Das Technische

Schon im alltäglichen Sprechen machen wir die Erfahrung, die sich in der philosophischen Diskussion der letzten zweieinhalb Jahrtausende bestätigt: Technik ist ein zweideutiger Begriff. Er wird einerseits als Sammelbegriff für Gegenstände verwendet: die Technik, das sind Dinge, die wir benutzen können, um Ziele zu erreichen, die wir ohne technische Hilfe nicht oder nur mit großem Aufwand erreichen würden. Solche Technik macht das Leben leichter. Andererseits sagen wir auch Technik, wenn wir von einem bestimmten Handeln reden, wir sagen etwa, dass ein Fußballer oder ein Musiker eine gute Technik hat – damit meinen wir dann nicht den Ball, die Schuhe oder das Musikinstrument, sondern die Fähigkeiten des Menschen, die er eingeübt hat, um ein gewünschtes Ergebnis zu erreichen. Technik ist also zum einen eine Bezeichnung für Gegenstände, die wir benutzen, zum anderen für ein menschliches Tun. Müller (2014, 21) schreibt dazu: „Die Schwierigkeiten des Technikbegriffs liegen darin, dass er sowohl konkrete Maschinen und Technologien umfasst als auch eine bestimmte Kompetenz, eine Verfahrensrationalität“. Eine Seite später führt er Beispiele auf, die das ganze Spektrum verdeutlichen: „Hochtechnologie oder Bürokratie, aber auch Selbst- und künstlerische Techniken, wie etwa die Meditation und das Geigenspiel“ (22).

Man könnte vermuten, dass es sich hierbei um eine bloße Äquivokation handelt, dass ein Wort eben für ganz verschiedene Erscheinungen, wenigstens einerseits Gegenstände und andererseits Handlungen von Menschen verwendet wird. Eine Analyse des Technischen wird aufzuweisen haben, ob dem so ist, ob es eine gewisse Beziehung zwischen Handlungen als Technik und Gegenständen als Technik gibt, oder ob der Verwendung des Wortes Technik sowohl für gewisse Gegenstände als auch für gewisse Handlungen eine Gemeinsamkeit, eben das Technische, zu Grunde liegt.

In Anlehnung an das Spektrum zum Beschreiben des Wissenschaftlichen, das wir im ersten Kapitel aufgezogen haben, könnten wir auch bei der Betrachtung philosophischer Ansätze, das Technische, das Wesen der Technik zu beschreiben, ein Spektrum zwischen den Versuchen, das Wesen der technischen Objekte zu bestimmen, und den Ansätzen, technisches Handeln zu beschreiben, konstruieren. Die Analogie, die sich hier fast aufzudrängen scheint, führt jedoch in die Irre. Das zeigt sich schon, wenn wir die Analogie zum Spektrum des Wissenschaftlichen, wie ich sie zu Beginn des vorangegangenen Kapitels skizziert habe, ernst nehmen: Wissenschaftliches Handeln hat wissenschaftliche Ergebnisse, Dokumentationen von wissenschaftlichem Wissen, und diese, so hatten wir im vorangegangenen Kapitel zunächst gesagt, ist ein bestimmter Typ von Satzsystemen, die wissenschaftlichen Theorien. Bei der Analyse des Wissenschaftlichen hatten wir sodann auf der einen Seite des Spektrums genau diese Satzsysteme, ihre besondere Struktur, aber auch ihre Aufeinanderfolge und Dynamik, lokalisiert. Auf der anderen Seite des Spektrums fanden wir philosophische Ansätze zum Verstehen des wissenschaftlichen Handelns, das zu Theorien (allgemeiner: Satzsystemen zur Dokumentation wissenschaftlichen Wissens) führt.

Übertragen auf das Technische wäre ein Spektrum technikphilosophischer Ansätze zu konzipieren, an dessen einem Endpunkt die technischen Objekte als Ergebnis technischen Handelns (Konstruierens und Herstellens) steht, auf der anderen Seite die Analyse eben dieses Handelns selbst, welches als Ergebnis technische Objekte, also „die Technik“ hat.

Wo aber bleibt in diesem Spektrum das oben genannte Handeln, welches wir selbst als Technik bezeichnen? Dieses Handeln steht, so wird sich im Laufe der nächsten Abschnitte dieser Arbeit zeigen, ganz auf der Seite der technischen Objekte. Jedes Ding, das wir als Technik bezeichnen, egal, ob Bohrmaschine, Fahrzeug oder Computer, wird erst wirklich zur Technik durch seinen gelungenen Einsatz durch denjenigen, der das Verfahren zu diesem Einsatz beherrscht. Das ist allerdings eine These, die selbst noch zu rechtfertigen oder zu konkretisieren ist in einer Zeit, da Befürchtungen laut werden, dass Technik sich verselbständigen könnte. Darauf werden wir zurückkommen. Zunächst einmal und vorläufig wollen wir jedoch so ansetzen, dass wir Technik als ein Bündel aus bestimmten Handlungsweisen (die Technik des Musikers, Fußballers, Handwerkers) und den bei diesen Handlungsweisen vorgesehenen Gegenständen (Instrumente, Werkzeuge) ansehen.

Das Spektrum, welches wir dann aufziehen können, hat als einen Endpunkt eben die so verstandene Technik, als anderen Endpunkt die Handlungen, welche diese Technik hervorbringen. Es ist nicht überraschend, dass diese Handlungen selbst Techniken verwenden, so wie auch die Handlungen, die wissenschaftliches Wissen hervorbringen, selbst solches Wissen verwenden. Dies weist schon auf eine Verschränkung zwischen Wissenschaftlichem und Technischem voraus, der wir uns am Ende dieses Kapitels widmen werden. Wir wollen beide aus methodischen Gründen allerding zunächst noch klar auseinanderhalten. Dann zeigt sich ein Unterschied zwischen Wissenschaftlichem und Technischem, den ich zur Vorbereitung der Analyse bisheriger technikphilosophischer Ansätze benennen muss, damit diese Ansätze in ihrem Erkenntnisziel verständlich werden.

Dass das Hervorbringen von Technik selbst technisches Handeln, also Technik ist, begründet sich darin, dass Technik eben immer zweckgerichtet eingesetzt wird, auch wenn, wie wir sehen werden, nicht jedes zweckgerichtete Handeln technisches Handeln sein muss. Technik hat immer einen Zweck außerhalb seiner selbst, jenseits des Technischen. Wissenschaft lässt sich auch ohne einen Zweck außerhalb des Wissenschaftlichen verständlich machen, wir haben einen solchen Zweck jedenfalls in unserer Analyse des Wissenschaftlichen im vorangegangenen Kapitel weder gefunden, noch benötigt. Technik hingegen lässt sich ohne das Ziel ihres Einsatzes gar nicht verstehen, und auch die Herstellung von Technik lässt sich nicht verstehen, wenn nicht ein Zweck außerhalb der Technik angenommen wird.

