wichtig ist, dass wir uns klar machen, dass der Einzelne am Ende die Möglichkeit hat, die familiären Bindungen zu verlassen, wenn er es für notwendig ansieht.

Wir müssen dabei zwei Fälle unterscheiden: Das eine ist, dass wir durch die Erziehung und das pure Erleben in der Familie auf eine Weise geprägt sind, die wir womöglich niemals ganz hinter uns lassen können. Unsere Eltern haben uns Normen vermittelt und Verhaltensweisen anerzogen, die wir niemals ganz loswerden. Allerdings sehen wir den Menschen als ein Wesen an, das in der Lage ist, auch diese Prägungen zu verstehen und handelnd mit ihnen umzugehen. Das andere ist, dass die familiäre Situation uns natürlich auch Möglichkeiten verschließt oder eröffnet, die auf die Handlungsoptionen im Weiteren Leben großen Einfluss haben. Allerdings verschließt uns das zwar bestimmte Optionen oder begünstigt bestimmte andere, behindert jedoch nicht die prinzipielle Möglichkeit des Aufbruchs entsprechend eigener Entscheidungen.

Damit verschließen wir nicht die Augen davor, dass es an vielen Orten der Welt auch heute durchaus harte Sanktionen für Menschen gibt, die aus den Prägungen und Erwartungsräumen ihrer Familien ausbrechen wollen und sich auf eigene Wege begeben wollen. Es ist richtig: Nicht jeder Mensch auf dieser Welt hat die gleiche Freiheit zum Aufbruch. Nicht nur soziale und moralische Normen hindern ihn, sondern auch die Androhung konkreten Zwangs und die Anwendung materieller und körperlicher Gewalt. Und dennoch, oder gerade deswegen ist es notwendig, auch diese Menschen als prinzipiell frei und als im Grunde radikal einzelne anzusehen. Denn auch für sie gilt, dass sie, durch welchen Anstoß auch immer, dazu in der Lage sind, über ihre Situation zu reflektieren und zu beginnen, nach einem eigenen, freien Weg als radikal Einzelne zu suchen – und ihr Glück zu suchen. Es wäre geradezu arrogant, Menschen von dieser prinzipiellen Möglichkeit auszuschließen, weil die Zwänge, in denen sie sich befinden, es unermesslich schwer machen, einen Weg in die eigene Freiheit zu finden.

 

Was wir hier gesagt haben, gilt ebenso für die beiden anderen Einbindungen in die bestehende gesellschaftliche Struktur, die neben der Familie das Konzept des radikal Einzelnen fragwürdig machen können. Die erste ist eng an die Familie gebunden, wir wollen sie in Anlehnung an einen alten Begriff der politischen Theorie als „die Klasse“ bezeichnen. Die andere ist die des Volkes oder der Nation.

 

Die Ungebundenheit des Einzelnen betrifft zweierlei: Zum einen die Möglichkeit, in andere Gegenden aufzubrechen und dort mit anderen, bisher fremden Menschen zusammenzutreffen und zeitweise mit ihnen zusammenzuleben. Zum anderen die Möglichkeit, sich aus Prägungen der Umgebung, aus der er stammt, zu befreien und zu versuchen, neue Prägungen anzunehmen. Das heißt insbesondere, dass der Einzelne der prägenden Umgebung gegenüber nicht verpflichtet, dass er eben in keiner Weise an sie gebunden ist.

Weniger abstrakt ausgedrückt: der einzelne Mensch, den wir betrachten, ist nicht verpflichtet, „in die Fußstapfen“ seiner Vorfahren zu treten. Die Tochter der Ärztin wird nicht unbedingt wieder Ärztin, der Sohn des Landwirts wird den Hof des Vaters nicht übernehmen. Die Kinder von Unternehmern sind nicht darauf festgelegt, das Familienunternehmen fortzuführen, aber auch der Nachwuchs in einer Arbeiterfamilie geht nicht nach der Realschule selbst wieder malochen, sondern nach dem Abitur zum Studium – oder vielleicht auch umgekehrt.

Die Ungebundenheit des Einzelnen geht aber noch weiter. Auch den erworbenen kulturellen Normen und alltäglichen Gewohnheiten, die der Mensch selbstverständlich in der Familie aufnimmt und zunächst übernimmt, ist er nicht auf Dauer verpflichtet. Mehr noch: von Beginn seiner kulturellen Prägung an ist der Einzelne einer Vielzahl von unterschiedlichen kulturellen Angeboten ausgesetzt, da er von Anfang an, sei es in den Straßen und Schulen oder medial vermittelt, mit den verschiedensten Traditionen, Gewohnheiten, Wertesystemen und Normen in Kontakt kommt.

Der so verstandene Einzelne ist dadurch immer in Veränderung, immer im Werden und Vergehen. Da er sich immer wieder neuen Einflüssen aussetzt, immer wieder neue kulturelle Prägungen aufnimmt, ändert er andauernd seine Gewohnheiten, aber auch sein Bild von der Wirklichkeit, seine Überzeugungen. Diese Veränderung kann mal schneller, fast sprunghaft, vors sich gehen, mal kann sie fast zum Erliegen kommen, aber sie ist als Möglichkeit immer vorhanden.

Man könnte fragen, ob dieser Einzelne überhaupt Gewohnheiten und Überzeugungen ausbildet. Dabei wollen wir unter Gewohnheit selbstverständliche Verhaltensweisen verstehen, die im Alltag praktiziert werden ohne dass jedesmal hinterfragt wird, über sie als Handlung tatsächlich der beste Weg zum Erreichen des jeweiligen Zwecks sind. Überzeugungen ähneln Gewohnheiten: Sie sind Annahmen über die Wirklichkeit, die getroffen werden, ohne dass bei der Beurteilung einer Beobachtung jedes Mal geprüft wird, ob ihre Vorraussetzungen tatsächlich mit den Beobachtungen übereinstimmen.

Wenn wir den radikal Einzelnen als Person im ständigen Werden und Vergehen ansehen, sind Gewohnheiten genau genommen ausgeschlossen. Allerdings ist der Einzelne auch immer auf dem Wege zu relativ stabilen Gewohnheiten und Überzeugungen. Gewohnheiten sind immer werdende, sich gerade bildende oder sich verändernde Gewohnheiten, das Gleiche gilt natürlich für Überzeugungen. Sie erscheinen zu jedem Zeitpunkt durchaus gefestigt, und können doch innerhalb kurzer Zeit verändert sein.

Dieser Wandel ist dem Einzelnen durchaus nicht immer bewusst, er muss ihn nicht einmal bemerken. Für ihn kann die Veränderung ganz unbemerkt verlaufen, differenziell, sodass er immer, zu jedem Zeitpunkt eine bestimmte Gewohnheit, eine klare Überzeugung, besitzt, so, wie ein Rad, das zu jedem Zeitpunkt in eine bestimmte Richtung rollt und doch im Zeitverlauf seine Bewegungsrichtung vollständig verändern kann.

Andersherum kann der Einzelne, wenn sich seine Umgebung gerade radikal verändert hat, den Verlust, genauer, die Unbrauchbarkeit seiner Gewohnheiten und Überzeugungen, schmerzlich bemerken. Dass er Gewohnheiten hat, bemerkt der Einzelne ja gerade dann, wenn sie nicht „funktionieren“, wenn sie in der Praxis nicht nur schlecht, sondern gar nicht mehr zum Ziele führen. Auch hier gilt ähnliches für die Überzeugungen. Auch diese bemerkt der Einzelne bei sich erst dann, wenn sie in der Praxis als falsch hingestellt werden.

