Der Wille schwimmt im Datenmeer

Das Anhäufen von Unmengen unserer persönlichen Daten über unser Tun und Lassen irgendwo auf Servern von Behörden und Unternehmen macht uns Sorgen. Wir haben Angst, durchschaubar, klassifizierbar und manipulierbar zu werden. Manipulierbarkeit heißt, dass wir irgendwann nicht mehr nach unserem eigenen Willen handeln. Statt dessen Folgen wir vielleicht schon bald nur noch willenlos dem Willen fremder Mächte. Zudem könnte es sein, dass diese Mächte, gestützt auf jene ungeheuren Datenmengen, die Deutungshoheit über unseren Willen erlangen. Dann wären wir selbst nicht mehr diejenigen, die wüssten, was wir wollen. Die Datensammler und -analysierer könnten mit Sicherheit sagen, was unser Wille ist, sei es, um ihm zu gehorchen, sei es, um zu verhindern, dass wir unsrem, vielleicht bösen Willen folgen können.

Die Frage, ob wir im digitalen Zeitalter einen Willen überhaupt noch brauchen ist vielfältig, facettenreich und schillernd.  Wird der Wille durch die Algorithmen ausgeschaltet? Wir er unnötig oder wir er bezwungen? Werden wir die Willensentscheidung nicht ohnehin bald durch das Befolgen von Ratschlägen von Entscheidungs-Apps ersetzen können? Ich will mich der Antwort in drei Schritten nähern. Zuerst gilt es, herauszufinden, was mit wir mit diesem Begriff „Willen“ sinnvollerweise überhaupt meinen können. Sodann werde ich darüber sprechen, wie Daten- und Algorithmen-gestützte Technologien auf diesen Willen einwirken, wie sie ihn beeinträchtigen und verändern. Schließlich möchte ich erörtern, welche Konsequenzen zu erwarten sind, wenn wir den freien Willen stärken, wenn wir ihn zum Herrscher und Bezwinger des Datenmeers machen könnten.

 Was ist der freie Wille?

Der Wille, zumal der „Freie Wille“ ist in die Defensive geraten. Die Neurobiologie meint, nachweisen zu können, dass das Gehirn schon eine Entscheidung über die Auswahl einer von zwei Optionen getroffen hat, bevor das Ich selbst etwas davon weiß. Aber schon früher haftete dem Willen der Ruf an, etwas unnötiges oder sogar unerwünschtes zu sein. Schon in meinen Kindertagen würde ich darauf hingewiesen, dass das Wollen etwas Unerhörtes ist. „Ich will ein Eis!“ das auszusprechen war ungehörig, „ich möchte gern“ oder „ich möchte bitte“ das hatte ein wohl erzogenes Kind zu sagen. Nietzsches „Wille zur Macht“ geistert als Phrase durch die politischen Kommentare der Gegenwart, machtwillige Politiker sind uns suspekt, auch wenn wir sie heimlich bewundern.  

Andererseits nötigt uns der Wille Respekt ab. Wenn Menschen einen Ironman-Triatlon absolvieren oder einen Ozean durchschwimmen, dann sagen wir, dass nur ein „eiserner Wille“ das möglich gemacht hat. Dem Willen werden heilende Kräfte zugeschrieben, etwa, wenn wir sagen, dass jemand eine schwere Krankheit aufgrund seines starken Willens überstanden habe. 

Wir haben also offenbar ein ambivalentes Verhältnis zum Willen. Offensichtlich ist jedenfalls, dass er aber im Alltag nichts zu suchen hat. Dort haben wir den Willen dem Funktionieren, der Ratio, oder der Taktik unterzuordnen. Und das gilt nicht nur für den alltäglichen Umgang mit Freunden, Kollegen, Verwandten. Führungskräfte und Politiker, die wir beobachten und deren Verhalten wir diskutieren, werden für ihren starken Willen, der sie durchsetzungsfähig und mächtig macht, zwar bewundert, aber er macht sie nicht sympathisch. 