Wenn wir in den folgenden Abschnitten die philosophischen Ansätze zum Verstehen von Technik in den Blick nehmen wollen, werden wir also immer die Frage nach dem Zweck der Herstellung oder der Verwendung von Technik immer mit bedenken müssen. Das Herstellen von Technik lässt sich ohne den Zweck, der dieses Herstellen fordert, nicht analysieren.

Wie für alle abendländische Philosophie liegen auch die Wurzeln des philosophischen Verständnisses des Technischen bei Platon und Aristoteles. Allerdings war das Technische über Jahrhunderte nicht im gleichen Maße im Fokus philosophischer Analysen wie andere philosophische Fragen (vgl. Hubig 2000, 26f). Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert erlebte allerdings, selbstverständlich durch den umfassenden industriellen Einsatz von Technik, der das Leben in Europa und Nordamerika zu bestimmen begann, die Technikphilosophie einen rasanten Aufstieg, sowohl hinsichtlich der Frage nach dem Wesen technischer Objekte und ihrer Dynamik, als auch hinsichtlich der Frage, warum und wie solche technischen Objekte hergestellt werden. In der Übersichtsstudie Nachdenken über Technik verzeichnen die Herausgeber Hubig, Huning und Ropohl (2000) für den Zeitraum von Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1990 fast 100 „Klassiker der Technikphilosophie“, die allein im 20. Jahrhundert wirkten. In den nächsten Abschnitten werden wir uns exemplarisch denjenigen unter diesen Klassikern widmen, die im technikphilosophischen Diskurs des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts eine zentrale Rolle als Bezugspunkte gespielt haben und auch in Übersichtsdarstellungen (etwa Kornwachs 2013 und Bolz 2012) immer wieder genannt und diskutiert werden. Diese Auswahl bleibt allerdings bis zu einem bestimmen Grad willkürlich. Sie ist dadurch gerechtfertigt, dass ich hier keinen vollständigen oder erschöpfenden Überblick über die Technikphilosophie zu geben beabsichtige, sondern die Arbeiten der im Folgenden vorzustellenden Autoren quasi als Fundament für die Bildung eines Begriffs des Technischen selbst nutzen werde, der dem gesamten Diskurs zugrunde liegt, und der sich in den Arbeiten all der exemplarisch gewählten Autoren zeigt.

Die Logik der Technik

Es ist vermutlich kein Zufall, dass die Werke, die im Zentrum der Analysen in diesem Kapitel stehen, alle in den 1950er Jahren erschienen sind, auch wenn ihre Auswahl nicht bewusst nach dem Erscheinungsjahr vorgenommen wurde. Müller (2014, 20) schreibt, es „könnten eben die 1950er Jahre sein, die man als einen Denkraum im Hinblick auf die Selbstverortung des Menschen in der technischen Welt fruchtbar machen kann.“

Das technische Objekt

Die französische Originalausgabe der Studie Die Existenzweise technischer Objekte von Gilbert Simondon (2012) erschien 1958 und „gilt in der frankophonen Welt längst als Klassiker der Technikphilosophie“ (Schmidgen, 2012) auch wenn der Autor über Jahrzehnte in der übrigen technikphilosophischen Debatte weitgehend unbemerkt blieb. Das änderte sich allerdings in den letzten Jahren, nachdem zunächst 1980 eine englische Ausgabe erschien, die vor allem in technikphilosophischen Arbeiten zum Verständnis von Kommunikationstechnologien zitiert wurde, liegt seit 2012 auch eine deutsche Übersetzung vor. Es spricht für die Weitsichtigkeit des Autors, dass sein Werk, welches die technischen Entwicklungen der Nachkriegszeit reflektiert, zu einer Zeit verstärkte Beachtung findet, in der Technologien unser Leben zu dominieren beginnen, deren Entwicklung in den 1950er Jahren in den allerersten Anfängen steckten.

Simondons Ziel ist es die Entwicklungsmechanismen, die Genese technischer Objekte zu beschreiben, und damit das technische Objekt zu definieren. Seine Studie ist „der Versuch, das technische Objekt an sich zu definieren, und zwar durch den Prozess der Konkretisation und der funktionellen Überdeterminiertheit, der ihm am Ende einer Evolution seine Konsistenz verleiht, und so zu beweisen, dass es nicht als bloßes Utensil oder Zeug betrachtet werden kann.“ (2012, 14).

Wir können somit Simondons Projekt als Parallele zu Karl Poppers Logik der Forschung ansehen, was Popper für das philosophische Verständnis des Wissenschaftlichen erarbeitet hat, versucht Simondon für das Technische. Während Popper eine Logik der wissenschaftlichen Forschung entworfen hat, die die Entwicklungsprinzipen wissenschaftlicher Theorien unabhängig von den Zielen und Wünschen der beteiligten Wissenschaftler oder anderer involvierter Personen aufzeigen sollte, hat Simondon eine Logik der technischen Entwicklungen beschrieben, die unabhängig von den Zielen der Techniker, und darüber hinaus unabhängig von den Zwecken der Technik selbst ist.

Die Arbeit Simondons können wir somit plausibel im Spektrum des Technischen an der gleichen Position einordnen wie die Arbeit Poppers im Spektrum des Wissenschaftlichen, wenn wir das technische Objekt als Ergebnis der Arbeit der Techniker auffassen, so wie das Ergebnis der Arbeit der Wissenschaftler die wissenschaftliche Theorie ist. Inwiefern diese Parallelität gerechtfertigt ist, werden die folgenden Überlegungen zeigen.

Simondon schließt mit seinem Begriff des technischen Objekts an einer Redeweise an, die nicht den einzelnen Gegenstand im Fokus hat, also beim Sprechen vom Benzinmotor also nicht etwa jenes einzelne reale Aggregat, das sich innerhalb eines anderen realen, schwarz lackierten und mit einem einzigartigen Nummernschild versehenen Gegenstands in meiner Garage befindet. Wenn Simondon von dem technischen Objekt Benzinmotor spricht, dann hat er etwas im Sinn, was vor mehr als 100 Jahren zum ersten Mal realisiert wurde und seit dem ständig verändert und weiterentwickelt wurde. „Der Benzinmotor ist nicht dieser oder jener in Zeit und Raum gegebene Motor, sondern die Tatsache, dass es eine Abfolge, eine Kontinuität gibt, die von den ersten Motoren bis hin zu jenen reicht, die wir kennen“ (20). Die Prinzipien dieser Abfolge will Simondon beschreiben, um das Wesen des technischen Objekts zu bestimmen. Dabei lehnt er die intuitiv vielleicht nahe liegende Idee ab, diesen Prozess als einen der stetigen Verbesserung oder Perfektionierung zu beschreiben. Damit vermeidet er die verbreitete Tendenz, technische Objekte von Vornherein als Mittel zu Zwecken („als bloßes Utensil oder Zeug“), mithin den Prozess ihrer Entwicklung als Verbesserung einer Zweckdienlichkeit aufzufassen: „Tatsächlich gibt es den einen oder anderen Gebrauch, für den ein Motor von 1910 einem Motor von 1956 überlegen bleibt“ ebd.)