Wie schnell oder wie oft und wie dramatisch sich Überzeugungen und Gewohnheiten des Einzelnen tatsächlich ändern, kann für unsere weiteren Überlegungen dahingestellt bleiben. Wichtig ist jedoch, dass sie grundsätzlich „feste Merkmale im Werden“ sind: Jederzeit, auch im Wandel, erscheinen sie als fest, oft als klar beschreib- oder benennbar. Aber schon kurze Zeit später können sie, durch offen sichtbare Veränderungen der Umgebung oder durch nicht sichtbare Veränderungen „im Einzelnen“ zu neuen Gewohnheiten und Überzeugungen geworden sein.

Damit verbunden ist, dass es in der Gemeinschaft, die aus diesen Einzelnen gebildet wird, keine selbstverständliche Reproduktion von familiären Traditionen, Regeln oder Normen gibt. Wir setzen diesem so bestimmten einzelnen Menschen zum Vergleich den familiär bestimmten Menschen entgegen. Hier erfolgt die kulturelle Prägung und Normbildung im Wesentlichen durch die Vorfahren. Der Nachwuchs lebt mit der selbstverständlichen Verpflichtung, nicht nur die kulturellen Werte und Gewohnheiten, sondern auch die Tätigkeiten zur Existenzerhaltung und die dazu nötigen Ressourcen von den Eltern zu übernehmen. Im Falle dieser familiären Bestimmung des Einzelnen können wir genau genommen als gesellschaftliches Individuum gar nicht den einzelnen Menschen, sondern die Familie ausmachen, daher auch der Satz, dass die Familie die kleinste Einheit der Gesellschaft sei. Das bedeutet nicht, dass die Familie sozusagen die „kleinste Gesellschaft“ ist, sondern, dass die Gesellschaft aus Familien aufgebaut ist.

Im Falle der familiär geprägten Gesellschaft auf der Basis der familiär geprägten einzelnen Menschen ist auch die Bindung an andere durch familiäre Beziehungen dominiert. Die Nähe zum Anderen wird durch den Verwandtschaftsgrad bestimmt – das gilt auch für das kulturelle Verstehen des Anderen.

Gleichzeitig erzeugt die familiäre Bindung in diesem Falle auch eine lokale Bindung, denn der familiär verpflichtete Mensch bleibt eben zumeist auch räumlich in der Nähe – und ist deshalb auf Dauer auch mit denen verbunden, die ebenfalls in der Umgebung leben. Auf diese Weise reproduzieren sich langfristig kulturelle Muster und Gewohnheiten, stabile lokale Gemeinschaften entstehen.

Der radikal Einzelne, den wir zuvor beschrieben haben, ist zu diesem Menschen in familiärer Bindung das Gegenstück. Und damit ist auch die Gemeinschaft, die aus solchen Einzelnen gebildet wird[4], grundsätzlich verschieden von den Gemeinschaften, die auf dem Prinzip der Familie beruhen.

Wenn wir uns im Folgenden auf die phänomenale Struktur einer Gesellschaft konzentrieren, die aus radikal einzelnen ohne die oben beschriebene familiäre Bindung besteht, dann soll das nicht bedeuten, dass wir damit die „heutige Gesellschaft“ beschreiben, wie sie in ihrem Wesen ist. Schon gar nicht wollen wir behaupten, dass die Menschen in der heutigen Gesellschaft völlig ohne familiäre Bindung wären. Vor allem müssen wir betonen, dass die folgende phänomenologische Beschreibung von Gemeinschaften und gesellschaftlichen Strukturen, die aus radikal Einzelnen bestehen, sich nicht mit kritischer Absicht auf „heutige Verhältnisse“ bezieht. Mit Sicherheit ist jede empirisch vorgefundene Gemeinschaft von Menschen aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Absichten kritisierbar, insbesondere auch eine Gemeinschaft, die ganz auf dem Prinzip familiärer Bindung basiert, aber auch eine, die familiäre Bindungen ganz und gar ablehnt. Aber beides ist hier nicht unser Ziel.

Wir nehmen das Phänomen des radikal Einzelnen in den Blick und fragen, welche Formen von Gemeinschaften von solchen radikal Einzelnen gebildet werden können. Phänomen bedeutet hier: Aus einer bestimmten Perspektive werfen wir einen Blick auf die Wirklichkeit, und aus dem, was wir dabei entdecken, konstruieren wir eine Welt, in der die Phänomene so sind, wie sie in der Wirklichkeit erscheinen. Wir wissen, dass wir dabei immer etwas ausblenden, was die Vielfalt der Wirklichkeit ausmacht. Aber wir glauben, dass uns die Phänomene etwas Wesentliches zeigen, was wiederum zum Verstehen der Wirklichkeit beitragen kann. Die Gefahr, dass wir der Wirklichkeit den Blick aus unserer Phänomen-Welt aufprägen und dass wir dann nur noch das sehen, was unser theoretischer Blick uns sehen lässt, behalten wir im Blick. Wir hoffen, dieser Gefahr dadurch zu entgehen, dass wir uns deutlich sagen, dass unsere Phänomen-Konstrukte uns nichts „über die Wirklichkeit sagen“ sondern uns allenfalls helfen können, die Wirklichkeit ein wenig besser zu verstehen.

Die Gemeinschaft als  Netzwerk

Wir bezeichnen im Weiteren Zusammenschlüsse von Menschen, die wechselseitige Abhängigkeiten organisieren und den zusammengeschlossenen das Erreichen ihrer täglichen Ziele und die Erfüllung ihrer Bedürfnisse ermöglichen, ohne dass die Regeln, nach denen der Austausch zwischen den Beteiligten stattfindet, explizit definiert und akzeptiert wäre, als Gemeinschaften. Der Begriff der Gemeinschaft wird also ohne jede Forderung nach Identifikation benutzt. Es braucht kein „Gemeinschaftsgefühl“ kein Wir-Bekenntnis, um Teil einer Gemeinschaft zu sein. Wir nehmen den Begriff der Gemeinschaft beim Wort: Gemeinschaft ist da, wo Menschen gemeinsam tätig werden. Das gemeinsame Tun muss aber keinen „Wert für die Gemeinschaft“ haben, es genügt, wenn es für die Beteiligten wertvoll oder nützlich ist. Tun ist hier zudem auch im weitesten Sinn zu verstehen, es muss sich nicht um Veränderung der Umgebung handeln, gemeinsames Tun kann auch im bloßen Austausch oder in gemeinsamen Aktivitäten ohne weitere Auswirkungen über das Ende dieser Aktivitäten hinaus bestehen. Insbesondere können die gemeinsamen Handlungen darauf gerichtet sein, die Gemeinschaft selbst zu erhalten.

Es fällt auf, dass wir, wenn wir uns nach Beispielen umsehen, die solche Gemeinschaften illustrieren, an Zusammenschlüsse von Menschen denken, die einen bestimmten Zweck erfüllen. Fußballvereine, Chöre, Wohngemeinschaften, Lerngruppen an der Universität. Auch denken wir an Gemeinschaften, die an bestimmten Orten oder bei bestimmten Gelegenheiten gebildet werden, etwa Schulklassen, Arbeitsgruppen in Unternehmen oder überhaupt die Kollegen am Arbeitsplatz. Wir wollen jedoch zunächst ausdrücklich auch Familien und von Familien gebildete größere Gemeinschaften, etwa Dorfgemeinschaften, dazu zählen und erst später untersuchen, welcher spezielle Typ von Gemeinschaft durch die radikal Einzelnen gebildet wird.

