Die Verantwortung der Gemeinschaft

In den letzten Monaten wurde häufig die Frage gestellt, ob eine Religionsgemeinschaft, etwa der Islam oder das Christentum, irgendwie als Ganzes verantwortlich oder gar schuldig ist für Verbrechen, die in ihrem Namen oder durch ihre Vertreter verübt worden sind. In so einer Frage verbergen sich mehrere philosophischen Fragen. Diese Fragen werden selten auch nur gestellt, und wenn, dann durch philosophische Spezialisten in akademischen Debatten. Aber es ist sicher sinnvoll, wenigstens die Fragen zu kennen, und einzusehen, dass unterschiedliche Antworten möglich sind. Vielleicht können wir dann wenigstens verstehen, warum wir in den wichtigen Diskussionen, die uns bewegen, nie an ein Ende kommen, geschweige denn, zu einer gemeinsamen Sicht.

Die folgenden Überlegungen werden die Fragen nicht beantworten. Es muss ausreichen, sie zu benennen, und verschiedenen Antwortmöglichkeiten nachzugehen.

Schuld der Organisation

Auf jeden Fall gibt es also auch im Islam Aspekte von Kirche. Aber wir wollen dem gar nicht weiter nachgehen. Wir waren hier mit einer anderen Frage gestartet, nämlich der, ob Christentum oder Islam für Verbrechen verantwortlich gemacht werden können, die in ihrem Namen oder durch ihre Vertreter verübt worden sind. Diese Frage können wir nun also in drei klarere Einzelfragen aufteilen: Erstens: gibt es Aspekte des Glaubens, die zu einem verbrecherischen Verhalten führen, vielleicht sogar führen müssen? Zweitens: gibt es religiöse Praktiken, die mehr oder weniger zwingend zu Konflikten mit anderen kulturellen Praktiken führen? Drittens: ist eine Kirche als Organisation für Konflikte oder Verbrechen verantwortlich?

Wie gesagt, Philosophie kann diese Fragen nicht beantworten, sie kann nur helfen, solche Fragen zu formulieren und herauszufinden, ob eine Frage klar genug gestellt ist, damit eine Antwort gesucht werden kann, die nicht schon in den Wünschen und Vor-Urteilen dessen, der fragt, vorherbestimmt ist. Für die dritte Frage heißt das, noch weiter zu fragen: wann können wir denn überhaupt eine Organisation für irgendeine Handlung verantwortlich machen? Ist es sinnvoll, zu sagen, dass die katholische Kirche Schuld ist an der Hexenverbrennung?

Fragen dieser Art stellen sich auch in anderem Zusammenhang, etwa bei der Frage nach der Schuld Deutschlands an der Shoah und an den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts. Die Frage ist dann immer, ob wir so etwas wie Schuld überhaupt einem organisierten Kollektiv zuordnen können, oder ob die Schuld nicht eigentlich die einzelnen Menschen trifft.

Bevor mal es sich zu einfach macht und sagt, dass natürlich immer nur einzelne Menschen schuldig sein können, weil nur sie eine Moral haben können, sollten wir noch etwas weiter fragen: wie kommt denn Schuld zustande? Sie entsteht, wenn man handelt, um den eigenen Willen durchzusetzen, und dabei für andere Menschen oder Gruppen von Menschen einen Nachteil herbeiführt. Handeln und Willen aber sehen wir sehr oft, wenigstens im alltäglichen Sprachgebrauch, bei kollektiven Organisationen, seien es Parteien, Unternehmen, Behörden, Staaten oder eben auch Kirchen. Wir sagen, dass eine Partei an die Macht will, oder ins Parlament zurückkehren, dass sie ein politisches Ziel durchsetzen will. Wir sagen, dass Unternehmen ihre Produkte verkaufen wollen, dass Staaten eine Kooperation anstreben. Ist das immer nur eine metaphorische Abkürzung in der Alltagssprache, die eigentlich nicht das meint, wie sie doch aussagt? Wenn die Alltagssprache, in der wir uns so gut gegenseitig verstehen, in einem Bereich angeblich immer wieder daneben liegt, dann müssen wir wenigstens weiterfragen.