Den Evolutionsprozess eines technischen Objekts beschreibt Simondon als eine Konvergenz einer Serie (22) in der das technische Objekt von einer abstrakten zu einer konkreten Existenzweise gelangt. Was damit gemeint ist, erläutert er am Beispiel des Motors. Die Kühlrippen haben dort zunächst die Funktion, den Zylinderkopf zu kühlen, sie werden, oder erscheinen zumindest, dem Zylinderkopf aufgesetzt. Allerdings ist der Zylinderkopf auch einer besonderen mechanischen Belastung ausgesetzt. Es zeigt sich, dass die Kühlrippen, wenn sie in den Zylinderkopf integriert und auf die richtige Weise geformt werden, sowohl die thermische als auch die mechanische Funktion erfüllen können. So besteht das technische Objekt im Laufe des Entwicklungsprozesses nicht mehr aus Einzelteilen, die zusammengefügt werden, um insgesamt zu funktionieren, es entstehen vielmehr neue, integrierte Objekte, die stabil, sozusagen selbstgenügsam sind. Dieser Konkretisierungsprozess ist für Simondon der eigentliche technische Fortschritt. Der Bau immer neuer technischer Ensembles, wie es die modernen Motoren sind, die mit Lagern und elektrischen Anlassern versehen sind, stellt für Simondon nicht eigentlich einen technischen Fortschritt dar. Der Motor von 1910 konnte aus einem Auto ausgebaut und auf einem Fischerboot noch lange weiterverwendet werden, das ist mit einem sensiblen, von allen Rahmenbedingungen abhängigen modernen Motor nicht denkbar. Am Beispiel des modernen Autos, welches allen Ansprüchen des Fahrers genügen soll, spricht Simondon von einer „äußeren Knechtschaft“ die das technische Objekt belastet (24). „Die Eigenschaft, ein Objekt nach Maß zu sein, läuft der Essenz des technischen Wesens zuwider“ (ebd).

Diese Essenz sieht Simondon genau in dem, was im Konkretisierungsprozess besteht. Das zuerst gebaute so genannte abstrakte technische Objekt ist analytisch. In ihm sind einzelne Elemente entsprechend ihrer einzelnen, vorab erklär- und beschreibbaren kausalen Prinzipien (etwa die Wärmeableitung durch die große Oberfläche der Kühlrippen) zusammengefügt. Im Laufe der technischen Evolution wird das Erfordernis jedoch mehr und mehr durch „einen Effekt verwirklicht, der mit der Funktionsweise des Ensembles solidarisch ist“ (ebd). „Das konkrete technische Objekt ist dasjenige, das nicht mehr mit sich selbst kämpft“ (32).

Warum schreibt Simondon diesen konkreten technischen Objekten eine so wesentliche Bedeutung zu, während er die Veränderungen, die Bequemlichkeit und mithin größeren Nutzen für den Menschen versprechen, als „Tendenzen zur Verkomplizierung“  ansieht, die „dort zutage treten, wo das technische Objekt nur durch soziale Mythen oder Meinungsbewegungen bekannt ist und nicht an sich geschätzt wird“ (25). Der Grund liegt darin, dass ein Objekt mit einer solchen Kohärenz „die Macht erlangt, eine Zivilisation zu modellieren“ (23). „Die Ausbildung der Bedürfnisse richtet sich nach dem technischen Objekt. Es ist die Benutzung, die zu einem Ensemble wird, das nach den Maßen des technischen Objekts geschneidert wird“ (ebd). Die Voraussetzung dafür, dass durch Verkomplizierung Objekte geschaffen werden, die Bequemlichkeit bringen, ist, dass in ihrem Kern ein konkretes technisches Objekt existiert, das den notwendigen Grad von Kohärenz aufweist. Die Kraft dieses Objekts ist so stark, dass es überhaupt die wesentlichen Möglichkeiten der Zivilisation bestimmt. Das, was Müller über die Technik allgemein sagt, schränkt Simondon auf die konkreten technischen Objekte ein: „Allein ihre Existenz gibt den Plänen eine bestimmte Richtung. … Die Technik konstituiert unseren Entscheidungsraum“ (Müller 2014, 15). Technische Entwicklung besteht nicht darin, immer kompliziertere Apparaturen zu bauen und in Betrieb nehmen zu können, sondern immer neue konkrete technische Objekte schaffen zu können, die aufgrund ihrer Kohärenz, man könnte sagen, ihrer Selbstgenügsamkeit, dazu in der Lage sind, unsere Bedürfnisse nach seinen Möglichkeiten auszurichten. Wir tun nicht, was wir tun möchten, und schaffen uns die dazu notwendigen technischen Werkzeuge, sondern wir tun das, was uns die konkreten technischen Objekte als Optionen ermöglichen.

Eine solche Beschreibung von technischem Fortschritt scheint zunächst ungewöhnlich. Wir würden das moderne Auto, das aus einer Unzahl von Komponenten aufgebaut ist, die fein aufeinander abgestimmt sind, auf jeden Fall als großen Fortschritt gegenüber dem Auto von 1910 betrachten wollen, auch wenn wir unserem Auto die Straße von 1910 nicht zumuten wollen würden. Richtig ist, dass das Funktionieren des Autos von heute von vielen feinen Voraussetzungen abhängt, den glatten Straßen, den regelmäßigen Kontrollen durch Experten, der richtig gewählten Treibstoffsorte usw. Viele Einzelkomponenten müssen zudem zuverlässig ihren Dienst tun, versagt nur eine, fährt das ganze Auto nicht mehr.

Aber, so könnten wir Simondon erwidern, diese Bedingungen des Zusammenspiels werden ja in der heutigen technischen Welt erfüllt, und gerade darin besteht auch ein Teil des Fortschritts, es gibt ein umfangreiches Tankstellen- und Werkstattnetz, es gibt das Netz glatter Straßen, die von den Winterdiensten schneefrei gehalten werden und vom Staat in ausreichend gutem Zustand gehalten werden.

Technisches Objekt und assoziiertes Milieu

Dem würde Simondon auch nicht widersprechen, und um diese Sachverhalte zu beschreiben hat er den Begriff des Milieus eingeführt. Ein Milieu wird dadurch nötig, dass das technische Objekt in seiner Entwicklung eine Tendenz zur Hypertelie, zu einer Überspezialisierung aufweist (47). Es entwickelt sozusagen besondere Ausprägungen, die es für bestimmte Bedingungen besonders geeignet machen, für andere allerdings damit gleichzeitig untauglicher.