Die Freundschaft

Auch der radikal Einzelne ist auf andere angewiesen, er geht Verbindungen auf Zeit mit ihnen ein, er bildet Gemeinschaften. Die elementare Form der Gemeinschaft, die er kennt, ist die Beziehung. Wir bezeichnen mit dem Begriff Beziehung eine Verbindung zweier einzelner Personen, die aus freiem Entschluss der beiden entsteht, wobei sie sich wechselseitig ihrer Beziehung versichern müssen, die sich auf einen umgrenzten Bereich des Handelns der beiden bezieht, und die, auch wenn sie für unbestimmte Zeit geschlossen ist, von beiden Seiten beendet werden kann.

Wir wollen uns das Phänomen der Beziehung genauer ansehen, weil wir meinen, dass sich darin die wesentlichen Mechanismen der gesamten Gesellschaft, die aus radikal Einzelnen entsteht, zeigen lassen. So wie man im oben schon genannten Sinne sagen kann, dass die Familie, wenn es sie denn gibt, die kleinste Zelle einer Gesellschaft bildet, so ist auch die Beziehung die kleinste Zelle einer Gesellschaft, nur eben einer ganz anderen als die der familiär geprägten Gesellschaft.

Die Beziehung ist nicht auf zwei Personen beschränkt, aber wir betrachten der Einfachheit halber zuerst die Beziehung zwischen zwei Menschen. Die Bindung zwischen ihnen kann durch Vertrauen oder durch Nutzenserwartung zustande kommen. Beides kann sich ergänzen. Eine Beziehung aus Vertrauen bezeichnen wir als Freundschaft[5], die aus Nutzenserwartung als Partnerschaft.

Wenn wir die Freundschaft als grundlegende Beziehung zwischen zwei radikal Einzelnen in den Blick nehmen, und als deren Grundlage das Vertrauen bezeichnen, entsteht sofort die Frage: Kann der radikal Einzelne denn Vertrauen haben? Wo kommt dieses her, warum hat er Vertrauen, und zu welchem Ende? Was meinen wir überhaupt, wenn wir von Vertrauen sprechen?

Wir wagen uns auf ein Terrain, auf dem wir sehr bedachtsam vorgehen müssen. Keinesfalls wollen wir Vertrauen auf einer moralischen Ebene betrachten – schon gar nicht bewerten. Wir wollen Vertrauen aber auch nicht auf etwas anderes, etwa auf Nutzenserwartungen, reduzieren. In phänomenologischer Einstellung betrachten wir schlicht den Einzelnen, der wir je selbst sind, und stellen fest, dass wir immer schon vertrauen, wenn wir anderen Einzelnen begegnen. Es ist möglich, dass dieses Vertrauen aus der Ursprungserfahrung der Beziehung zu den Eltern entstanden ist, die immer schon eine Vertrauensbeziehung ist und die somit – hier stört die Verwendung des Wortes etwas – als erste Freundschaft aufgefasst werden kann. Aber wir vertrauen auch, wenn wir anderen Einzelnen begegnen, und dieses Vertrauen wollen wir etwas genauer betrachten.

Es gibt Situationen, in denen wir spontan anderen Fremden vertrauen, und andere Situationen, in denen wir uns damit schwer tun. Wenn wir erkennen, was diese Situationen unterscheidet, dann können wir einen phänomenalen Begriff des Vertrauens bilden.

Vertrauen ist spontan vorhanden, wenn wir einerseits gewiss sind, dass die Fremden, denen ich begegne, in der gleichen Situation sind, wie wir je selbst, und wenn wir andererseits eine Ähnlichkeit der anderen im situationsbezogenen Verhalten erkennen. Betrachten wir, zur Illustration, zwei Beispiele: wir treffen zum ersten Mal mit künftigen Mit-Teilnehmern eines Schulung. Alle sind etwas unsicher – wie wir selbst. Suchende Blicke, nervöses Warten, erste vorsichtige Gespräche. Die anderen sehen aus, wie wir selbst, sie kommen, wie die ersten Gespräche ergeben, aus ähnlichen Gründen hier her, wie es die eigenen sind. Vertrauen entsteht.

Zweites Beispiel: Ich komme neu in ein Unternehmen, die Leute dort kennen sich alle schon lange, sie tun unverständliche Dinge, unterhalten sich mit unbekannten Begriffen. Möglicherweise sind sie anders gekleidet als erwartet. Vertrauen entsteht zunächst nicht. Jemand kommt auf mich zu, begrüßt mich freundlich und sagt: „So irritiert habe ich am ersten Tag auch hier gestanden, ist noch gar nicht lange her. Kommen Sie mit, ich zeige Ihnen alles“ – erstes Vertrauen kommt auf.

Wir wollen das, was wir hier intuitiv als Vertrauen bezeichnet haben, genauer beschreiben. Vertrauen entsteht, wenn der Einzelne sich den anderen ähnlich fühlt, wenn er sich in den anderen sieht und erkennt. Vertrauen ist die Überzeugung, dass der Andere, dem ich vertraue, so ist, wie ich. In einer etwas komplexeren Form ist der Vertraute so, wie ich es erhoffe: Er handelt so, dass es zu meinen Hoffnungen passt, er antwortet so, wie ich es erhoffe und er handelt auch so, wie ich es wünsche. Das Zusammenleben mit Vertrauten erleichtert das Zurechtkommen in der Wirklichkeit. Deshalb sucht der Einzelne die Nähe von Vertrauten. Wenn das Vertrauen gegenseitig ist, entsteht Freundschaft.[6]

Freundschaft ist somit nicht auf ein bestimmtes Ziel, auf einen bestimmten Lebensbereich festgelegt. Vielmehr versuchen Freunde, das Spiel der Freundschaft, da es den Umgang mit Wirklichkeit vereinfacht, auch auf Lebensbereiche auszuweiten, in denen das Vertrauen gerade nicht entstanden ist. Arbeitskollegen etwa werden zu privaten Freunden. Schulfreunde bleiben verbunden auch über die Schulzeit hinaus.

Wir wollen den Wert von Freundschaft und Vertrauen aber nicht als Nutzenserwartung oder als ökonomischen Effekt der Vereinfachung des Umgangs mit der Wirklichkeit betrachten. Für unsere phänomenologische Betrachtung ist es auch ganz unerheblich, ob der Einzelne aus der Freundschaft, die auf Vertrauen basiert, einen Nutzen zieht. Die Vereinfachung der Praxis durch Freundschaft ist eine phänomenale Tatsache, diese soll hier aber nicht als Nutzen oder als Zweck der Freundschaft verstanden werden. Wir wollen Freundschaft als etwas auffassen, was keinen Zweck haben muss und was nicht als Mittel zu einem Zweck gedeutet werden muss. Die Wirklichkeitsvereinfachung ist Teil der Freundschaft, die auf Vertrauen basiert, sie gehört zum Selbstzweck, der die Freundschaft ausmacht.

Freundschaft kann also entstehen und stabilisiert werden, wenn Gewohnheiten und Überzeugungen zusammenpassen, sodass im Austausch zwischen Freunden Gewohnheiten und Überzeugungen reproduziert und stabilisiert werden können. Wir hatten aber oben gesagt, dass diese immer im Werden, in Veränderung sind oder wenigstens sein können. Freundschaft mag die Veränderung verlangsamen, sie kann diese jedoch nicht verhindern. Das liegt daran, dass die Freundschaft nie total ist. Der Einzelne geht niemals ganz in der Freundschaft auf. Er ist immer auch Einflüssen ausgesetzt, die außerhalb der Freundschaft ihre Quelle haben.

