Das Politische

Auch wenn die politischen Systeme der modernen westlichen Gesellschaften, die im Rahmen dieser Arbeit mehr oder weniger ausdrücklich als Reflexionsfläche dienen, ausnahmslos als parlamentarische Demokratien angesehen werden können, wäre es verfehlt, die Demokratie als bestimmendes Wesensmerkmal des Politischen in diesen Gesellschaften zu betrachten. Auch in einer perfekten Demokratie würde sich das Politische nicht im Demokratischen erschöpfen, und eine Analyse des Politischen in demokratisch verfassten Gesellschaften muss weit über die Frage hinausgehen, ob und wie demokratische Verfahren funktionieren und stabil implementiert sind. Die demokratische Entscheidungsfindung ist immer nur ein Teil des politischen Prozesses. Ob dies notwendigerweise der Fall ist, oder ob es nur der Tatsache geschuldet ist, dass Menschen in komplexen Gesellschaften immer nur einen Teil der relevanten Informationen bekommen, beurteilen und verarbeiten können und deshalb in den realen Demokratien Organisationsformen der Meinungsbildung und -strukturierung sowie der Entscheidungsfindung und -durchsetzung geschaffen werden müssen, die aus praktischen Erwägungen heraus nichtdemokratisch strukturiert sind, kann dahin gestellt bleiben, weil allein der Blick auf die realen politischen Verfahren, Institutionen und Ereignisse zeigt, dass die demokratische Entscheidungsfindung darin immer nur ein zwar konstitutiven, aber immer auch singulären Aspekt ist, der von vorbereitenden und exekutierenden Prozessen und Institutionen sozusagen umrahmt wird, die zwar nicht demokratisch, aber jedenfalls zutiefst politisch sind.

Eine ontische Bestandsaufnahme der Politik

Die Sphäre menschlichen Zusammenseins, die mit dem Namen Politik bezeichnet wird, ist aus politischen Organisationen zusammengesetzt, die von Politikern bevölkert werden: Regierungen, Parlamente, Parteien, Vereine und Gruppierungen, Arbeitsgruppen und Ausschüsse. Die Mitglieder dieser Organisationen, mal formeller und mal informeller strukturiert, finden sich zusammen, um Politik zu machen. Politik findet in Ereignissen statt: Tagungen, Demonstrationen, Pressekonferenzen. Man kann unter den politischen Ereignissen unterscheiden zwischen denjenigen, in denen die Mitglieder einer Organisation ihren Willen bilden, und denjenigen, in denen dieser Wille der Öffentlichkeit mitgeteilt wird.

Bei der Willensbildung bleiben die Angehörigen der Organisation zumeist unter sich: Parteien treten zu Mitgliederversammlungen oder Parteitagen zusammen, das Kabinett tagt hinter verschlossenen Türen, ebenso wie die Fraktionen der Parlamente, die Ausschüsse und Arbeitsgruppen. Wo die Öffentlichkeit zugelassen ist, wenn Kameras und Mikrofone aufgebaut werden, ist die Willensbildung zumeist schon abgeschlossen, auch wenn das Parlament in öffentlicher Sitzung tagt, dann wird, dem Anschein zum Trotz, genau genommen nur noch verkündet, dann ist der Wille schon gebildet.

Was bedeutet politische Willensbildung? Beobachtet man, was bei den Ereignissen politischer Willensbildung passiert, dann stellt man zunächst fest, dass es dort offenbar um die Arbeit an Texten geht. Das Ergebnis der Zusammenkunft einer politischen Organisation ist ein Manifest, in dem der Wille der Organisation  dokumentiert wird, ein Text, der Normen des künftigen Zusammenlebens der Gesellschaft beschreibt, als deren Teil die Organisation sich versteht. Das trifft auf Gesetzestexte, die vom Parlament beschlossen werden, ebenso zu wie auf Regierungserklärungen, Parteiprogramme, Manifeste und Standpunktpapiere politischer Vereine. Eine Organisation wird – so kann man sagen – dadurch zu einem politischen Verein, dass sie normative Texte produziert in denen sie mitteilt, wie die Gesellschaft sein soll.