Die Spezialisierung des technischen Objekts kann auf zwei verschiedene Aspekte bezogen sein. Zum einen optimiert es sich hinsichtlich des Einsatzortes, diesen bezeichnet Simondon als das geografische Milieu. Autoreifen etwa können für den Einsatz bei niedrigen Temperaturen besonders gut geeignet sein, damit aber ihre Eignung bei hohen Temperaturen verlieren. Zum anderen passt sich das Objekt an den Anwendungsfall an, das ist das technische Milieu: ein Elektromotor, der fest in einer Werkhalle montiert ist und konstant die gleiche Drehzahl liefern soll, ist anders gebaut, als der Motor einer Elektrolok, der im Zeitverlauf unter verschiedener Last verschiedene Drehzahlen liefern muss. Obwohl beide auf den gleichen technischen Grundprinzipien beruhen, ist ihre Wirkungsweise am Ende grundverschieden, bis dahin, dass sie ganz unterschiedliche Milieus fordern. Während der Fabrikmotor an ein Drehstromnetz angeschlossen wird, auf dessen Basis er eine konstante Drehzahl bereitstellt, handelt es sich beim Motor in der Elektrolok um einen Gleichstrommotor, der auch mit einer Gleichspannung versorgt werden muss, was durch ein Gleichstromnetz möglich gemacht wird.

„Das technische Objekt situiert sich an dem Punkt, an dem beide Milieus aufeinandertreffen“ (49), schreibt Simondon. Während er ursprünglich die Evolution der technischen Objekte in Richtung auf eine gewisse Selbstgenügsamkeit und Autarkie hin konzipiert hatte, beschreibt er hier eine Symbiose zwischen technischem Objekt und Milieu. Selbstgenügsam und autark ist das technische Objekt nur innerhalb des passenden Milieus, andererseits ist auch das Milieu nicht unabhängig vom technischen Objekt. Letztlich ist das Milieu nur geschaffen, um dem technischen Objekt eine autarke Existenz zu ermöglichen. Simondon spricht deshalb vom assoziierten Milieu, um diese wechselseitige Abhängigkeit zu beschreiben.

Milieu und technisches Objekt befinden sich also in einer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander. Simondon spricht von einer rekursive Kausalität (53), die allerdings nicht symmetrisch ist (55). Das technische Objekt braucht ein ganz bestimmtes Milieu, um existieren zu können, sobald es die Verbindung zu diesem Milieu verliert, hört es als technisches Objekt faktisch auf, zu existieren. Das Milieu braucht technische Objekte, die es brauchen, sonst würde es nicht entstehen und gepflegt werden. Es braucht aber nicht das konkrete, einzelne technische Objekt zu seiner Existenz. Wenn technisches Objekt und Milieu in einer Beziehung rekursiver Kausalität zueinander stehen, spricht Simondon vom assoziierten Milieu.

Es ergibt sich natürlich die Frage, wie die Entwicklung eines neuen technischen Objektes möglich ist, wenn seine Existenz ein assoziiertes Milieu zur Voraussetzung hat welches wiederum nur dafür geschaffen wird, die Existenz eines technischen Objekts zu gewährleisten. Eine rekursive Kausalität scheint eigentlich das Gegenstück zu einem Teufelskreis zu sein: die wechselseitige Voraussetzung der Bestandteile der Kreisstruktur führt dazu, dass die Bewegung im Kreis niemals erreicht werden kann. Tatsächlich kennen wir solche wechselseitigen Voraussetzungen in der technischen Welt, und immer aufs Neue ist es eigentlich überraschend, dass Strukturen rekursiver Kausalität möglich werden: die Nutzung von Mobiltelefonen setzt die Existenz eines Mobilfunknetzes voraus, dieses Mobilfunknetz ist jedoch überhaupt nur sinnvoll, wenn es Mobiltelefone gibt, die es nutzen. Die Ausstrahlung von Fernsehsendungen setzt voraus, dass es Fernsehgeräte gibt, die das Programm empfangen können, aber ohne die Ausstrahlung dieses Fernsehprogramms ist die Existenz von Fernsehgeräten sinnlos.

Man könnte vermuten, dass sich neue technische Objekte innerhalb von Milieus entwickeln, die für andere technische Objekte bereits als assoziierte Milieus existieren. Die weitere Spezialisierung eines technischen Objekts führt dann zu neuen Anforderungen an das Milieu, dieses entwickelt sich weiter und wird so zum assoziierten Milieu des neuen technischen Objekts. Die kreisförmige rekursive Kausalität würde so zu einer Spiralform, in der sich technisches Objekt und Milieu in kleinen Schritten voneinander entfernen und sich gegenseitig wieder einholen. Der Begriff der differentiellen Reproduktion, den wir bereits im Abschnitt 2.2.2 kennengelernt hatten, drängt sich hier auf. Wir werden auf die Analogie von wissenschaftlichem Experimentalsystem und assoziiertem Milieu zurückkommen.

Natürlich kennen wir Entwicklungen dieser Art: Schon für das schnelle Vorankommen mit Pferdekutschen war eine gewisse Stabilität und Ebenheit der Wege zwischen den Orten von Vorteil, sodass auch die ersten Automobile auf solchen Wegen fahren konnten. Die Spezialisierung der Automobile auf Bequemlichkeit und zuverlässige Funktionsfähigkeit des Transports forderte allerdings eine weitere Verbesserung der Fahrbahnen, der zunehmende Verkehr forderte die Anbringung von Wegweisern, Verkehrsschildern und Leiteinrichtungen. Zwischen dem Feldweg als assoziiertem Milieu des Pferdefuhrwerks und dem Autobahnnetz, welches mit seinen standardisierten Wegweisern, Rast- und Tankstellen, Standstreifen und Sicherheitssystemen das assoziierte Milieu des modernen Personenkraftwagens ist, liegt ein kontinuierlicher Übergang, in den sich das Auto immer ein Stück aus dem vertrauten Milieu herausentwickelt hat um von diesem eine weitere Verbesserung zu fordern. Das selbstfahrende Auto, welches gegenwärtig entwickelt wird, nutzt die bestehenden Leitsysteme, stellt aber an deren zuverlässiger Verfügbarkeit, Exaktheit und Standardisierung neue Anforderungen. Schon heute gibt es Autobahnabschnitte, auf denen diese Bedingungen mehr oder minder zufällig erfüllt werden. Auf diesen wird die neue Technik getestet. Ihr Funktionieren in dieser begrenzten Umgebung fordert, dass das Straßennetz insgesamt in die gewünschte Richtung weiter entwickelt wird.