In der Folge verliert die Freundschaft ihren selbstverständlichen Charakter. Der Einzelne möchte die Freundschaft erhalten, aber sie stabilisiert sich nicht mehr eigenständig durch das Sich-selbst-im-anderen-Erkennen. Die Freunde reproduzieren das erwartete Verhalten weiterhin aus Gewohnheit, aber zunehmend absichtlich, auch wenn sich bereits neue Gewohnheiten und Überzeugungen ausgebildet haben, die – wenn sie als selbstverständliche Handlungen in der Freundschaft zum Zuge kämen, die Gewohnheiten der Freundschaft selbst stören würden. Der Einzelne beginnt, in der Freundschaft eine Rolle zu spielen, er erfüllt mit diesem Rollenspiel die Erwartungen der Freundschaft, er weiß, was der Freund von ihm erwartet und ist bereit, diese Erwartung zu erfüllen, auch wenn sie im Widerstreit zu eigenen Absichten stehen, die sich aus seinem eigenständigen Werden außerhalb der Freundschaft ergeben. Wir nennen dieses Erfüllen von Erwartungen in der Freundschaft den Kompromiss.

Die Bereitschaft zum Kompromiss ist beim Einzelnen jedoch begrenzt. Damit kommen wir zu einem wichtigen Aspekt der Freundschaft: Sie kann jederzeit einseitig beendet werden. Der Entschluss zum Errichten einer Freundschaft ist zwar nicht einseitig umsetzbar, aber das Ende der Freundschaft kann von jedem Einzelnen herbeigeführt werden. Eine Freundschaft kann allmählich verschwinden, so wie sie allmählich beginnen kann, sie kann aber auch zu einem bestimmten Zeitpunkt für beendet erklärt werden.

Dies unterscheidet die Freundschaft wesentlich von Verhältnissen, die in familiär geprägten Gemeinschaften bestehen. Eine Familienmitgliedschaft kann eine Person nicht ohne weiteres beenden, jeder bleibt dort Teil der Familie, zu der er gehört. Wenn wir gesagt haben, dass die Freundschaft, als besonderer Fall der Beziehung, die kleinste Zelle der Gesellschaft ist, die aus Einzelnen besteht, so wie die Familie die kleinste Zelle der familiär geprägten Gesellschaft ist, dann wird klar, dass sich diese beiden Gesellschaftsformen grundsätzlich und radikal voneinander unterscheiden müssen, da in der Gesellschaft aus Einzelnen die Stabilität der Verbindungen zwischen Personen von der Entscheidung und der Wahl des Einzelnen abhängt.

Deshalb hatten wir auch bemerkt, dass die Verwendung des Wortes Freundschaft in Bezug auf die Eltern unangemessen ist. Zwar können wir die Einstellung des Kindes gegenüber den Eltern zunächst als Vertrauen auffassen, und die Fähigkeit, zu vertrauen, entsteht möglicherweise aus den ersten Erfahrungen, die der Mensch mit seinen Eltern macht, denn diese erzeugen dem Kind eine Umwelt, in der das geschieht, was das Kind erwartet und erhofft, noch bevor es überhaupt weiß, was Erwartung und Hoffnung ist. Aber das Vertrauen ist zwischen Kind und Eltern nicht gegenseitig und schon gar nicht symmetrisch, jedenfalls nicht, so lange das Kind sich noch in kindlicher Abhängigkeit von den Eltern weiß Und die Eltern noch die Verantwortung für ihr Kind empfinden.

Es gibt eine negative Form der Freundschaft, die wir als Feindschaft bezeichnen wollen. Eine Feindschaft besteht, wenn ein Einzelner zu einem Anderen gerade kein Vertrauen hat und kein Vertrauen haben kann. Der Einzelne kann überhaupt nur Vertrauen aufbauen, wenn er keine Beziehung zu einem Anderen hat, den er als seinen Feind ansieht. Nicht größtmögliche Nähe ist das Ziel, sondern größtmögliche Abgrenzung und Entfernung vom verfeindeten Anderen.

Wir wollen hier nicht untersuchen, wie Feindschaft entsteht und ob sie sich überwinden lässt. Wir bestimmen den Feind, und haben damit zugleich so etwas wie eine Erklärung für die Existenz von Feindschaft, indem wir in Anlehnung an Carl Schmitt sagen, dass der Feind das eigene Selbstbild des Einzelnen radikal in Frage stellt. Während der Einzelne im Freund sich selbst als Vertrauten sieht, ist der Feind gerade radikal unvertraut in dem Sinne, dass Voraussetzung für das Vertrautsein mit ihm eine radikale Revision alles bisher Vertrauten bedeuten würde. Man muss den Feind loswerden, um sich weiter im Vertrauten sicher fühlen zu können.

Kurt Röttgers hat darauf hingewiesen, dass dieser radikal Unvertraute, der Fremde, nicht zum Feind werden muss, er kann auch zum Verführer werden. In der Suche des Einzelnen nach seinem Glück kann das Leben des radikal Fremden gerade zum Leitstern werden, er will dann den Fremden nicht ausgrenzen, sondern sich selbst so ändern, dass er zum Freund werden kann.

Die Partnerschaft

Neben der Freundschaft können zwei (oder mehr) Einzelne auch eine Beziehung in Form einer Partnerschaft eingehen. Die Partnerschaft basiert nicht auf Vertrauen wie die Freundschaft, sondern auf einer wechselseitigen Nutzenserwartung. Wir hatten oben bereits gesagt, dass Beziehungen, die wir empirisch beobachten, häufig Mischformen aus Freundschaft und Partnerschaft sind, genauer, dass eine empirisch beobachtbare Beziehung häufig sowohl Freundschafts- als auch Partnerschaftsaspekte hat. Aus methodischen Gründen wollen wir diese hier jedoch einzeln betrachten, und uns nun der Partnerschaft zuwenden. Konsequenzen, die sich aus der Überlagerung von Freundschaft und Partnerschaft ergeben, werden wir im Anschluss betrachten.

Da die Partnerschaft nur zustande kommt, wenn beide Einzelne jeweils eine Nutzenserwartung mit dem anderen verbinden, muss zunächst jeder Beteiligte eine Überzeugung hinsichtlich bestimmter Möglichkeiten des Anderen haben, die ihm zum Erreichen eigener Ziele nützlich sein können. Gleichzeitig muss er aber auch die Überzeugung haben, dass er selbst über Möglichkeiten verfügt, die dem andern von Nutzen sind. Der einfachste Fall ist die symmetrische Partnerschaft. In diesem Falle sind die Möglichkeiten beider Partner, die sie zum Nutzen des je anderen einbringen können, die selben. Beide teilen zudem die Überzeugung, dass sie zum Erreichen eines Ziels nicht nur die eigenen Möglichkeiten, sondern quasi eine Verdoppelung der Möglichkeiten durch den gleichzeitigen oder koordinierten Einsatz beider Einzelner benötigen.

Der einfachste Fall ist der Einsatz körperlicher Kräfte zum Bewegen einer Last. Der Fall zeigt: alle Beteiligten müssen interessiert daran sein, dass die Last bewegt wird. Sie müssen die Überzeugung haben, dass nicht ihre je einzelnen Möglichkeiten ausreichen, die Last zu bewegen, dass aber der gemeinsame Einsatz der Kräfte dazu ausreichen wird.