Kollektiver Wille und Wille des Einzelnen

Natürlich gibt es Organisationsformen, bei denen in den Verlautbarungen „der Organisation“ nur der Wille eines einzelnen Menschen zum Ausdruck kommt. Diktaturen und autoritär geführte Unternehmen gehören dazu, wobei selbst in ihnen der Herrscher nicht immer einfach seinen Willen durchsetzen kann, sondern den Willen seiner Helfer und Untertanen berücksichtigen muss, sodass der Wille des Herrschers durch den der anderen in der Organisation deformiert wird. In den meisten heutigen Organisationen ist dies noch in weit größerem Umfang der Fall. Man merkt das auch daran, dass der Wille der Organisation weitgehend erkennbar bleibt, auch wenn die Personen wechseln. Oft werden auch führende Personen gewechselt, weil sie nicht mehr zu dem passen, was die Organisation will.

Der Wille der Organisation ist auch schon da, wenn der einzelne ihr beitritt. Nur dadurch kann er überhaupt herausfinden, ob der eigene Wille zur Organisation passt. Wenn jemand den Fehler macht, in eine Partei einzutreten, deren Ziele nicht zu seinem Willen passt, dann kann er noch so charismatisch und willensstark sein, er wird nicht die Partei ändern, sondern sie ihn. Oder er wird sie wieder verlassen.

Der Wille des Einzelnen wird in der Organisation verändert. Zu vielen einzelnen Fragen hat das Mitglied zunächst oft gar keine Meinung, es hat auch keinen Willen, den es durchsetzen wollte. Zur Frage des Mindestlohns etwa muss das Mitglied einer Partei selbst gar keinen Willen haben, weil es nicht selbst betroffen ist und die Wirkungen der Regelung auf die Gesellschaft, in der es lebt, gar nicht überblickt. Sein Willen zu dieser Frage bildet sich im Rahmen der Willensbildung der Partei zu dem Thema. Es kann sogar sein, dass das Mitglied am Ende immer noch keinen eigenen Willen bezüglich einer bestimmten Sache hat, aber es weiß, was der Wille der Organisation ist und warum, und es ist bereit, das nötige zu tun, damit dieser Wille durchgesetzt wird.

Die Willensbildung einer Organisation ist offenbar also etwas, was nicht auf den Willen ihrer Mitglieder reduziert werden kann. Somit kann auch das Handeln der Organisation, etwa die Erarbeitung von Stellungnahmen zu gesellschaftlichen Fragen und das Vertreten dieser Standpunkte in der öffentlichen Diskussion, nicht den einzelnen Mitgliedern zugeschrieben werden. Wenn sich eine Kirche gegen die Abtreibung ausspricht und damit verhindert, dass in einem Land Abtreibung möglich wird, dann hat diese Kirche entsprechend ihres Willens gehandelt und ihren Willen durchgesetzt. Wenn auf Grundlage dessen Menschen unglücklich werden, dann haben nicht die Mitglieder der Kirche Schuld, sondern eben die Kirche, die es ja so gewollt hat.

Kollektivschuld oder persönliche Schuld

An dieser Stelle könnte es sein, dass jemand stutzig wird. Könnte sich damit nicht jeder von persönlicher Schuld reinwaschen, weil er ja gar nicht gehandelt hat, sondern die Organisation, deren Mitglied er ja ist? Das kann nicht richtig sein, werden viele nun sagen. Auch wenn die einzelnen Schritte und die Vorraussetzungen der Argumentation richtig erscheinen, meldet sich eine innere Stimme, die sagt, dass hier irgendetwas nicht richtig sein kann. Das Ergebnis ist nicht akzeptabel.