Eine solche kontinuierliche Weiterentwicklung ist jedoch keineswegs immer möglich. Die Eisenbahnschiene ist keine kontinuierliche Weiterentwicklung des Fahrweges, und das Prinzip der Eisenbahn konnte überhaupt nur entwickelt werden, indem auch das Milieu, also das Schienennetz zusammen mit dem technischen Objekt, der Eisenbahnlokomotive, erfunden wurde. Die Ingenieure mussten beides, das Objekt und das assoziierte Milieu in einem Vorgriff auf eine funktionierende rekursive Kausalität denken und entwickeln. Hierin sieht Simondon den eigentlichen Sinn von Erfindung. „Die technischen Objekte, die in ihrer Bindung an die natürliche Welt in wesentlicher Weise eine rekursive Kausalität aufbieten, können nur erfunden werden und sich nicht schrittweise konstituieren, weil diese Objekte die Ursache für die Bedingung ihrer Funktionsweise sind. Diese Objekte sind nur lebensfähig, wenn das Problem gelöst ist, das heißt, wenn sie mit ihrem assoziierten Milieu existieren.“ (53)

Wie unsere obigen Beispiele gezeigt haben, müssen wir diese These einer kritischen Reflexion aussetzen. Sicherlich gibt es Fälle, in denen die rekursive Kausalität zwischen Objekt und Milieu so stark ist, dass es in der Tat einer gewaltigen Anstrengung bedarf, um beide gleichzeitig Wirklichkeit werden zu lassen. Die Eisenbahn gehört dazu wie auch etwa der Rundfunk und das Fernsehen. Wir werden auf diese Fälle gleich zurückkommen. Auch für das gewöhnliche Auto gilt jedoch, dass sie „Ursache für die Bedingung ihrer Funktionsweise sind“. Es gäbe keine Autobahnen, wenn es keine Autos gäbe, die darauf fahren würden. Trotzdem handelt es sich bei der Entwicklung der Automobile und mit ihnen ihres assoziierten Milieus des Straßennetzes, des Tankstellennetzes und des Werkstattnetzes um einen schrittweisen Prozess.

Wir können sogar annehmen, dass die schrittweise Entwicklung des technischen Systems, welches aus Objekt und Milieu besteht und durch die rekursive Kausalität zusammengehalten wird, der normale Fall der technischen Evolution ist, und auch der, der für das Verständnis dieser Evolution wesentlich ist. Genau besehen findet die technische Entwicklung fast immer an den Grenzen dieses Systems statt, an den Grenzen des Machbaren. Neue technische Objekte entstehen an den Grenzen der Milieus, die für andere technische Objekte als assoziierte technische Milieus angesehen werden können. Welche technischen Objekte überhaupt erfunden werden können, ist durch die existierenden Milieus, bestimmt. Es bestimmt sich nicht in erster Linie durch gewachsene Bedürfnisse oder durch den Wunsch nach Weiterentwicklung bestehender technischer Objekte. Ein neues technisches Objekt entsteht durch die Ausnutzung dessen, was in bestehenden Milieus möglich ist – weniger als etwas benötigtem oder gewünschtem, als vielmehr als etwas machbarem. Ob das Machbare auch auf einen Wunsch oder ein Bedürfnis trifft, wird sich erst zeigen, wenn es Wirklichkeit geworden ist. Dann beginnt das neue technische Objekt sein eigenes Leben, und es beginnt, Ansprüche zu stellen. Der Kreislauf der rekursiven Kausalität kommt in Gang, das bestehende Milieu wird zum assoziierten Milieu des neuen technischen Objekts umgeformt.

Beispiele für diese Form der technischen Entwicklung liefern nicht nur längst vergangene oder alt bekannte und bis heute andauernde Prozesse etwa der Automobilität. Auch die Entstehung der Mobiltelefon- und Smartphonetechnik, wie auch der Softwaresysteme des Internet verlief nach diesem Schema. Sie nutzten bereits bestehende Milieus, schritten ihre Grenzen aus und eröffneten bereits innerhalb dieser Grenzen neue Möglichkeiten, für die sich dann ein Bedarf entwickelte. Sodann forderten die neu entstandenen Objekte, multimediafähige Smartphones ebenso wie etwa Shopsysteme im Internet oder Social-Media-Plattformen die Umformung des bestehenden Milieus – Erhöhung der Bandbreiten, Gewährleistung der Ausfallsicherheit und anderes.

Ein Objekt, welches in den bestehenden technischen Milieus nicht existenzfähig ist, hat kaum eine Chance darauf, Wirklichkeit zu werden, auch wenn es ein menschliches Bedürfnis erfüllt und auch wenn seine Funktionsprinzipien klar zu sein scheinen. Es sind die Milieus, die einer Zivilisation ihren Stempel aufdrücken und die prägend wirken, nicht die technischen Objekte. Wir müssen Simondon ausdrücklich widersprechen, wenn er schreibt, „die Ausbildung der Bedürfnisse richtet sich nach dem technischen Objekt, das so die Macht erlangt, eine Zivilisation zu modellieren.“ (23) Zwar können wir zustimmen, dass es nicht die Bedürfnisse sind, die die technische Entwicklung wesentlich vorantreiben oder ihr auch nur die Richtung geben. Aber es sind eben auch nicht zuerst die mehr oder minder ausgereiften technischen Objekte – es sind vielmehr die Milieus, die überhaupt den Möglichkeitsraum für neue technische Objekte schaffen. Diese Milieus bestimmen zum einen die Grenzen dessen, was machbar und wünschbar ist – wohl auch weitgehend die Grenzen dessen, was überhaupt denkbar ist. Über diese Begrenzungsmacht hinaus haben die Milieus aber auch einen Möglichkeitsüberschuss. Sie bieten technischen Objekten zumeist mehr als das, was die bestehenden technischen Objekte, deren assoziierte Milieus sie sind, von ihnen fordern. Diesen Möglichkeitsüberschuss auszuschreiten, das ist das Ziel des erfindenden Ingenieurs.

Die Struktur technischer Milieus

Wenn die Milieus von so entscheidender Bedeutung sind, dann lohnt es sich an dieser Stelle, ihre Struktur etwas genauer zu betrachten. Wir haben sie auf den letzten Seiten ganz selbstverständlich als Netze bezeichnet: Das Verkehrsnetz, das Stromnetz, das Internet, aber auch das Tankstellennetz und das Werkstattnetz. Es ist kein Zufall, dass sich bei der Beschreibung der technischen Milieus immer wieder das Bild eines Netzes, genauer, das eines Netzwerks aufdrängt. Offensichtlich haben technische Milieus nie-mals den Charakter eines kontinuierlichen Mediums, in dem das technische Objekt sich beliebig ansiedeln und bewegen könnte. Vielmehr wird es vom Milieu auf bestimmte Bahnen gezwungen, auf denen es bleiben muss, an denen es sich ansiedeln kann. Jenseits dieser Bahnen ist die Wirklichkeit für das Objekt unwirtlich, genauer, dort kann es gar nicht existieren, aber auf den Bahnen gedeiht es und kann seine Funktionen entfalten.