In der Dichtung vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte begegnet uns der Wille als etwas Großes, als eine bewundernswerte Eigenschaft. Hölderlins Gedicht „Lebenslauf“ wird vom Willen quasi eingerahmt, er taucht in der ersten und in der letzten Zeile auf.

 

Größers wolltest auch du, aber die Liebe zwingt

all uns nieder,

heißt es am Anfang, und die letzte Strophe schließ mit der Aufforderung, der Mensch

verstehe die Freiheit,

aufzubrechen, wohin er will.

 

Der Wille erscheint als etwas, das dem Handeln große Ziele setzt, aber auch als etwas, das an den Widerständen der Welt und des Lebens scheitern kann. Der Wille ist eine Sache der Freiheit und des Aufbruchs. Der Wille ist nicht in dem Sinne frei wie wir das Wort heute oft gebrauchen, nämlich so, dass wir sozusagen frei festsetzen könnten, was unser Wille in einem bestimmten Moment oder hinsichtlich einer bestimmten Konstellation von Weltereignissen ist. Vielmehr ist der Mensch frei zum Aufbruch hin zu dem, was ihm sein Wille als Ziel setzt. Es ist ganz offensichtlich, dass die Experimente der Neurowissenschaftler mit dem Willen gar nichts zu tun haben. Trotzdem sollte uns die Diskussion um den freien Willen, den die Forscher ausgelöst haben, zu denken geben. Denn was sag es über unsere Zeit und unsere Kultur, dass wir überhaupt bereit waren, die Ergebnisse der Neuro-Experimente als Gefahr für den Willen anzusehen? Welche Degeneration des Begriffs vom Willen muss dem Voraus gegangen sein? Dem können wir an dieser Stelle leider nicht weiter nachgehen.

Das Wort Wille sollten wir ganz und gar für das Streben nach Zielen reservieren, die nur durch eigenes Handeln und auch dann oft nur durch aktives Überwinden von Widerständen erreicht werden können, wobei regelmäßig eine gewisse Ausdauer und Beharrlichkeit von Nöten ist. Meinen kindlichen Wunsch nach Eis als Willen zum Eisgenuss zu betrachten, wurde von meiner Mutter in den meisten Fällen wohl zu Recht zurückgewiesen, es sei denn, ich hätte mit dem Satz „Ich will ein Eis“ zum Ausdruck gebracht, dass ich dafür manches zu tun bereit wäre, etwa den Abwasch zu erledigen oder Einkäufe für die ganze Familie zu tätigen, womit dann auch das Ziel des Eiskaufes erreichbar wäre.

Der Wille ist nicht das, was uns hilft, vorher bekannte und gerechtfertigte Ziele auch zu erreichen, sondern der Wille setzt selbst diese Ziele. Trotzdem bleibt natürlich offen, ob sich der Wille rechtfertigen muss und wo er herkommt, ob ein Wille gebildet wird und ob jeder Wille akzeptabel ist. Wir können das hier nicht umfassend diskutieren, es sei aber darauf verwiesen, dass die Akzeptanz des Willens in der sozialen Gemeinschaft ausgehandelt wird. Das wird für uns im Weiteren noch wichtig sein. Zunächst einmal ist klar, dass in einer liberal und demokratisch verfassten Gesellschaft der Wille eines jeden seine Schranken beim Willen der anderen findet. Das setzt allerdings voraus, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft willensfähig und willensbereit sind. Deshalb geht die soziale Beschränkung des Willens noch weiter, er wird nicht nur durch den konkreten Willen anderer konkreter Willenssubjekte beschränkt, sondern auch durch abstrakte Erwägungen hinsichtlich angenommener Willenssubjekte, nach dem Prinzip, was wäre der Wille des Subjekts, wenn es denn einen Willen hätte? Genauer: was müsste sein Wille sein, wenn es einen Willen hätte. Das ist eigentlich eine noch beantwortbare Frage, wenn wir zugestehen, dass der Wille eine freie und nicht begründbare Setzung des Subjekts ist. Wir können und müsse das für unseren Zweck hier nicht weiter ausbuchstabieren, aber wir stellen fest, dass und die Anerkenntnis eines Willens, der in dem Sinne frei ist, dass er sich nicht rechtfertigen und nicht begründen lassen muss, laufend in Probleme bringt.