Weitere einfache Beispiele einer symmetrischen Partnerschaft sind etwa die Fahrgemeinschaft oder die Praxisgemeinschaft  zweier Ärzte. Diese Beispiele zeigen, dass die Partnerschaft nicht die Vergrößerung des Effektes, sondern auch die Reduktion der benötigten Ressourcen zum Ziel haben kann. In jedem Fall ist die Partnerschaft eine Beziehung, die auf ökonomischen Erwartungen der Einzelnen gründet. Es geht darum, ein Ziel zu erreichen und die dazu benötigten Ressourcen koordiniert und sparsam einzusetzen.

Partnerschaften dieser Art können zum Erreichen eines einzelnen Zieles spontan und kurzfristig, oder auf unbestimmte Dauer nach einem gewissen Planungs- und Kennenlernprozess der zukünftigen Partner gebildet werden. Voraussetzung ist in jedem Falle eine gewisse Plausibilität der Möglichkeit der Leistungserbringung des potentiellen Partners. Diese Plausibilität wird durch ein charakteristisches Verhalten der Einzelnen gewährleistet, das wir uns genauer ansehen müssen. Es besteht aus der Präsentation einerseits einer notwendigen Erscheinung, andererseits eines notwendigen Verhaltens. In unseren einfachen Fällen sind beide kaum voneinander zu trennen, aus methodischen Gründen wollen wir sie aber schon hier explizit voneinander unterscheiden.

Betrachten wir das Beispiel der Praxisgemeinschaft zweier Ärzte. Die notwendige Erscheinung des potentiellen Partners wird etwa durch Abschlüsse von Universitäten sichergestellt. Sie weisen den Anderen als potentiellen Partner aus, sie weisen aus, dass er eine bestimmte Rolle in der Partnerschaft übernehmen kann. Wir wollen diesen Aspekt deshalb als den Rollen-Ausweis bezeichnen. Der Rollen-Ausweis genügt jedoch nicht, der potentielle Partner muss in bestimmten Situationen auch ein erwartetes Standard-Verhalten zeigen. Der Arzt, der zum Partner werden soll, muss sich als Arzt verhalten. Wir wollen dieses erwartete situationsbezogenen Standard-Verhalten in Anlehnung an Verwendungsweisen aus der Computerwelt und aus der Diplomatie hier das Rollen-Protokoll nennen.

Bevor wir mit dem Gedanken fortfahren, wollen wir diese beiden neuen Begriffe an einem anderen Beispiel veranschaulichen. Rollen-Ausweis und Rollen-Protokoll müssen nämlich nicht, wie es unser erstes Beispiel vielleicht nahelegt, durch explizite und genau beschreibbare Artefakte oder Verfahren bestimmt sein. In unserem Beispiel vom gemeinsamen Bewegen einer Last ist der Rollen-Ausweis vielleicht schon durch die Statur des Anderen gegeben, während das Rollen-Protokoll dadurch präsentiert wird, wie der andere „zupackt“, auf welche Weise er sich der Aufgabe nähert.

Offensichtlich wird an dieser Stelle, warum wir die Rolle, die der Einzelne in der Partnerschaft übernehmen soll und deren Möglichkeit der je Andere zu Beginn der Partnerschaft bereits erkennen können muss, in zwei Aspekte teilen. Der Rollen-Ausweis ist jeweils sofort sichtbar, während das Rollen-Protokoll durch Erfahrung in einer Probephase der Partnerschaft erst erkennbar wird.

Die Möglichkeiten des anderen Einzelnen, die zur Bildung einer Partnerschaft führen, müssen nicht mit den eigenen Möglichkeiten identisch sein, ebenso müssen die eigenen Nutzenserwartungen nicht mit denen des anderen übereinstimmen. Die Partnerschaft kann auch asymmetrisch sein. Unterscheiden sich nur die Möglichkeiten der Partner voneinander, die sie als Fähigkeiten in die Partnerschaft einbringen, sprechen wir von einer ergänzenden Partnerschaft. Das Ziel, welches die Partner sich vom Errichten der Partnerschaft erhoffen, ist in diesem Fall das gleiche, die Fähigkeiten der Partner  ergänzen einander. Diese Partnerschaft ist von der symmetrischen Partnerschaft nicht wesentlich verschieden, wir bezeichnen sie deshalb als schwach-asymmetrische Partnerschaft.

Anders verhält es sich, wenn die Nutzenserwartungen aus der Partnerschaft verschieden sind. Wie kommt eine solche Partnerschaft zustande? Beide Akteure müssen zuerst ihr Interesse an der Fähigkeit des Anderen und ihre Nutzenserwartung kommunizieren. Einer der potentiellen Partner weiß, dass er zum Erreichen seines Ziels einen Partner mit einer gewissen Fähigkeit braucht. Über dessen Nutzenserwartung stellt er eine Vermutung an und macht dem anderen ein Angebot. Woher weiß er, dass der andere die benötigte Fähigkeit hat? Dadurch, dass dieser, auf der Suche nach eben diesen Angeboten, einen entsprechenden Rollen-Ausweis und ein Rollen-Protokoll präsentiert.

Diese stark-asymmetrische Partnerschaft dieser Art erscheint zunächst hierarchisch dadurch, dass einer der Partner ein Angebot macht und der andere nach Angeboten sucht. Dadurch wird in der Partnerschaft letzterer als Erfüllungsgehilfe für die Ziele des ersten tätig, seine eigenen Nutzenserwartungen ergeben sich daraus, dass er zur Erreichung der Ziele des ersten beitragen kann und erwartet, daraus Nutzen für sich selbst zu ziehen.

Das naheliegende Beispiel ist der Arbeitsvertrag. Hier bietet der Arbeitgeber zum Erreichen seiner Ziele Arbeitsgelegenheiten, der Arbeitnehmer zeigt durch Ausbildungs- und Arbeitszeugnisse (Rollen-Ausweis) sowie durch seine Bewerbung (verstanden als Menge von Aktivitäten, Rollen-Protokoll) an, dass er die Arbeit leisten kann. Seine Nutzenserwartung ist eine Vergütung, die er zum Zwecke seiner eigenen Zielerreichungen einsetzen kann.

Auch wenn dieses Beispiel naheliegend ist, lässt sich an ihm auch zeigen, das die stark-asymmetrische Partnerschaft in ihrem Wesen nicht hierarchisch ist. Auch der Arbeitnehmer kann gewissermaßen als derjenige angesehen werden, der ein Ziel hat, welches er mit Hilfe des Arbeitgebers erreichen will. Dann wird dieser zum Erfüllungsgehilfen des ersten.[7] Dabei muss das Ziel des Arbeitnehmers hier auch gar nicht in erster Linie der Lebensunterhalt durch Arbeit sein. Die Arbeit selbst kann das Ziel sein, ihre Möglichkeit wird gesichert dadurch, dass durch den Lohn die Vorraussetzungen geschaffen werden, die zur Ausführung der Arbeit nötig sind.

Die Gesellschaft der Einzelnen ist durch eine Vielzahl von stark-asymmetrischen Partnerschaften geprägt. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient gehört genauso dazu wie die zwischen dem Autor und dem Leser eines Buchs.