Warum ist das so? Betrachten wir zunächst genauer, welchen Nutzen das Milieu für das technische Objekt stiftet.

Das assoziierte Milieu hat für das technische Objekt zunächst eine versorgende Funktion. Es stellt Material und Energie bereit, die das Objekt zum Funktionieren benötigt. Dazu ist zweierlei notwendig: einerseits muss der Raum so strukturiert werden, dass die Versorgung an jedem Ort zuverlässig und in gleicher Qualität nötig ist. Das ist nur durch eine Netzwerkstruktur machbar: Ein Netzwerk von Versorgungslinien wird über den Raum gelegt. Entlang der Linien ist die Versorgung gesichert. Entfernt sich das Objekt jedoch von der vorgegebenen Linie, ist es vom Milieu getrennt. Das gilt nicht nur für die Versorgung mit Energie und Material, sondern ebenso für die Versorgung mit einer Form des Raumes, die das Funktionieren des Objekts ermöglicht, selbst. Die Straße ist eine Umformung des Raums, die das Fahren ermöglicht, ebenso die Eisen-bahnschiene. Das assoziierte Milieu, so können wir auch sagen „kerbt den Raum“. Ent-lang der Kerben wird das Objekt mit dem versorgt, was es benötigt, und nur in ihrer Nähe ist die Versorgung gesichert.

Das Milieu hat zudem eine leitende oder orientierende Funktion. Streng genommen ist auch diese Funktion eine Versorgungs-Leistung: Sie stellt Informationen bereit, die das technische Objekt benötigt, um sich zu orientieren, um sich im Milieu zu bewegen oder sich auszurichten. Wir unterscheiden die orientierende Funktion trotzdem von der versorgenden, weil die Versorgung immer an Quellpunkte des Milieus gebunden ist, von der aus eine physische Verbindung zum Objekt notwendig ist. Hinsichtlich der Versorgung steht das technische Objekt in einer Verbraucherbeziehung zum Milieu, welches als Lieferant auftritt. Das Straßen- und Schienennetz gehören hierher, weil auch bei ihnen eine Begrenztheit der Ressourcen charakteristisch ist, ebenso ein Verbrauch, den wir als Abnutzung bezeichnen, und zu dessen Ausgleich wiederum ein Netz von Instandsetzungs-Stützpunkten eingerichtet wird, die als Quellen der verbrauchten Ressource angesehen werden können.

Die Orientierung, die das Milieu bietet, wird aber weder verbraucht noch abgenutzt, auch wenn sie möglicherweise im Laufe der Zeit verwittert oder verschwindet. Das ist jedoch nicht dem Gebrauch durch die technischen Objekte geschuldet. Wegweiser an Straßen, Leitsignale im Flugverkehr oder Satelliten, die GPS-Signale senden, gehören hier dazu.

Die orientierende Funktion des Milieus scheint auf den ersten Blick keine Netzwerkstruktur zu benötigen. Das GPS-Signal kann überall empfangen werden, nicht nur entlang der Straßen und Wege, auf denen sich die technischen Objekte bewegen. Schon die Leuchttürme, die die Seefahrer zur Navigation verwendeten, scheinen nicht dem Netzwerkprinzip unterworfen zu sein. Satelliten wie Leuchttürme bilden selbst ein sorg-fältig geplantes Netzwerk, und erst in ihrer Vernetzung wird Orientierung erst möglich. Zumeist ist auch die Freiheit der Bewegung in diesen Netzwerken nicht grenzenlos, die technischen Objekte sind, um die Orientierungssysteme der Milieus nutzen zu können, zumeist auf die Nähe zu versorgenden Milieus angewiesen, was sie wiederum auf enge Bahnen zwingt.

Schließlich haben die Milieus eine verbindende Funktion. Sie ermöglichen den technischen Objekten, miteinander in Verbindung zu kommen. Oft besteht die Funktion eines technischen Objekts darin, zur Funktion eines anderen beizutragen. In vielen Fällen sind die Objekte jedoch nicht unmittelbar aneinander gekoppelt, vielmehr sind sie durch ein Milieu miteinander verbunden. Insbesondere sind die Quellen der Energie und des Materials, die von einem Objekt benötigt werden, selbst technische Objekte. Diese werden somit selbst zum Teil eines Milieus. Man kann sagen, dass Milieus oft aus miteinander vernetzten technischen Objekten stehen.

Für die drei Funktionen ist die Netzwerkstruktur eine effektive Lösung. Unter einem Netzwerk verstehen wir hier eine Menge von Objekten, von denen ein jedes mit einer gewissen Zahl der anderen stabil und standardisiert verbunden ist. Die Standardisierung ist hierbei wichtig. Jedes Objekt, das in ein Netzwerk integriert werden soll, muss eine bestimmte standardisierte Schnittstelle besitzen. Es kommt insbesondere nicht darauf an, was im Innern des Objekts vor sich geht und wie die Stabilität der Schnittstelle gewährleistet wird. Es kommt ausschließlich darauf an, dass das Objekt eine Rolle im Netzwerk spielen kann. Ein Kraftwerk kann auf unterschiedliche Weise seine Funktion erfüllen, Strom zu liefern. Wichtig ist allein, dass es, solange es Teil des Netzwerks ist, eine bestimmte Netzspannung stabil zur Verfügung stellt.

Weiterhin sorgt die Netzwerkstruktur dafür, dass jedes Objekt letztlich nur auf Zeit ins Netzwerk integriert ist. Jedes Objekt, das der Standard-Spezifikation genügt, kann grundsätzlich Teil des Netzwerks werden, und kann sich ebenso wieder vom Netzwerk lösen.

Die Charakterisierung des Milieus als Netzwerk ließe sich noch weiter detaillieren – für unsere Zwecke genügt jedoch die bisherige Skizze. Mit ihr können wir verstehen, wie technischer Fortschritt, insbesondere die Erfindung und Realisierung völlig neuer technischer Objekte, möglich ist.

Das Netzwerk des technischen Milieus stellt Ressourcen bereit, gibt Orientierung und ermöglicht Verbindungen zwischen technischen Objekten. Auch wenn diese Funktionen in rekursiver Kausalität in Hinblick auf konkrete technische Objekte entstanden sind, werden sie ohne direkten Bezug auf die jeweilige Nutzung im Objekt bereitgestellt. Nicht der vorhergesehene Nutzen ist wichtig für die Einbettung eines Objekts in das Netzwerkmilieu, sondern einzig die Berücksichtigung der vorgeschriebenen Standards. So stellt das Stromnetz eine bestimmte Netzspannung bereit – sie mag ursprünglich für die Straßenbeleuchtung ausgelegt gewesen sein. Genutzt werden kann sie jedoch von jedem technischen Objekt, welches die definierte Netzspannung in einen beliebigen Zweck umsetzen kann.