Können Algorithmen wissen, was ich will?

Nicht nur den mächtigen Unternehmen und Behörden, auch uns selbst werden bald nicht nur nahezu unbegrenzte Speicherkapazitäten zur Verfügung stehen, sondern  auch Softwarelösungen auf Supercomputern, die in der Lage sind, die angehäuften Datenmengen rasend schnell zu analysieren, zu kategorisieren, und Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Sie können und werden uns unterstützen, Urteile zu treffen, Entscheidungen für Handlungen herbeizuführen, die wir bisher unserer menschlichen Kreativität und Intuition anvertraut haben.

Machen wir uns einmal bewusst, welchen Anteil dessen, was wir tun, wir tatsächlich per Smartphone den großen Datensammlern mitteilen. Oft wird behauptet, wir übermitteln fast alles von uns an irgendwelche Big-Data-Algorithmen. Es mag auch Leute geben, die mit Körperfunktionsmessern ausgestattet joggen, dabei ihre Laufstrecke aufzeichnen, Mails lesen und im Internet Einkäufe erledigen. Aber selbst die schaffen nicht mehr als einen Bruchteil dessen, was wichtig ist, in die Cloud zu übermitteln. All das, was sie im Vorbeilaufen sehen, der Freund, dem sie zuwinken, die Frau, der sie nachschauen. Und vor allem, das alles, was ihnen während des Laufens durch den Kopf geht, bleibt den Algorithmen verborgen. Dass sie den Sonnenaufgang bewundern oder dass sie eine Blume am Wegesrand gar nicht wahrnehmen, dass sie sich täglich über den Duft aus einem Café freuen, an dem sie vorbeikommen.

Mark Twain sagte, jeder Mensch sei wie ein Mond, der den Anderen nur immer eine Seite zuwendet und die andere vor ihnen verbirgt. So verbergen wir auch ganz selbstverständlich ganz wesentliches von uns vor den Algorithmen. Wollen sie vom sichtbaren auf das unsichtbare schließen, haben sie das gleiche Problem wie der gute Bekannte: sie müssen raten, und sie wissen nie, wie weit sie daneben liegen.

Hier taucht das Wörtchen „soll“ auf, es hat sich klammheimlich eingeschlichen, und dem möchte ich ein wenig nachgehen. Kann die Cloud, auf Basis des in ihr gespeicherten universalen Wissens, auf Basis ihrer unermesslichen Fähigkeit zum logischen Schließen und durch ihre Möglichkeit, alle denkbaren Konsequenzen und Bedingungen zu berücksichtigen, mir sagen, was ich tun soll?

Denn, so werden wir sagen, es ist doch längst bewiesen, dass der Computer, versorgt mit dem Wissen des Internets, der menschlichen Intuition weit überlegen ist. Wer also wird es sich noch leisten können oder wollen, sich auf seine Intuition, auf seinen gesunden Menschenverstand zu verlassen, wenn ihm die Cloud mit ihren Algorithmen und Datenmengen von mir und der Welt als Ratgeber zur Verfügung stehen?

Der Ausweg: Vertrauen und Erfahrung

Ich möchte nun Ihr Augenmerk auf die Verfahren richten, die wir sonst benutzen, wenn wir Entscheidungen zum Handeln treffen und wenn wir keine gesicherte Faktenbasis und keine mathematisch-logischen Schlussverfahren haben. Wir haben dafür von Alters her zwei Prinzipien, die bekanntlich zusammenhängen: Erfahrung und Vertrauen. Beide Prinzipien sind der Cloud und den Maschinen, die darin stehen, grundsätzlich fremd. Kein Computernetzwerk ist je selbst auf einen Berg gestiegen, und kein Großrechner hat je selbst einen Abgeordneten oder einen Präsidenten gewählt und ist von ihm enttäuscht worden. Erfahrung ist nicht die Summe des Wissens über das, was geschehen ist, Erfahrung ist ein ganz individuelles Sediment aus Erfolgen und Niederlagen, aus Bestätigungen und Enttäuschungen, das nur wir Menschen ausbilden können und das jedem nur selbst gehört.

