Wissen als wahre, gerechtfertigte Überzeugung (eine Fußnote zu Platon)

Als erste Quelle des Satzes, Wissen sei wahre gerechtfertigte Überzeugung, wird zumeist  Platon, Theaitetos 201d angegeben. Es lohnt sich, dort genauer hinzusehen. Dort steht:

Εφη δε την μεν μετά λόγου αληθή δόξαν επιστήμην είναι, την δ αλογόν εκτός επιστήμης.

Schleiermacher hat dies übersetzt mit

„Er sagte nämlich, die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung wäre Erkenntnis, die unerklärbare dagegen läge außerhalb der Erkenntnis.“

Zunächst können wir natürlich nicht einfach behaupten, diese Bestimmung von Wissen sei Platons Sicht oder Definition. Platon lässt den Theaitetos diesen Satz als ein Zitat eines anderen, unbekannten aussprechen, dessen er sich erst im Laufe der Diskussion wieder erinnert. Sokrates stimmt dieser Bestimmung keineswegs zu, sondern weist auf ihre Schwächen und Grenzen hin.

An anderer Stelle (Symposion 202a) lässt Platon Diotima eine negative Version aussprechen, und Sokrates stimmt ihr unumwunden zu:

Το ορθά δοξάζει και άνευ του έχειν λογον δουναι ουκ οισθ, εφη, ότι ουτ επιστασθαι έστιν – αλογον γαρ πράγμα πως αν ειν επιστήμη.

Schleiermacher übersetzt hier

„Wenn man richtig vorstellt ohne jedoch Rechenschaft davon geben zu können, weißt du nicht daß das weder Wissen ist, denn wie könnte etwas grundloses eine Erkenntnis sein?“

Etwas, was nicht begründet ist, kann also keine Erkenntnis sein, eine begründete Überzeugung als Erkenntnis anzusehen, ist aber problematisch.

Schleiermacher übersetzt im Theaitetos επιστήμη mit „Erkenntnis“, nicht mit „Wissen“: „die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vorstellung wäre Erkenntnis“, während er im Symposion dieses Wort einmal mit Erkenntnis und einmal mit Wissen übersetzt. Das, was mit „Erklärung“ oder „Rechenschaft“ übersetzt wird, ist im griechischen Original das vielschichtige Wort λόγος. Das Gegenstück αλογον wird einmal mit „unerklärbar“ und einmal mit „grundlos“ übersetzt.

Wissen als Erkenntnis ist also zunächst zu unterscheiden von all dem, was landläufig mit „ich weiß, dass…“ (vgl. Wittgenstein 1984, 122) benannt wird. Erkenntnis ist ja immer ein Prozess, an dessen Ende erst die Überzeugung steht. Zu dieser Erkenntnis aber gehört notwendig der λογος, die erklärende, begründende Rede, das Ablegen von Rechenschaft über das Zustandekommen der Erkenntnis. Das wird jeweils im zweiten Teil des Satzes betont, in dem ja gesagt wird, dass auch eine richtige Überzeugung, wenn sie aber keine Erklärung, keine Gründe hat, keine Erkenntnis sein kann. Damit liegt nahe, dass επιστήμη keineswegs etwas für alle Zeiten Sicheres ist, sondern immer etwas, was in einer bestimmten Praxis des Sprechens und Begründens als sicher gilt, eben als etwas, das so gut begründet ist, dass kein Zweifel möglich ist (vgl. Wittgenstein, 1984, 122). Die Elemente solcher „diskursiven Formationen“, die in einer bestimmten Praxis als Begründung von Wissen (Erkenntnis) gelten, hat Foucault (1973) ausführlich dargestellt.

In unserem Zusammenhang ergibt sich, dass plausible Überzeugungen ebenfalls diskursiv erläutert werden können und müssen, und sie müssen sich in einer aktuellen diskursiven Formation bewähren. Es muss also durchaus gute Begründungen geben, die Weise des Begründens muss im herrschenden Diskurs akzeptiert werden. Zugleich ist die plausible Überzeugung sozusagen nie vollständig begründet, es gibt ebenso akzeptierte Argumente, die dagegen sprechen, ohne aber die fragliche Überzeugung zu widerlegen.