Ein einmal für einen bestimmten Zweck in reziproker Kausalität geschaffenes Milieu, welches zu Beginn mit einem bestimmten Objekt assoziiert ist, steht im Weiteren allen möglichen technischen Objekten zur Verfügung, die die versorgende, die leitende oder die verbindende Funktion des Milieus nutzen können. Wir können sagen, dass die Netzwerkstruktur die technische Entwicklung zwar einerseits einschränkt, da das Netz-werk eben oft nur an bestimmten Orten, entlang seiner Verbindungstrassen zur Verfügung steht und andererseits seine Leistungen eben nur entsprechend definierter Standards bereitstellt. Andererseits erlaubt es eben die Einbindung beliebiger Objekte unabhängig von deren Funktion oder Nutzen, soweit sie den Standard nur „verstehen“.

Hinzu tritt, dass die Netzwerkstruktur der Milieus ihre jederzeitige Erweiterbarkeit und ihren Umbau ermöglicht, insbesondere durch technische Objekte, die verschiedene Milieus miteinander verbinden. In ein Milieu als Netzwerk können technische Objekte beliebig eingebaut und ausgebaut werden, die die Milieu-Funktionen auf neue Weise erfüllen und mit denen anderer Milieus verknüpfen. Mobiltelefone und Fahrzeuge, die das Stromnetz, das Straßenverkehrsnetz, das Internet und das Netz der GPS-Satelliten miteinander verbinden und dabei selbst zu Informationslieferanten werden, sind dafür die aktuellen Beispiele. Sie nutzen Milieus, die für andere Objekte geschaffen wurden, für völlig neue Zwecke und erweitern gleichzeitig diese Milieus zu neuen, komplexeren Netzwerken.

Die zweckfreie Verlässlichkeit des Technischen

Simondon hat eine Beschreibung der Dynamik technischer Objekte gegeben, ohne die naheliegende und oft bemühte Funktion von Technik als Mittel zur Erreichung von Zwecken hinzuziehen zu müssen. Ihm ist es gelungen, die Evolution von Technik unabhängig von ihrem Nutzen oder der Verbesserung ihres Effekts zu beschreiben, kurz gesagt, er konnte die Dynamik des Technischen beschreiben ohne einen Antrieb, der außerhalb der Technik liegt, zugrunde legen zu müssen. Allerdings blieb dabei auch die Wurzel der Technik, die Frage, warum es überhaupt Technik gibt, unbeantwortet. Um das Technische verstehen und angemessen beschreiben zu können, ist es allerdings sinnvoll, nach der Herkunft der Technik zu fragen.

Wir haben allerdings im vorangegangenen Kapitel auch nicht die Frage gestellt, warum es Wissenschaft gibt. Diese Frage scheint für das Verstehen des Wissenschaftlichen nicht zwingend nach einer Antwort zu verlangen. Vermutlich wird diese Frage aus dem einfachen Grunde nicht gestellt, dass es intuitiv zunächst nur metaphysische Antworten darauf zu geben scheint. Der Mensch, so heißt es dann, sei von einem faustischen Streben nach Erkenntnis beseelt, das schon in der biblischen Geschichte von den verbotenen Früchten des Baums der Erkenntnis beschrieben wird. Dem widerspricht jedoch, dass es durchaus lange Zeiten und viele Kulturen gab, die ganz ohne Erkenntnisstreben auskommen und keine Wissenschaft entwickelt haben.

Das ist hinsichtlich des Technischen jedoch anders. Technik gibt es in allen menschlichen Kulturen, egal, ob wir Technik als technische Objekte, Werkzeuge auffassen oder als eingeübte und automatisierte Handlungsweisen, die in bestimmten Situationen ein vorherbestimmtes Ergebnis haben. Die Frage, warum es Technik so selbstverständlich überall gibt, wo Menschen leben, scheint somit eine sinnvolle Frage auf der Suche nach einem plausiblen Verständnis des Technischen zu sein.

Es ist jedoch sinnvoll, weiterhin vorsichtig mit der intuitiv so nahe liegenden Erklärungsformel zu sein, Technik sei eben ein Mittel zu Zwecken, und da Menschen nun einmal Zwecke verfolgten, benötigten sie geeignete Techniken als Mittel. Damit wäre es gerade nicht möglich, das Verfolgen eines Zwecks ohne Technikeinsatz vom Einsatz (geeigneter oder ungeeigneter) Technik für das Erreichen des Zwecks zu unterscheiden, das Ziel, das Technische zu verstehen, wäre gerade verfehlt.

Wir können etwa davon ausgehen, dass zwei Fußballmannschaften, die gegeneinander antreten, beide den Zweck verfolgen, das Spiel zu gewinnen. Das bedeutet nicht, dass beide die entsprechende Technik dazu beherrschen oder anwenden, etwa, dass sie beide auf gelungene Weise das Passspiel beherrschen. Es ist nicht einmal sicher, dass die Mannschaft, der wir den Einsatz von Techniken zubilligen, zwingend gewinnt, die technisch weniger versierte Mannschaft kann etwa aufgrund eines besseren physischen Vermögens siegen. Auch diese Mannschaft hat dann Mittel zum Zweck des Sieges eingesetzt, aber diese waren dann offenbar nicht technischer Art.

Ein Autor, der, ebenso wie Simondon, einen Begriff der Technik entwickelt hat, der ohne eine Mittel-Zweck-Bestimmung auskommt, darüber hinaus aber eine Begründung für das Auftauchen von Technik in jeder menschlichen Kultur liefern kann, ist Arnold Gehlen. Das mag zunächst überraschend erscheinen, wird doch Arnold Gehlen in Bezug auf Technik schnell mit Begriffen wie „Organersatz“ des „Mängelwesens“ Mensch in Verbindung gebracht, die eine Orientierung an der Mittel-Zweck-Relation, bei der die Technik eben als Organersatz oder -erweiterung dem Zweck dient, die Mängel des Menschen auszugleichen. Wir werden im Folgenden den Technik-Begriff Arnold Gehlens systematisch nachvollziehen um daraus Anregungen für einen konsistenten Begriff des Technischen zu gewinnen.

Die Bestimmung des Menschen als „Mängelwesen“ führt Gehlen in seinem Werk Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt aus, das zuerst 1940 erschien, in der Auflage von 1950 allerdings gründlich überarbeitet wurde (Rehberg 2004, IX). Es ist auffällig, dass in diesem Werk der Begriff der Technik noch überhaupt keine zentrale Rolle spielt, das Wort überhaupt nur ein halbes Dutzend Mal auftaucht, obwohl Gehlen doch hier die Konsequenzen der Bestimmung des Menschen als Mängelwesen diskutiert. Das macht bereits deutlich, dass der Einsatz von Technik eben keine zwingende Konsequenz der „mangelhaften Ausstattung“ des Menschen ist.