Wir nennen diese innere Stimme das Gewissen oder die Intuition, und haben gelernt, sie mit der so genannten „zwingenden Logik“ in Schach zu halten. Wir sagen, wenn du die Vorraussetzungen und die einzelnen Argumente richtig findest, musst du auch die Konsequenzen akzeptieren, die daraus folgen. Aber das stimmt vielleicht gar nicht, denn die Entscheidung, für alle Fragen des Lebens die Schlussverfahren der kalten Logik zu akzeptieren und zu glauben, dass sie sicher zur Wahrheit führen, ist selbst nicht logisch begründbar.

Aber warum sollten wir dann philosophieren, warum die ganzen Argumentationen, wenn am Ende doch die Intuition oder das Gewissen sagen, was richtig ist? Widerspricht das nicht dem, was ich weiter vorne gesagt hatte, dass wir uns die Ergebnisse des Philosophierens nicht entsprechend unserer Vor-Urteile zusammenbauen sollten?

Vielleicht ist es so: Gewissen und Intuition sind Prüfinstanzen, die auch falsch liegen können. Wenn das Ergebnis eines Gedankengangs der Intuition oder dem Gewissen widerspricht, kann der Gedankengang fehlerhaft sein, auch wenn er nicht logisch falsch ist. Es kann aber auch sein, dass die Intuition oder das Gewissen sich selbst in Frage stellen müssen. In jedem Fall ist weiteres Nachdenken erforderlich, weitere Argumente müssen geprüft werden.

In unserem Fall könnte man etwa sagen, dass jeder Mensch, der einer Organisation beim Durchsetzen ihres Willens hilft, letztlich auch einem eigenen Willen folgt, vielleicht will er Anerkennung, Macht, Gemeinschaftsgefühl. Damit macht er sich auch mitschuldig, wenn sich die Organisation schuldig macht. Die Pflicht, die Ziele der Organisation an den eigenen Moralvorstellungen zu überprüfen, bleibt für jedes Mitglied bestehen – auch wenn das im Einzelfall nicht so einfach ist.

Um sich dieses Problem noch ein bisschen klarer zu machen, ist es sinnvoll, sich diesen Prozess der Willensbildung in Organisationen noch einmal genauer anzusehen. Wir können da einerseits unterscheiden nach dem Grad der Formalisierung: hat die Organisation strenge Regeln, wie eine Entscheidung zustande kommt, und muss ich diese Regeln akzeptieren, um mich beteiligen zu können? Selbst wenn es solche Regeln gibt, werden sie bekanntlich nicht immer strikt eingehalten. Wie groß die Schuld des einzelnen Mitglieds an den Konsequenzen des Handelns der Organisation in unseren Augen ist, kann dann davon abhängen, wie viel Handlungsspielraum es gab und ob das Mitglied alle Möglichkeiten, vielleicht auch unter Missachtung von Regeln, genutzt hat, um seinem eigenen Gewissen zu folgen.

Außerdem können wir fragen, ob die Regeln der Organisation so definiert sind, dass sie einen Konsens, einen Kompromiss, oder einfach nur eine Entscheidung herbeiführen sollen. Auf dieser Basis können wir das Handeln des Einzelnen im Rahmen der Organisation beurteilen: ein Konsens führt im besten Falle ja dazu, dass der Wille der Mitglieder am Ende gleich ist, und dem Willen der Organisation entspricht. So ist dann auch jeder gleichermaßen Schuld an den Konsequenzen. Kompromisse können immer faul sein, und Entscheidungen muss man akzeptieren. In jedem Falle gibt es Gründe, über die Schuld des Einzelnen nachzudenken.

Philosophieren ist eine endlose Kette von Argumenten, die abgewogen, geprüft, in Frage gestellt und Umgestoßen werden müssen. Zwischendurch gewinnt man immer mal wieder ein bisschen mehr Klarheit, bevor sich neue Fragen auftun. Dieses philosophierende Denken reißt nie ab. Wir brechen es an dieser Stelle trotzdem relativ willkürlich ab. Das Ziel war, Fragen zu finden. Manches mag wie eine Antwort geklungen haben, aber es ist hoffentlich klar geworden, dass alle diese Antworten fragwürdig und nur vorläufig sind. Trotzdem helfen sie ein bisschen beim Zurechtkommen in der Welt.