Partnerschaften können für den Moment entstehen, anlassbezogen. In diesem Falle sind sie mit dem Erreichen oder dem Verfehlen des Ziels beendet. Solche Partnerschaften können jedoch wiederholt werden, jede einmal vollzogene Partnerschaft ist zugleich Rollen-Ausweis und Rollen-Protokoll für eine erneute Partnerschaft zum gleichen oder ähnlichen Zweck wie die bereits vollzogene. Partnerschaften können jedoch auch auf unbestimmte Zeit eingegangen werden, wenn beide Partner annehmen, dass sie ihr Ziel auf Dauer immer wieder erneut oder auch beständig erreichen wollen und wenn die Nutzenserwartung aus der Partnerschaft dauerhaft besteht.

Auch zur Partnerschaft gibt es ein negatives Gegenstück, so wie der Freundschaft die Feindschaft gegenüber steht. Die Nutzenserwartung des Einzelnen kann gerade darin bestehen, Ressourcen zum Erreichen eines Ziels gerade nicht mit einem anderen gemeinsam zu nutzen, sondern den anderen von der Nutzung der Ressource auszuschließen. Wir bezeichnen diese Beziehung deshalb als Konkurrenz.

Konkurrenz und Wettbewerb ist nicht das Gleiche. Betrachten wir als Beispiel einen sportlichen Wettbewerb. Die Wettbewerber sind vor allem Partner, sie nutzen die gleichen Ressourcen, insbesondere die Aufmerksamkeit des Publikums, die ihnen – durch finanzielle Zuwendungen – die sportliche Betätigung im Wettbewerb überhaupt erst ermöglicht. Letztlich sind die Wettbewerber aufeinander angewiesen, denn ohne den gemeinsam ausgetragenen Wettbewerb würde niemand seine Nutzenserwartung, sei es Sieg, Anerkennung, Aufmerksamkeit oder die Prämie für die Teilnahme oder den Erfolg im Wettbewerb, befriedigen können.

Die Wettbewerbs-Partnerschaft ist ein zentrales Element der Gesellschaft der Einzelnen, die uns überall wieder begegnen wird. Wettbewerber sind Partner, die zunächst ihre Ressourcen und ihre Fähigkeiten zusammenbringen, um gemeinsam die Plattform zu stabilisieren, auf der sie ihren Wettbewerb überhaupt austragen können. Sie haben, wie man im Alltag häufig sagt, gemeinsame Interessen. Auf dieser Plattform und innerhalb des Wettbewerbs werden Wettbewerber dann temporär zu Konkurrenten. Am Ende kann es im Wettbewerb nur einen Sieger geben, auch wenn nicht jeder Nicht-Sieger ein Verlierer sein muss. Diese Konkurrenz zwischen Wettbewerbern ist aber nie radikal und das heißt auch, dass es im Wettberwerb im Interesse aller Wettbewerber ist, dass es möglichst keine Verlierer gibt. Deshalb sind Wettbewerber auch naturgemäß keine Feinde, jeder einzelne Wettbewerber braucht die anderen, denn er braucht den Wettbewerb mehr als den Sieg. Ohne Wettbewerb gibt es keinen Sieger, es gibt gar kein Interesse an dem Tun des Einzelnen, oder man begegnet ihm mit Skepsis, aber auch der Nicht-Sieger kann durch den Wettbewerb weiter existieren.

Wir hatten bereits gesagt, dass Beziehungen zwischen zwei Einzelnen immer Mischungen aus Freundschaft und Partnerschaft sein können. Die oben beschriebene Veränderung einer Freundschaft hin zur Erfüllung einer Rollenerwartung können wir nun als Wandlung einer Freundschaft hin zu einer Partnerschaft verstehen. Umgekehrt kann die Partnerschaft sich mehr und mehr zu einer Freundschaft entwickeln, wenn in der täglichen Praxis der Partnerschaft mehr und mehr Vertrauen entsteht. Dann kann die Beziehung fortgesetzt werden, wenn die Nutzenserwartuung sich längst gewandelt hat oder sie zumindest bei einem der Partner vielleicht ganz verschwunden ist.

Die Bindekräfte der Freundschaft sind ganz andere als die der Partnerschaft, zur Stabilisierung der Beziehung können diese sich jedoch ergänzen und verstärken. Es ist für das Verständnis der Gesellschaft, die aus radikal Einzelnen besteht, von enormer Bedeutung, zu verstehen, dass die Bindekräfte in Beziehungen, die wir wie gesagt als elementare Zelle der ganzen Gesellschaft ansehen, sich ergänzende Kombinationen zwischen Vertrauensbasierten Wirklichkeitsvereinfachungen in der Freundschaft und Nutzenserwartungen in der Beziehung sind. Der radikal Einzelne ist keineswegs ein ökonomisch kalkulierendes Partnerschaftswesen.

Im Gegenteil. Nur in der Partnerschaft hat der Einzelne überhaupt Nutzenserwartungen, und die sind immer gegenseitig. Der Einzelne sucht aber diesen Nutzen nicht als Selbstzweck, sondern zumeist zum Ermöglichen anderer Ziele, oft zur Erhaltung und Stabilisierung von Freundschaften. Partnerschaften werden hingegen oft zu Freundschaften, weil Vertrauen und Gewohnheiten entstehen, die dem Einzelnen jenseits des Nutzens der Partnerschaft etwas bedeuten.

Wir hatten gesehen, dass Freundschaften zu Partnerschaften werden können, umgekehrt werden Partnerschaften zu Freundschaften. Jede Beziehung zwischen zwei Einzelnen hat Aspekte der Freundschaft und der Partnerschaft, sie oszillieren oder schwanken zwischen den Polen der reinen Freundschaft und der reinen Partnerschaft..

Eine reine Partnerschaft kann immer einseitig aufgelöst werden, wenn ein Partner den Nutzen, den er bisher erwartet hat, nicht mehr erwartet. Dass Partnerschaften oft über die Zeit des Nutzens hinaus erhalten bleiben zeigt, dass sich in der Partnerschaft eine Freundschaft entwickelt hat.

Wenn eine Freundschaft durch einen der Freunde beendet wird, entsteht zumindest bei dem anderen eine Leerstelle, weil Vertrauen nicht mehr erwidert wird. Freundschaften beendet der Einzelne nicht so leicht wie Partnerschaften. Diese Leerstelle bezeichnen wir als Trennungsschmerz.

Wir werden später darauf zurückkommen, dass die Gesellschaft der Einzelnen Mechanismen kennt, um die Auflösung von Partnerschaften zu verhindern oder zu regeln. Diese Mechanismen nennen wir den Vertrag. Für eine Freundschaft gibt es keinen Vertrag, der sie erhält und den Schmerz verhindert.

Das Beziehungs-Netzwerk

Weder die Freundschaft, noch die Partnerschaft müssen auf zwei oder wenige Personen begrenzt sein. Im Gegenteil: da sich Beziehungen zwischen Einzelnen immer auf bestimmte Bereiche des Lebens erstrecken und sich aus diesen entwickeln, in diesen aber zum einen meistens mehr als zwei Einzelne zusammenkommen und zum anderen Lebensbereiche einander überlagern, was zum Zusammentreffen verschiedener Beziehungen führt, entwickeln sich zumeist Freundschafts- oder Partnerschafts-Netzwerke, die sich auf viele Einzelne erstrecken. Wir können die soziale Gesamtheit, die von Einzelnen, die miteinander zu tun haben, gebildet wird, als ein Netzwerk von Freundschafts- und Partnerschaftsbeziehungen auffassen, bei denen sich Cluster und Inseln besonders intensiver und häufiger Beziehungsinteraktionen finden. Die allgemeine Struktur dieses Netzwerks soll uns im folgenden interessieren.