Aber was bezeichnet der Begriff des Mängelwesens überhaupt? Zunächst eben, dass der Mensch im Vergleich zu Tieren über keine besonderen Fähigkeiten verfügt, ja, dass er, wenn man einzelne biologisch vergleichbare Fähigkeiten betrachtet, immer einem Tier unterlegen bleibt. Damit will Gehlen eine „morphologische Sonderstellung“ (2004, 20) des Menschen charakterisieren. Als Tier ist der Mensch eigentlich „paradox und hebt sich dadurch ab“ (ebd.). Der Begriff des „Mängelwesens“ ist von Gehlen keineswegs im Sinne tatsächlicher Defizite gemeint, die dann etwa durch den Einsatz von Werkzeugen (Technik) als Organersatz oder Organerweiterung zu beheben seien. Vielmehr will Gehlen zeigen, dass der Mensch als Tier unverständlich bleiben würde, dass er sich aufgrund dessen, dass er aus biologischer Perspektive vor allem als Mängelwesen wahrgenommen werden muss, von den Tieren eben grundsätzlich unterscheidet.

Wichtiger als die negative Bestimmung durch den Begriff des Mängelwesens ist die positive Definition des Menschen als „handelndes Wesen … als eines stellungnehmenden, nicht festgestellten, verfügenden (auch über sich verfügenden) Wesens“ (23). „Er ist sich selbst noch Aufgabe“ (32). Im Menschen angelegt ist also die Möglichkeit, seine Stellung zu finden. Das, was aus biologischer Sicht ein Mangel ist, ist für den Menschen die Möglichkeit, handelnd unter ganz unterschiedlichen Bedingungen zu leben. Während organisch hoch spezialisierte Lebensformen in ihre je ganz bestimmten Lebensformen durch die Naturentwicklung eingepasst sind (33), ist die Einpassung in je ganz verschiedene Umstände Aufgabe und Möglichkeit des Menschen. Diese geschieht auf zweierlei Weise: einerseits durch Anpassung des bei Geburt unfertigen Bewegungsapparates (42) und der Sachempfindlichkeit (43) an die je konkreten Bedingungen, andererseits durch Einrichtung der umgebenden Wirklichkeit durch ihre Veränderung ins Lebensdienliche (37). Wir können hier Ansätze zu einem Verständnis des Technischen vermuten, da sowohl die Ausprägung individueller Fähigkeiten oft als ein Erlernen von Techniken bezeichnet wird, und andererseits die Veränderung der Lebensbedingungen hin zum Lebensdienlichen oft mit Hilfe von Technik und Techniken erfolgt. Gehlen vermeidet an dieser Stelle allerdings der Begriff Technik, und wenn Gehlen die kindliche Entwicklung als „eigene Bemühung, unter mühsamer Erlernung in Misserfolgen, Gegenimpulsen und Selbstüberwindungen“ (42) beschreibt, so klingt das nicht nach den geläufigen Vorstellungen des Erlernens einer Technik. Die Dynamik der zweifachen Einpassung des handelnden, nicht festgestellten Wesens Mensch in Wirklichkeit, bei der einerseits der Mensch sich in passende Form bringt und andererseits die Wirklichkeit umgeformt wird, lässt sich auch schmerzhafter und eher bewusstloser, nicht von vorhergesehenen Zwecken bestimmter Prozess denken. In dessen (je vorläufigem und vorübergehenden) Ergebnis entsteht zwar eine angepasste „zweite Natur“ (38), die von einem durch Selbstzucht „als In-Form-Kommen und In-Form-Bleiben“ (32) angepassten Menschen geschaffen wurde, Technik im geläufigen Sinne, technische Objekte, wie sie Simondon beschreibt, müssen dabei allerdings nicht entstehen.

Einen wichtigen Schritt in Richtung eines positiven und klaren Begriffs der Technik geht Gehlen mit seinem 1956 erschienenen Werk Urmensch und Spätkultur, in dem er einen Begriff der Institutionen entwickelt, der auch Werkzeuge, experimentierende Handlungen und Produktivität umfasst. An die handelnde Einrichtung der Wirklichkeit schießt er mit der Bemerkung an, dass „menschliche Bedürfnisse jeder Art … durch gesellschaftliche Arbeit erfüllt werden, welche … darin besteht, die unmittelbar vorfindbaren Dinge soweit zu verändern, dass jene mannigfaltigen Bedürfnisse sich an ihnen orientieren und erfüllen können“ (Gehlen 2004, 9). Für dieses Handeln, das die Natur verändert, nutzt der Mensch nach Gehlen Werkzeuge, wobei dieser Begriff nicht schlicht Dinge bezeichnet, die als Mittel verwendet werden. Werkzeuge werden hergestellt, indem eine „Eignung zu einer bestimmten Verwendung herausgeholt“ (10) wird. Ein Stein wird behauen, um eine Klinge herzustellen, mit der etwas geschnitten werden kann.

Gehlen vertritt an dieser Stelle die Ansicht, dass „gewisse Prozesse der Abstraktion“ notwendig sein müssten, um ein Werkzeug wie etwa eine Klinge zu fertigen. Zum einen müsse „der Vorgang oder das Entwurfs- oder Wirkungsschema des ‚Schneidens überhaupt‘, der ‚Schneidewirkung überhaupt‘“ gegeben sein (ebd). Außerdem muss dem Menschen bewusst sein, dass er in Zukunft Interesse an dieser Wirkung haben wird. Wäre das „abstrakte Phantasma“ der allgemeinen Schneidewirkung nicht gegeben, so käme keine Klinge zustande.

Es ist jedoch zu fragen, ob Gehlen hier nicht bereits eine aktuelle, moderne Vorstellung des Herstellens vor Werkzeugen voraussetzt, die es verhindert, das Erzeugen und Nutzen von Werkzeugen auch ohne abstrakte Vorwegnahme des Mittel-Zweck-Zusammenhangs zu erklären. Wenigstens muss das „abstrakte Phantasma“ in einer sehr schwachen Bedeutung gedacht werden, und auf keinen Fall im Sinne eines irgendwie gearteten „theoretischen Verständnisses“ des Schneidens. Denkbar ist etwa, dass Menschen die bloße Erfahrung machen, dass sie selbst oder Tiere sich bei der heftigen Berührung spitzer Gegenstände (abgebrochene Zweige, Dornen, gesplitterte Steine) verletzten können. Diese Erfahrung reicht bereits aus um den gleichen Effekt des verletzenden Schneidens im praktischen Handeln bewusst herbeizuführen. Man kann diese Erfahrung, verbunden mit der praktischen Bestätigung der handelnd herbeigeführten Wirkung, als „abstraktes Phantasma der Schneidwirkung“ bezeichnen, ein wie auch immer geartetes Verständnis des Ursache-Wirkungs-Zusammenhangs und somit der Mittel-Zweck-Beziehung ist dazu jedoch nicht nötig.