Der Prozess dieser Willensbildung innerhalb des politischen Ereignisses ist fast immer von Auseinandersetzungen der Mitglieder der Organisation gekennzeichnet. Ziel dieser Auseinandersetzungen ist es paradoxerweise, die vielen Willen der Mitglieder einer Organisation  zu dem Willen der Organisation zu machen. Im besten Falle geschieht dies durch Veränderung des Willens der Mitglieder, sodass am Ende des Willensbildungsprozesses tatsächlich alle den gleichen Willen haben. Zumeist genügt es jedoch, dass der Wille einer gewissen Mehrheit der Mitglieder so weit vereinheitlicht ist, das es gelingt, den Willen der anderen zu dominieren und – wenigstens auf Zeit – den Willen des dominierenden Teils der Gruppe erfolgreich als Gruppenwillen zu deklarieren.

Der Text, sei es ein Gesetz, ein Parteiprogramm oder ein Manifest, in dem der Gruppenwillen dokumentiert ist, wird im Anschluss an das Ereignis der Willensbildung der Öffentlichkeit mitgeteilt, er wird veröffentlicht. Die Möglichkeiten dieser Veröffentlichung eines politischen Willens sind erstes Symptom für die Gestaltungsmacht der Organisation. Ein Parlament oder ein regierendes Kabinett ist im Allgemeinen gesellschaftlich legitimiert sich staatlicher Durchsetzungs-Werkzeuge zur Umsetzung seines politischen Willens zu bedienen.[1] Sein Organ zur Willens-Kundgabe ist das Gesetzblatt.

Andere politische Organisationen erreichen die Öffentlichkeit immerhin über die selbständigen Zeitungen und den Rundfunk, welche über etablierte Wege zur Bekanntgabe von Willensbekundungen verfügen. Hier sind die Organe der Willensbekundung die Pressekonferenz, das Interview und die Pressemitteilung.

Politische Organisationen, die keinen Anschluss an den etablierten Journalismus haben, sind auf informelle Wege zur Willensbekundung angewiesen. Das typische Organ dieser Organisationen ist die Demonstration. Sie gewinnt ihre Stärke daraus, dass sie nicht mehr Text ist, sondern wirkliches Handeln der Willensträger, damit unmittelbarer und authentischer Ausdruck eben dieses Willens. Die Bereitschaft zur Tat ist offenbar. Das gilt auch noch dann, wenn die Willensbekundung ihre Textform behält, im Flugblatt und im Plakat, da in beiden Fällen, wie bei der Demonstration, die unmittelbare Tätigkeit der Aktivisten präsent bleibt. Möglicherweise werden die sich gegenwärtig entwickelnden Formen der politischen Willensbekundung im Internet diesen Intensitätsgrad und damit auch die Wirksamkeit der politischen Willensbekundung durch Plakat, Flugblatt und Demonstration nie erreichen können.

Politik ist also offenbar immer ein zweistufiger Prozess. In der ersten Stufe bildet eine organisierte Gruppe von Politikern einen gemeinsamen Willen, der jedoch nie nur diese Gruppe selbst betrifft sondern immer auf die Gesellschaft gerichtet ist, als deren Teil die Gruppe sich versteht. Aus diesem Prozess der Willensbildung ist jedoch die Gesellschaft als Betroffene zumeist gerade ausgegrenzt, da die Gruppe den Willensbildungsprozess in endlicher Zeit zum Anschluss bringen will was bei Berücksichtigung beliebig vieler Willen schlicht unmöglich ist. Am Ende der Stufe der Willensbildung steht das politische Manifest, das Dokument, in dem der Wille der Gruppe dokumentiert ist.

In der zweiten Stufe des politischen Prozesses erfolgt die Veröffentlichung dieses Dokumentes, die Mittelung des Willens der Gruppe an die Betroffenen, mit dem Ziel, den Willen der Gruppe Wirklichkeit werden zu lassen. Erkennbar wird, dass der politische Prozess in jedem Falle „eine Einbahnstraße“ ist, in der der Wille einer politischen Gruppe (die letztlich in der Gesellschaft immer eine Minderheit ist) in die Gesellschaft hineingetragen wird und dort umgesetzt werden soll.

In diesem zweistufigen Prozess spielen vier Kategorien von Phänomenen eine Rolle:

  1. Personen: Menschen, die sich am Prozess der politischen Willensbildung und an der Veröffentlichung des politischen Willens beteiligen: die politischen Bürger, das politische Personal oder schlicht die Politiker.
  2. Institutionen: organisierte oder informelle Gruppen dieser Menschen, in denen die Willensbildung stattfindet: die politischen  Organisationen.
  3. Artefakte: politische Texte, in denen der Wille einer Organisation dokumentiert ist
  4. Ereignisse: Zusammenkünfte an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten, in denen die Gruppe ihren Willen bildet oder in die Öffentlichkeit trägt.