Die Abhängigkeit der επιστήμη vom λογος, von der praktisch akzeptierten Weise des Begründens, mag unbefriedigend sein. Man hofft doch, Erkenntnis, die als Wissen gelten soll, so gewiss zu haben, dass sie nicht von diesen oder jenen aktuellen Standards des Begründens abhängig ist und in zukünftigen diskursiven Formationen womöglich wieder ungültig ist. Dies weiter zu diskutieren, ist hier jedoch nicht möglich.

8 Gedanken zu „Wissen als wahre, gerechtfertigte Überzeugung (eine Fußnote zu Platon)“

  1. Lieber Jörg, wenn ich das lese, sehe ich Männer vor mir, die seit Jahrhunderten oder Jahrtausenden mit Frauen zu tun hatten, die „einfach so“ wissend waren. Ich meine, sie wussten (über ihre Körperwahrnehmungen) Dinge, die Männer nicht wahrnehmen konnten. Es war wohl ein Akt der Emanzipation, dass Männer anfingen, (von Frauen) Begründungen zu verlangen, die sie – als Männer – nachvollziehen konnten. Das konnten die Frauen aber nicht, weil sie ja nicht wie Männer denken/wahrnehmen konnten. Und weil ihr Wissen wahrscheinlich wirklich nicht in die vorgegebenen Kategorien passte. So begann in meinen Augen das, was wir heute Patriarchat nennen. Die systematische Abwertung weiblichen Wissens mit dem Ziel der (seelisch-emotionalen) Emanzipation des Mannes. Er wollte auch mitreden und das hat er dann gründlich auf seine Weise getan! Heute finden immer mehr Frauen wieder Zugang zu ihrem Körperwissen, zu ihrer Intuition. Und sie haben auch wieder Mut dazu zu stehen. Ich bin überzeugt, dass wir heute in einer Zeit leben, in der wir eine neue Balance finden müssen zwischen dem (rationalen) Logos und dem anderen, eher ganzheitlich-intuitiven Prinzip, das über nonverbale (!) (Körper-)Wahrnehmungen vermittelt wird. Und ich meine, dass dies zum Wohle von Männern und Frauen geschehen wird. Wenn wir’s nicht vermasseln

    1. In dem Zusammenhang ist es womöglich interessant, dass an der zitierten Stelle im Symposion kein Mann, sondern eine Frau spricht. Sokrates gibt ja ein Gespräch zwischen Diotima und ihm wieder, in der Diotima die Rolle spielt, die „normalerweise“ Sokrates zukommt. Auch wichtig, dass es dort eigentlich um den Eros geht, und Diotima wird von Sokrates als „darin und auch sonst weise“ charakterisiert. Diotima will in ihrer Rede darauf hinaus, dass es zwischen der begründeten Erkenntnis und dem Grundlosen eben auch unbegründete richtige Überzeugungen gibt, die gleichwohl keine Dummheit sind, eine Sichtweise, die Sokrates (im Theaitetos) ja teilt.

      Ich halte es für hilfreich, zwischen Wissen und Erkenntnis zu unterscheiden, und ich glaube, dass Platon vor allem von Erkenntnis spricht, wenn er begründete Rede einfordert. Es gibt aber eben auch andere Formen des Wissens.

      Wenn Menschen über dieses Wissen sprechen wollen, werden sie aber um den Logos, um das vernünftige Reden, nicht herumkommen, ob sie Frauen oder Männer sind. So lange sie ihr Wissen nur für sich haben (wollen) müssen sie sich ums Sprechen natürlich nicht kümmern. Aber sobald sie ihr Wissen mit anderen teilen wollen, müssen sie sprechen. Deshalb scheint es mir wichtig, darüber nachzudenken, dass es auch andere Wege des begründenden Sprechens gibt als die, die heute (und in den letzten 2500 Jahren) als „logisch“ bezeichnet werden. Die alten Griechen kannten noch den Mythos, der vom Logos nicht getrennt war, erst mit Platon und Aristoteles setzt ja die Spaltung von Logos und Mythos ein. Da lohnt es sich, anzusetzen.