Diese Tendenz wird nun durch die Cloud noch verstärkt, denn zur normativen Kraft des Schwarms tritt die ohnehin lang schon etablierte normative Kraft des logischen Kalküls einschließlich umfassender Fakten-Recherche der vernetzten Supercomputer.

Wir werden Services bekommen, die zu jedem Thema Fakten recherchieren, strukturieren, analysieren, Szenarien ermitteln, zwingende Konsequenzen mit messerscharfer Logik ableiten. Niemand wird noch genau wissen, wie diese Algorithmen funktionieren, auf welchen Annahmen sie beruhen, was sie vernachlässigen, welche Theorien ihnen zugrunde liegen. Aber das Social Web wird ihre Ergebnisse als zwingende Argumente verbreiten und wer sich nicht nach ihnen richtet, wer ihnen nicht gehorcht, wird – im besten Fall – als Narr verlacht werden.

Vertrauen aber können wir immer nur Menschen, niemals der Technik. Auch wenn wir der Genauigkeit einer Uhr vertrauen, vertrauen wir eigentlich den Ingenieuren, die das Uhrwerk entwickelt haben und den Arbeitern, die die Uhr montiert haben. Sonst würde es gar keinen Sinn haben, bestimmten Marken nicht zu vertrauen oder Autos aus Stuttgart oder München für besonders sicher zu halten und auf Produkten den Schriftzug „Made in Germany“ zu applizieren – dabei geht es immer um unser Vertrauen zu den Menschen, die die Hersteller dieser Produkte sind.

Nun nützt es uns vielleicht wenig wenn wir uns selbst über die Grenzen des Wissens der Algorithmen völlig im Klaren sind, gleichzeitig aber andere ihre Entscheidungen, die uns selbst betreffen, auf den Analysen und Ergebnissen der Big-Data Verfahren aufbauen. Was hilft es, wenn Big Data uns in Wahrheit nicht kennt, aber die Behörden uns nach der Analyse der abgeschöpften Daten als Terroristen klassifiziert?

Es steht völlig außer Frage, dass diese Gefahr ein guter Grund ist, den Datensammlern jeder Couleur kritisch gegenüber zu stehen und ein Klima zu erzeugen, dass den Algorithmen prinzipiell misstraut. Voraussetzung für das Funktionieren dieser Mechanismen ist ja, dass ihre Nutzer tatsächlich glauben, dass ihre Algorithmen im Wesentlichen richtig liegen. Wiederum ist also notwendig, dass das Ergebnis der Berechnungen der Großcomputer nicht nur als richtig, sondern als Wahrheit genommen wird, dass also in der Gesellschaft insgesamt ein Konsens darüber besteht, dass man durch Datensammlung und algorithmische Analyse nicht nur etwas zutreffendes, sondern auch etwas Wahres über einen Menschen herausfinden könnte. Wenn wir alle dem rational-logischen Kalkül Misstrauen würden, dann würden auch Politiker und Geheimdienstchefs diesem Kalkül misstrauen, denn sie sind wie wir Bewohner einer gemeinsamen Kultur, sie teilen unsere Grundüberzeugungen.

Wir greifen also viel zu kurz, wenn wir uns nur damit beschäftigen, wem unsere Daten gehören und was er damit machen darf. Wenn wir bei dieser Frage stehen bleiben, dann haben wir schon zugestanden, dass mit diesem Wissen irgendetwas Wesentliches über uns in Erfahrung zu bringen wäre. Es kommt darauf an, diesen Konsens fragwürdig zu machen, zu erkennen, dass der Wille des Menschen nicht algorithmisch verstehbar und vorhersehbar ist.