Diese ontische Bestandsaufnahme ist noch keine abschließende Bestimmung des politischen, im Gegenteil. Ein Blick in nicht-politische Handlungsfelder zeigt, dass der zweistufige Prozess der Willensbildung zunächst auch im wirtschaftlichen, kulturellen oder religiösen Umfeld beobachtet werden kann. Wenn der Vorstand eines Fußballclubs nach fünf Niederlagen in geheimen Beratungen beschließt, einen neuen Trainer zu verpflichten und der alten zu entlassen, so ist dies zunächst keine politische Entscheidung, auf wenn sie auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben wird. Inwiefern gesagt werden kann, dass auch hier Politisches stattfindet, kann erst nach einer ontologischen Analyse des Politischen geprüft werden.

Carl Schmitts Bestimmung des Politischen

Vielleicht war Carl Schmitt mit seiner Schrift Der Begriff des Politischen der erste, der sich explizit eine Bestimmung des Begriffes „das Politische“ vorgenommen hat. Zuweilen wird er deshalb als der Erfinder des Politischen bezeichnet (Marchert 2010, TODO). Bevor hier die Begriffs-Explikation des Politischen durch Schmitt genauer analysiert wird soll seine Herangehensweise an eine solche Begriffsbestimmung genauer betrachtet werden.

Die Notwendigkeit einer Bestimmung des Politischen erwächst für Schmitt aus der Tatsache, dass der Staat nur politisch bestimmt werden kann, dass also eine Theorie des Staates ohne einen klaren Begriff des Politischen nicht möglich ist. Dies wird schon im ersten Satz des Textes von 1932 deutlich: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus“ (2002, 20). Soll z.B. in der Rechtspraxis zwischen politischen Handlungen und Institutionen auf der einen Seite und unpolitischen Verwaltungsakten unterschieden werden, so wird eine Bestimmung des Politischen benötigt die nicht in einem einfachen Verweis auf den Staat besteht. „Solange der Staat das Monopol des Politischen hat“ ist für Schmitt eine allgemeine Begriffsbestimmung „des Politischen, die nichts als eine Weiter- oder Rückverweisung an den ‚Staat’ enthalten, … verständlich und insofern auch wissenschaftlich berechtigt“ (2002, 23). Eine eigenständige Definition des Politischen wird also notwendig, sobald der Staat entweder auch unpolitische Verwaltungsakte vornimmt oder sobald „Staat und Gesellschaft sich gegenseitig durchdringen“ (2002, 24) und der Staat insbesondere in Sachbereiche vordringt, die eigentlich neutrale Gebiete wie Religion, Kultur, Bildung und Wirtschaft betreffen.

Es kann dahingestellt bleiben ob eine Gesellschaft, in der der Staat das „Monopol des Politischen“ besaß und sich gleichzeitig in seinem Eingreifen in die Gesellschaft ganz auf dieses Politische beschränkte, je existierte.[2] Genau genommen, und das sagt ja auch schon Schmitts erster Satz, wäre auch diese Frage nur durch eine Bestimmung des Politischen ohne Rückgriff auf die Bestimmung des Staats zu beantworten. Wesentlich ist, dass es für Schmitt in dem Moment notwendig wird, das Politische unabhängig vom Staat, allgemeiner gesprochen, unabhängig von den ontischen Phänomenen der Politik, zu bestimmen, in dem – ebenfalls auf der ontischen Ebene – die politischen Handlungen nicht eindeutig den politischen Institutionen zuzuordnen sind. Anders gesagt: die ontisch-ontologische Differenz muss zwingend in den Blick genommen und zum Gegenstand der Untersuchung werden, wenn der ontologisch bestimmte Modus der Phänomene nicht mehr sicher zu ihren ontischen Bestimmungen passt. Zum Verstehen der Phänomene ist es dann sinnvoll, die ontologischen Kategorien anhand selbständiger Kriterien zu bestimmen und sodann zu untersuchen in wie fern verschiedene ontisch vorgefundene Institutionen, Ereignisse, Artefakte und Akteure sich in den ontologisch bestimmten Seins-Modi befinden. Dieser Gedanke wird auch in den weiteren Untersuchungen innerhalb dieser Arbeit leitend sein.