      1. Mein universitär-naturwissenschaftliches Verständnis von der Welt hat sich in den letzten ein-zwei Jahren insofern gewandelt, dass ich nicht mehr (nur) vorrangig das überzeugend finde, was nach den bekannten Standards gut begründet ist, sondern auch das, was jemand mir – von sich – mitteilt, den ich – „in meinem Körper fühlend“ – für vertrauenswürdig halte. Das macht die Welt für mich nicht einfacher, sondern eher komplexer und anspruchsvoller, aber auch interessant und bunt und aufregend.

    2. Einerseits ist der Logos mit seiner Rationalität sehr erfolgreich, er bietet unendliche Möglichkeiten (so wie man immer weiterzählen kann), andererseits ist dem Logos mit seiner Leblosigkeit eine klare Grenze gesetzt.

      Jacques Derrida spricht von einem „Imperialismus des Logos“. Nach Jean-François Lyotard wird im Logozentrismus „vom Denken verlangt, am Rationalisierungsprozeß teilzunehmen. Jede andere Denkweise wird verurteilt, isoliert und als irrational abgelehnt“; denn „der Logos ist kein Spezialfall in der Unendlichkeit von Codes: er ist der Code, der der Unendlichkeit ein Ende setzt; er ist der Diskurs der Umschließung, der dem Poetischen, dem Para- und Anagrammatischen ein Ende setzt“ (Jean Baudrillard).
      Luce Irigaray: „Diese Dominanz des philosophischen Logos verdankt sich … seinem Vermögen, alles Andere in die Ökonomie des Gleichen zurückzuführen.“ (Wikipedia, Logozentrismus)

  2. Kürzlich las ich in Königin und Samurai von Veit und Andrea Lindau, dass Jesus oft als Inbegriff des Logos gesehen würde. Das fand ich irritierend. Ne Idee warum er mit Logos in Verbindung gebracht wird? Und nach welchen Quellen? (Es war in dem Buch „gar nicht gut begründet“ ,)

  3. „Dies weiter zu diskutieren, ist hier jedoch nicht möglich.“

    D a s fände ich schade. Warum sollte es nicht möglich sein?

    Interessant, dass Du Dich nicht auf Gettier stürzt. Gettiers Idee ist, wie zB Chisholm erarbeitet hat, schon vorher (Meinong und Russell) skizzenhaft vorgetragen worden. ich nehme mal Russells Beispiel: Ein Mann guckt auf eine Uhr. Sie zeigt 15 Uhr. Es ist wirklich 15 Uhr. Daraufhin sagt der Mann „Es ist 15 Uhr!“ Das ist wahr. Der Mann hat seine Überzeugung ausgedrückt, er hatte Gründe dafür (das Schauen auf die Uhr) und sie war wahr. Wissen ist also wahre, gerechtfertigte Überzeugung. Blöd nur: Die Uhr war kaputt. Ganz zufällig blieb sie auf 15 Uhr stehen. Ist das – so Meinong, Russell und Gettier – jetzt Wissen? (Meinongs Beispiel ist die von einem Schwerhörigen mit Geräuschhalluzinationen, der zufällig eine Äolsharfe „hört“, als sie tatsächlich erklingt)

    ich persönlich würde hier ganz intuitiv eine Rick-Blaine-Lösung („er hatte eben Glück gehabt“) bevorzugen, aber das ist natürlich eine Revidierung der Intuition „Wissen = wahre und gerechtfertigte Überzeugung“.

    (Chisholm, Roderick, Erkenntnistheorie, München (dtv) 1979 (englisch zuerst 1966) p. 148ff)

    herzliche Grüße

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