Bereits in der Beziehung mit einem einzelnen anderen begegnet der Einzelne weiteren Menschen. Niemand befindet sich nur mit einer Person in einer Beziehung, jeder Einzelne hat zumeist eine Vielzahl von Partnerschaften und Freundschaften. Die Beziehung zu einem Anderen ist durch die eigenen bereits bestehenden Beziehungen ebenso geprägt wie durch die Beziehungen des Anderen zu weiteren Anderen. Diese Prägung liegt insbesondere für die Partnerschaften auf der Hand. Die Rollen- und Protokoll-Erwartungen werden durch Erfahrungen und Beobachtungen anderer Partnerschaften definiert. Wir wissen, wie eine Partnerschaft „funktioniert“ weil wir die Rollen und Protokolle, die sie ausmachen, bereits erlebt oder beobachtet haben.

Das gleiche gilt jedoch auch für die Freundschaft. Der Einzelne beobachtet andere in ihren Freundschaften und das weckt in ihm den Wunsch nach ähnlichen Beziehungen. Durch die Erfahrung der Freundschaften dritter wird unsere Vorstellung von gelungener Freundschaft geprägt. Wenn wir andere in ihren Freundschaften erleben, entsteht das Bedürfnis nach ähnlichen Beziehungen. Wir erfahren, was Vertrauen ist, und versuchen, selbst Vertrauensbeziehungen aufzubauen.

Jeder einzelne befindet sich selbst gleichzeitig in mehreren Beziehungen, Partnerschaften, die zu Freundschaften werden, Freundschaften, die sich zu Partnerschaften umformen. Wettbewerbs-Partnerschaften sind ganz selbstverständlich zumeist Beziehungen zwischen mehr als zwei Einzelnen. Das heißt auch, dass ich in meinen Beziehungen immer Anderen begegne, die nicht nur mit mir, sondern auch mit wieder anderen Beziehungen haben. In unseren Beziehungen selbst tauchen die Beziehungen der Anderen zu wieder anderen auf. Der Arzt, zu dem ich gehe, konsultiert seinen Kollegen. Ich verabrede mich mit Freunden zum Kinobesuch, und diese bringen wieder andere Freunde mit. Bei einer Party treffe ich auf die Freunde meiner Freunde, komme mit ihnen ins Gespräch, wir gewinnen Vertrauen zueinander und werden so selbst zu Freunden, oder wir erfahren etwas über sie, was eine Nutzenserwartungen erzeugt, sodass sie zu Partnern werden. Unsere ganze Gesellschaft ist ein mal dichtes und mal dünnes Netz von Beziehungen, die sich als Freundschaft oder Partnerschaft entwickeln oder zwischen beidem oszillieren. Für den Einzelnen heißt, ein gesellschaftliches Wesen zu sein, sich in Beziehungen einzuknüpfen, aus Beziehungen zu lösen und Beziehungsnetze umzubauen.

Wenn der Einzelne den Anderen in der Praxis ihrer Beziehung begegnet und diese ihm im Falle der Freundschaft Vertrautheit verspricht, oder er im Falle der Partnerschaft eine Nutzenserwartung entwickelt,  wird er versuchen, dieser Beziehung beizutreten. Auf diese Weise entstehen Beziehungscluster im Netz der gesellschaftlichen Beziehungen. Wir wollen diese Cluster als Gemeinschaften bezeichnen, wenn die Gemeinschaft ausschließlich aus Freundschaften besteht, sprechen wir vom Freundeskreis, wenn sie ausschließlich aus Partnerschaften besteht, bezeichnen wir sie als Vereinigung. Wir werden uns die Eigenschaften und die Dynamik der Gemeinschaften und ihrer Ausprägungen als Freundeskreisen oder Vereinigungen jetzt genauer ansehen. Alle gesellschaftlichen Gebilde, die uns in der Gesellschaft der Einzelnen begegnen, sind im Wesentlichen Ausprägungen und Mischformen von Freundeskreisen und Vereinigungen.

Das wichtigste Element der Gemeinschaft ist die Regel. Das, was sich in der Beziehung als Verhaltensmuster mehr oder weniger intuitiv und spontan etabliert und veränderlich ist, wird in der Gemeinschaft zur ritualisierten Norm. Auch die einfache Beziehung kennt Rituale, aber die Gemeinschaft kommt ohne Ritual nicht aus. Das Ritual stabilisiert die Gemeinschaft, man kann auch sagen, das Ritual, oder ein Bündel von Ritualen, erzeugt und definiert überhaupt die Gemeinschaft. Das führt dazu, dass die Gemeinschaft unabhängig von der einzelnen Beziehung wird, denn das Ritual äußert sich zwar nur in den Beziehungen, aber diese werden durch das Ritual bestimmt und dominiert. Deshalb existiert die Gemeinschaft auch länger als die einzelnen Beziehungen. Dies ist nicht nur der Fall, weil eine Gemeinschaft aus mehreren Beziehungen besteht, die weiter existieren, wenn eine Beziehung aufgelöst wird. Das Ritual der Gemeinschaft entfaltet eine eigene Attraktivität, es zieht für sich andere Einzelne an, die aufgrund des Rituals der Gemeinschaft, sei es als Freundeskreis oder als Vereinigung, beitreten wollen.

Ein Beispiel: Stellen wir uns eine einzelne Person vor, die in eine fremde Stadt kommt, um dort eine Arbeitsstelle anzutreten. Diese Person wird von den Beziehungsnetzwerken, denen sie begegnet, schon ein gewisses Vorverständnis haben. Woher dieses Vorverständnis kommt und wie weit es ausgeprägt ist, wird uns später beschäftigen. Am Arbeitsplatz wird sie, wir haben dieses Beispiel bereits kurz skizziert, auf Kollegen treffen. Diese verhalten sich auf bestimmte, erwartete Weise. Genauer, die Person, aus deren Perspektive wir die Kollegen betrachten, wird annehmen, dass das Verhalten der Kollegen das erwartbare, normale, angemessene Verhalten ist – dass die Kollegen ein angemessenes Rollen-Verhalten zeigen. Sie werden in ihrem Handeln ein Rollen-Protokoll anbieten und dieses möglicherweise der neu hinzukommenden Person ausdrücklich als solches darstellen: „Wir machen das hier so“, „Zuerst machen wir hier das, und dann jenes“, „Um diese Zeit / in dieser Situation machen wir hier immer folgendes…“. Mit solchen Sätzen wird die neu hinzukommende Person das Rollen-Protokoll-Verhalten des Kollegen-Netzwerks kennenlernen.

Der radikal Einzelne erlebt die Gemeinschaft, in die er sich  auf Zeit oder auf Dauer hineinbegibt, als Überlagerungen von Freundschaften und Partnerschaften. Sein Eindringen in eine Gemeinschaft, sein Sich-Einbinden in das Netzwerk, ist ein Finden von Freundschaften und ein Aufbauen von Partnerschaften. Zunächst erlebt der Einzelne die Freundschaften der Anderen: Ihr wortloses Einander-Verstehen, die Gesten des Erkennens und die Wiederholungen der Rituale, die die Freundschaft bestätigen und festigen. Der Einzelne findet eigene Freundschaften, indem er das Spiel der Freundschaft, die Freundlichkeit, mitspielt. Die Freundlichkeiten sind die Rituale der Freundeskreise.