Wie stellt sich Schmitt eine Bestimmung des Politischen vor, wie soll ein solcher Begriff klar gefasst werden, sodass eine Abgrenzung von anderen Phänomenen möglich ist? Er sucht nach „eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbständigen Sachbebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen, in besonderer Weise wirksam werden. Das Politische muss deshalb in eigenen letzten Unterscheidungen liegen, auf die alles im spezifischen Sinne politische Handeln zurückgeführt werden kann.“ (2002, 26)

Die gesuchten Kriterien müssen also eine Eigenständigkeit haben, sie dürfen nicht in ökonomische, moralische oder andere Kriterien rückführbar sein. Zudem soll es sich um „letzte Unterscheidungen“ handeln. Genau genommen sucht Schmitt nach genau einem Attribut des Politischen, man kann auch sagen, nach dem politischen Attribut, dem man aufgrund eines politischen Urteils einen präzisen Wert, möglichst einen von zwei Extrem-Werten zuschreiben kann. Schmitts Beispiele aus dem Moralischen (Gut-Böse), dem Ästhetischen (Schön-Hässlich) und dem Ökonomischen (Nützlich-Schädlich) machen das deutlich: jedes moralische Urteil trifft eine Aussage über die Frage, ob etwas gut oder böse ist, so wie das ästhetische Urteil über schön und hässlich entscheidet und das ökonomische Urteil eine Einordnung in Nützliches und Schädliches vornimmt. Was Schmitt also sucht, ist ein politisches Urteilskriterium, und die Institutionen, Akteure, Ereignisse und Artefakte sind politisch, insofern ein politisches Urteil über sie gefällt werden kann.

Die Unterscheidung, die das Politische in dieser Weise charakterisiert, ist bei Schmitt „die Unterscheidung zwischen Freund und Feind.“ (2002, 26) Diese Unterscheidung „hat den Sinn, den äußersten Intensitätsgrad einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation zu bezeichnen.“ (2002, 27)

Diese Bestimmung macht zunächst stutzig. Kann eine Assoziation oder Dissoziation, eine intensive Verbindung oder Trennung von Menschen nicht auch moralisch, ästhetisch oder ökonomisch zustande kommen. Auch auf Basis einer ökonomischen Nutzenserwägung oder eines moralischen Urteilens ist eine äußerst enge Verbindung von Menschen oder eine radikale Trennung möglich. Warum sollte also der äußerste Intensitätsgrad dann durch die politische Unterscheidung in Freund und Feind möglich oder notwendig sein?

Sieht man sich die Bestimmung des Feindes bei Schmitt an wird deutlich, warum das nicht möglich ist: „Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im Extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind“. (2002, 27) Diese Konflikte können durch eine Unterwerfung der Betroffenen unter allgemeine Normen oder den Schiedsspruch eines unparteiischen Dritten nicht vermieden werden, ein Betroffener kann „nur selbst entscheiden, ob das Anderssein des Fremden im konkret vorliegenden Konfliktfalle die Negation der eigenen Existenz bedeutet und deshalb abgewehrt oder bekämpft wird, um die eigene, seinsmäßige Art von Leben zu bewahren.“ (2002, 27)

Der Fremde negiert die eigene Existenz und muss deshalb bekämpft werden, das macht ihn zum Feind. Fraglich ist natürlich ob jeder „radikal Andere“ die eigene Existenz auch notwendig negiert und daher zum Feind werden muss. Um dies zu beantworten ist es sinnvoll zu überlegen, wie aus dieser Definition des Feindes umgekehrt der Freund zu bestimmen wäre. Setzt man zunächst, dass der Freund gerade nicht fremd, gerade nicht radikal anders sein kann, so kommt unvermeidlich die Bestimmung des Man durch Martin Heidegger in Sein und Zeit in den Sinn. Auch durch das Sprechen von Existenz und von seinsmäßiger Art zu leben drängt sich der Rückgriff auf Heidegger geradezu auf.

Heidegger zeigt im §26 von Sein und Zeit, dass sich dem einzelnen Menschen das eigene Dasein immer in Bezug auf das Dasein Anderer erschließt. Jeder einzelne nimmt zunächst und zumeist sogar nicht sich selbst wahr sondern die Anderen. Das eigene Leben zeigt sich im Leben der Anderen und es wird mit Bezug auf das Leben der Anderen verstanden. Jeder ordnet sich in die so konstituierte Umwelt ein, versteht sich darüber, wie er die anderen versteht. Diese Anderen sind bei Heidegger gerade nicht die Fremden, im Gegenteil, sie sind diejenigen, von denen der Einzelne in seinem Dasein sich gerade nicht unterscheidet. Da jeder das eigene Dasein also zunächst und zumeist in Bezug auf das Dasein der Anderen versteht, ist das Dasein eines jeden von der Sorge um den Unterschied, den Abstand zwischen dem Einzelnen und den Anderen bestimmt. Damit ist aber die Möglichkeit der Selbstbestimmung des einzelnen in der durchschnittlichen Alltäglichkeit durch das eingeschränkt, ja bestimmt, was die Anderen ihm vorgeben. In der Öffentlichkeit ist jeder wie die Anderen, er ist einer von ihnen. Aus dieser Bestimmung des Anderen entwickelt Heidegger im §27 von Sein und Zeit den Begriff des Man, er schreibt: „In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. […] Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor“ (2006, 126f). Das Man konstituiert sich also über die allgemein akzeptierten, selbstverständlichen Regeln des Alltäglichen. In dem regelkonformen Verhalten ist man sich einig, darin gleicht man sich, genauer gesagt, das macht die Anderen zu Gleichen, das macht einen jeden selbst zu einem von ihnen. Heidegger schreibt weiter: „Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit. Nicht nur das; mit dieser Seinsentlastung kommt das Man dem Dasein entgegen, sofern in diesem die Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen liegt.“ (2006, 126f).

Es ist dieses Man, das bei Schmitt seine Entsprechung im Freund findet, und das der Gegensatz zu Schmitts Begriff vom Feind ist. Denn das Man ist gerade nicht fremd, es stellt meine Existenz gerade nicht infrage, es konstituiert diese Existenz. Da das Man das Dasein in seiner Alltäglichkeit entlastet ist auch einsichtig, dass das Gegenteil dieses Man, der Fremde, der durch das Man gerade nicht eingeschlossen sondern durch sein Fremdsein gerade radikal ausgeschlossen ist, eine Belastung des Daseins ist, und somit zum Feind werden kann.

Damit wird auch ersichtlich, warum das Politische in der Bestimmung von Carl Schmitt nicht auf das Moralische, das Ästhetische oder das Ökonomische zurückgeführt werden kann. Natürlich ist auch das moralische Urteil über gut und böse dazu geeignet, eine radikale Assoziation oder Dissoziation von Menschen zu begründen, ebenso wie das Urteil über ökonomisch Nützliches oder Schädliches. Aber wenigstens in ihrem durchschnittlichen moralischen und ökonomischen Verhalten unterscheiden sich die Anderen zunächst und zumeist eben nicht vom eigenen Dasein, sie sind gut oder böse wie man gut oder böse ist, sie sind nützlich oder schädlich, wie man nützlich oder schädlich ist.

Jedoch kann jeder Gegensatz, der im Zusammenleben von Menschen eine Rolle spielt, eben gerade damit zum Politischen werden, dass „er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren“ (Schmitt 2002, 37). Wenn moralische, ästhetische oder ökonomische Phänomene[3] sich so radikal von der alltäglichen Durchschnittlichkeit des Man unterscheiden dass sie als fremdartig wahrgenommen werden, haben sie das Potenzial zum politischen Kriterium der Freund-Feind-Unterscheidung zu werden. Das gilt natürlich insbesondere dann, wenn im Ursprungsfeld des Konfliktes die Infragestellung des Eigenen durch das Fremde bereits angelegt ist, wie es z.B. bei religiös motivierten Konflikten oder bei ökonomischen Konkurrenz- oder Interessenskonflikten der Fall ist. Nach Schmitt wird ein solcher religiöser oder ökonomischer Konflikt dann zum politischen Konflikt, ja, das Politische bezeichnet gar „kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen“ (2002, 38), es zieht seine Kraft aus anderen Gebieten die eine ausreichend starke Unterscheidungskraft besitzen um die Menschen nach Freund und Feind zu gruppieren. In diesem Moment wird der jeweilige Konflikt zum politischen Konflikt und entwickelt seine eigene, politische Dynamik. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass die Beteiligten sich nunmehr am Ernstfall orientieren, der darin besteht, dass es zum Kampf kommen kann, in dem der Feind als Feind vernichtet wird.