Diese Rituale selbst zu vollziehen gelingt dem Einzelnen umso einfacher, desto vertrauter die Freundlichkeit der anderen ihm erscheint. Hier spielen Mechanismen eine Rolle, die wir aus unserer Untersuchung aus methodischen, systematischen Gründen ausgeklammert haben. Die Vertrautheit von Ritualen der Anderen ergibt sich aus einer Zugehörigkeit zum gleichen kulturellen Kontext, aus ähnlichen kulturellen Prägungen, die durch lange Traditionen in den Einzelnen verankert sind. Wir betonen an dieser Stelle noch einmal, dass unsere Untersuchung nicht beansprucht, die Realität der gegenwärtigen Gesellschaft vollständig zu beschreiben oder zu erklären. Wir werfen einen Blick aus einer bestimmten Perspektive auf die Gesellschaft, in dem die Menschen als radikal Einzelne erscheinen. Eine Gesellschaft, die tatsächlich aus radikal Einzelnen bestehen würde, die keinerlei kulturelle Prägungen und Bindungen haben, könnte vermutlich nicht existieren. Wir setzen also die Existenz kultureller Mechanismen voraus, die wir aus unserem Bild vom Menschen als radikal Einzelnem nicht erklären können.

Allerdings können wir für den radikal Einzelnen annehmen, dass er geübt im Aufspüren und Aufnehmen von Ritualen ist, die sich in einer Gemeinschaft etabliert haben, in die er neu hineinkommt. Er kann jede Handlung der anderen, die er wiederholt beobachtet,, als Freundlichkeit der Gemeinschaft interpretieren, wenn diese nicht unmittelbar mit einem Nutzen verbunden ist.

Stellen wir uns vor, eine Person kommt in eine unbekannte Umgebung und beobachtet, dass bestimmte Menschen, wenn sie zusammentreffen, eine charakteristische Handbewegung machen. Die Handbewegung wird einigen Personen gegenüber ausgeführt, anderen gegenüber nicht. Das Ausführen der Handbewegung macht auch einen Unterschied für das weitere miteinander Umgehen der Personen. Schnell wird dem Neuankömmling klar, dass die Handbewegung sozusagen einCode ist, mit dem sich Mitglieder einer Gemeinschaft ihrer weiteren Verbindung versichern.

Das Ritual ist das Erkennungszeichen der Gemeinschaft. Der Neuankömmling erkennt am Ritual überhaupt, dass Eine Gemeinschaft existiert. Diese Gemeinschaft kann auch aus nahezu allen Personen bestehen, denen der Neuankömmling begegnet, es gibt Gemeinschaften, die aus nicht weiter bestehen als den Ritualen, die dazu da sind, die Gemeinschaft zu erkennen. Wir kommen in einen Raum voller fremder Menschen und sagen halblaut etwas wie „Guten Tag“. Wir grüßen, selbst joggend, andere Jogger. Solche Gesten der Freundlichkeit versichern uns und den anderen, dass wir in irgendeinem ganz basalen Sinn zur gleichen Gemeinschaft gehören. Wir sprechen dabei noch nicht von Freundschaft, aber die Grundmerkmale der Freundschaft sind hier schon angelegt, der Aufbau einer ganz lockeren, ganz unverbindlichen, nicht auf Nutzen angelegten Beziehung zu anderen, die für nichts anderes da ist als eine unkomplizierte, vertraute, Angenehme Situation zu schaffen. Der Smalltalk übers Wetter gehört ebenso dazu wie das verständnisvolle Lächeln beim Beobachten eines kleinen Missgeschicks oder die beiläufige Hilfsbereitschaft.

Die oberflächliche Freundlichkeit der allgemeinen Gemeinschaft ist immer darauf angelegt, dass aus ihr mehr werden kann, dass sich die Beziehung hin zur Freundschaft verfestigen kann, dass diese Bewegung jedoch auch jederzeit problemlos zum Stehen gebracht und umgekehrt werden kann. Im besten Fall ist die allgemeine Gemeinschaft der radikal Einzelnen mit Freundlichkeit gesättigt in dem Sinne, dass jede kurzzeitige Beziehung zum Kondensationskern für eine echte Freundschaft werden kann. Radikal Einzelne sind darin geübt, in diesem freundlichen Klima Selbst freundlich zu sein  und nach Freundschaften zu suchen, diese zu festigen und zu pflegen. Sie treffen einen anderen Einzelnen im Zug, sie wechseln ein paar Worte über das Wetter oder die aktuelle Verspätung. Vielleicht vertieft der andere sich wieder in sein Buch, das vor ihm liegt, dann ist die freundliche Beziehung schon beendet, vielleicht wenden sie sich aber auch freundlich einander zu, sprechen weiter. Erzählen von ihrem Fahrtziel.

[1] Die Vorgehensweise ist im Folgenden nicht empirisch, sondern phänomenologisch-spekulativ. Natürlich sind die nachfolgenden Überlegungen durch die politischen Erfahrungen und Beobachtungen des Autors, aber auch durch die Lektüre verschiedener Autoren der politischen Philosophie fundiert. Und es soll auch nicht verheimlicht werden, dass es hier um das Verständnis des aktuellen politischen Geschehens und der politischen Strukturen, die heute in der Welt existieren, geht. Die Idee der phänomenologischen Klärung ist gerade, dass der Autor ein gewisses Verständnis vom Politischen hat, das aus all diesen Erfahrungen gebildet ist, und welches es nun zu strukturieren, in klare Begriffe zu fassen gilt. Dabei müssen Verwendungsweisen von Begriffen darauf hin geprüft werden, ob sie nur aus einer normativen, hoffenden oder fürchtenden Sicht heraus mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen sind, und ob diese Begriffe die tatsächlichen Erfahrungen nicht vielleicht verfälschen

[2] Dazu gehen wir gerade nicht von unserer Erfahrung aus, denn diese kann, wie gesagt, die eigentlichen Phänomene ja verfärbt oder verzerrt darstellen. Wir konstruieren uns stattdessen auf spekulativem Wege plausible, sich selbst – gegenseitig – tragende und stützende Begriffe; wohl wissend, dass diese aus dem Material unserer Erfahrung entnommen, aber durch den spekulativen Geist geformt sind.

[3] Vergleiche Barbara Bleisch: Familiäre Verantwortung.

[4] Wenn wir im Folgenden davon sprechen, dass sich etwas bildet, formt oder entwickelt, dann ist das niemals historisch gemeint. Wir behaupten nicht, dass einige Phänomene, die wir hier beschreiben, zuerst da waren und sich dann im Laufe der Jahre ausgeformt oder zu anderen weiterentwickelt haben. Vielmehr entwickeln sich die Konzepte und Beschreibungen, sie gehen auseinander hervor. Wir selbst entwickeln uns in unserem Verständnis der Dinge: Wir sehen zuerst das eine Phänomen, dann sehen wir es im Zusammenhang mit anderen und bemerken, dass es sich ausdifferenziert und verändert.

[5] Wir beschäftigen uns hier aus methodischen Gründen nicht mit der Gemeinschaft aus Liebe, sie könnte als spezielle Form der Freundschaft angesehen werden. Das Ziel unserer Untersuchung ist ein Kategoriensystem, welches geeignet ist, gesellschaftliche Strukturen zu beschreiben. Dazu ist der spezielle Fall der Liebesgemeinschaft nicht notwendig.

[6] Vgl. Björn Vedder: Neue Freunde. Bielefeld 2017.

[7] Hegel, Herr-Knecht-Dialektik