Es stellt sich die Frage, ob nicht wenigstens ökonomische Konflikte genau besehen notwendig immer politische Konflikte in diesem Sinne sind. Ist nicht das ökonomisch Schädliche in letzter Konsequenz immer genau das, was das Eigene so radikal in Frage stellt wie sonst nichts, das als Anderes angesehen wird? Man könnte, mit Karl Marx, sogar noch weiter gehen und argumentieren, dass das wirklich in letzter Konsequenz Politische immer das Ökonomische ist. Denn das Ökonomische, in dem alles zusammengeführt wird, was dem Erhalt der aktuellen Lebensbedingungen letztlich nützlich ist und alles abgewehrt wird, was diesen schädlich ist, bildet doch mehr als alles andere die existenzielle Grundlage für das eigene Leben. Die Produktion der materiellen Lebensbedingungen bildet doch, so würde Marx argumentieren, die Basis, auf der der Überbau des Moralischen, Ästhetischen, Religiösen erst errichtet werden kann. Nichts stellt die Existenz mehr in Frage als ein Angriff auf diese Lebensbedingungen, somit wäre alles, was im Sinne Schmitts als Politisch gelten könnte, in letzter Konsequenz Ökonomisches, und die Freund-Feind-Unterscheidung letztlich eine ökonomische Nutzens-Schadens-Unterscheidung – und wo sich diese vielleicht in einer moralischen, ästhetischen oder religiösen Unterscheidung maskiert wäre die Aufgabe, die darunterliegende ökonomische Basis aufzudecken.

Schmitt würde dem möglicherweise nicht einmal widersprechen. Dass das Politische eines konkreten Konfliktes seine Wurzeln und seine Unterscheidungskraft im Ökonomischen, Moralischen, Ästhetischen haben kann, hat er ausdrücklich erwähnt und ob das Moralische und das Ästhetische letztlich im Ökonomischen begründbar wäre, ist nicht Gegenstand seiner Untersuchung. Worum es ihm ausdrücklich geht ist, dass Konflikte bei einem bestimmten Intensitätsgrad eine politische Eigendynamik entwickeln und dass diese Eigendynamik sich nicht mehr auf das Feld, in dem der Konflikt entstanden ist, reduzieren und innerhalb dessen beschreiben lässt. Wenn ein ökonomischer Konflikt sich zum politischen Konflikt radikalisiert hat, können politische Entscheidungen getroffen werden, die aus ökonomischer Perspektive irrational werden.

Andererseits wäre es auch nicht angemessen, jeglichen politischen Konflikt auf ein ökonomisches Nutzens-Schadens-Problem zurückführen zu wollen. Stützt man sich auf die Analyse des Man bei Martin Heidegger wird deutlich, dass jeglicher Einbruch in die durchschnittliche Alltäglichkeit eine Belastung des Man darstellt und damit als radikal fremd abgelehnt werden kann. Dabei kann es sich ebenso um ökonomisch Nützliches als auch um ökonomisch Schädliches handeln, es kann ebenso etwas moralisch Gutes wie etwas Böses sein. Die Entlastungs-Leistung des Man kann höher bewertet werden als etwas Nützliches, das aber anders ist als das Gewohnte, das Auftauchen des moralisch außergewöhnlich Guten kann auf Ablehnung stoßen, wenn es die im Alltag stabile Durchschnittlichkeit des Guten und Bösen durcheinander bringt. Für die Konstitution eines politischen Konfliktes ist also die Zuweisung einer ökonomischen Schadenszuweisung ebenso geeignet wie eine Veränderung, die zwar ökonomischen Nutzen verspricht, die Entlastung durch das Man aber beeinträchtigt.

[1] Die Frage, ob der Wille, der durch das Parlament formuliert wird und erfolgreich an den Staatsapparat zur Durchsetzung übergeben wird, tatsächlich der Wille des Parlaments ist, oder ob es sich nicht vielmehr zumeist um den Willen des staatlichen Apparats handelt, der seinen legitimierenden Weg durch das Kabinett und das Parlament geht und schließlich an den Apparat zur Umsetzung zurück gegeben wird, soll hier zunächst zurück gestellt werden.

[2] Schmitt selbst ist offenbar der Ansicht, dass es diese Zeit gegeben hat, er bestimmt sie im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts, siehe (Schmitt 2002, 10).

[3] Carl Schmitt nimmt die drei Kategorien des Moralischen, des Ästhetischen und Ökonomischen  selbst immer wieder als Beispiele zur Illustration der Abgrenzung aber auch der Durchdringung mit dem Politischen. Es ist aber klar, dass letztlich jedes Gegenstandsbereich, wenn er nur ein duales Unterscheidungskriterium ermöglicht, auf diese Weise mit dem Politischen in Beziehung gesetzt werden kann.